Gefiederte Schlange

Die ganze Angelegenheit war total anders gelaufen, als Alex es erwartet hatte.

Da stand er nun auf der Bühne, neben dem Mann, der den Auftrag gegeben hatte, Sabinas Vater zu beseitigen– wenn Alex’ Verdacht richtig war. Aber konnte er denn überhaupt richtig sein? Zum ersten Mal bekam er Cray aus nächster Nähe zu sehen. Und das war ein seltsam beunruhigendes Erlebnis.

Cray hatte eines der berühmtesten Gesichter der Welt. Alex hatte es unzählige Male gesehen– auf CD-Hüllen, auf Plakaten und Postern, in Zeitungen und Magazinen, im Fernsehen und sogar auf der Rückseite von Müslischachteln. Doch als er Cray jetzt direkt neben sich stehen sah, war er enttäuscht. Das Gesicht des Stars kam ihm in der Wirklichkeit weniger echt vor als auf den Fotos.

Cray sah überraschend jugendlich aus, wenn man bedachte, dass er bereits über fünfzig war, aber seine Gesichtshaut glänzte und wirkte unnatürlich straff gespannt. Vermutlich hatte daran so mancher Schönheitschirurg ein hübsches Sümmchen verdient. Bestimmt war auch das penibel frisierte rabenschwarze Haar gefärbt. Selbst die leuchtend grünen Augen wirkten irgendwie künstlich und leblos. Cray war ein sehr kleiner Mann. Alex dachte unwillkürlich an eine Puppe im Spielwarenladen, die er einmal gesehen hatte und an die ihn Cray jetzt erinnerte. Der Superstar, der mehrere Millionen Pfund besaß, war in seinen Augen zu einer Art Plastikpuppe geworden.

Und trotzdem

Cray begrüßte ihn auf der Bühne mit einem strahlenden Lächeln wie einen alten Freund. Er war Sänger, und wie er klar gesagt hatte, verabscheute er jede Gewalt. Er wollte die Welt nicht zerstören, sondern retten.

MI6 hatte Akten über ihn angelegt und nichts Verdächtiges entdecken können. Und dass Alex jetzt hier stand, hatte nur mit einer Stimme zu tun, die am Telefon ein paar Wörter gesprochen hatte, nichts weiter. Alex verfluchte sich und seine Schnappsidee, überhaupt hierhergekommen zu sein.

Es kam ihm so vor, als stünde er jetzt schon eine Ewigkeit neben Cray auf der Bühne, vor sich Hunderte von Leuten, die darauf warteten, dass die Vorführung des Computerspiels endlich begann. Tatsächlich waren nur ein paar Sekunden vergangen. Cray gab ihm die Hand. »Wie heißt du?«, fragte er.

»Alex Rider.«

»Also, Alex Rider– absolut super, dass wir uns kennenlernen. Ich bin Damian Cray.«

Sie schüttelten sich die Hände. Alex wurde plötzlich klar, dass Millionen Menschen auf der ganzen Welt zusahen, die alles dafür geben würden, jetzt an seiner Stelle zu sein.

»Wie alt bist du, Alex?«, wollte Cray wissen.

»Vierzehn.«

»Ich bin sehr froh, dass du hier bist. Danke, dass du mir helfen willst.«

Die Worte hallten über die Verstärker durch den Game Dome. Aus den Augenwinkeln sah sich Alex auf dem riesigen Bildschirm neben Cray stehen. »Was für ein Glück, dass wir tatsächlich einen Teenager unter uns haben«, fuhr Cray fort, wobei er sich wieder an das Publikum wandte. »Jetzt sind wir aber gespannt, wie Alex mit dem ersten Spiel von Gameslayer fertig wird– mit Feathered Serpent

Während Cray noch redete, hatten drei Techniker begonnen, einen Fernsehmonitor, eine Spielkonsole, einen Tisch und einen Stuhl auf der Bühne aufzustellen. Alex wurde klar, dass Cray ihn bitten wollte, das Spiel vor dem gesamten Publikum zu testen– und dass alle jeden seiner Spielzüge auf dem großen Plasmabildschirm verfolgen konnten.

»Feathered Serpent beruht auf der Kultur der Azteken«, erklärte Cray dem Publikum. »Die Azteken wanderten 1195 in Mexiko ein. Manche Leute behaupten jedoch, sie seien von einem anderen Planeten gekommen. Alex wird sich auf diesem anderen Planeten befinden. Seine Aufgabe ist es, vier fehlende Sonnen zu finden. Aber zuerst muss er in den Tempel des Regengotts Tlaloc eindringen, sich durch fünf Kammern hindurchkämpfen und sich dann in den Teich des Heiligen Feuers stürzen. Schafft er das alles, gelangt er auf die nächsthöhere Spielebene und hat so Zugang zum nächsten Spiel, das wir zurzeit entwickeln.«

Ein vierter Techniker kam mit einer Webcam auf die Bühne, bat Alex, sich nicht zu bewegen, und scannte ihn schnell von Kopf bis Fuß. Dann drückte er auf einen Knopf an der Seite der Kamera und verließ die Bühne wieder. Cray wartete, bis der Mann verschwunden war.

»Vielleicht haben Sie sich schon gefragt, was die kleine, schwarz gekleidete Figur auf dem Bildschirm zu bedeuten hat«, fuhr er fort, wobei er so tat, als teile er dem Publikum jetzt etwas ganz Persönliches und Vertrauliches mit. »Die Figur heißt Omni und wird der Held aller Gameslayer-Spiele sein. Vielleicht finden Sie ihn anfangs ein wenig langweilig und einfallslos. Aber Omni ist genau wie jedes Kind in England– eigentlich wie jedes Kind auf der Welt. Und jetzt will ich Ihnen zeigen warum!«

Der Bildschirm wurde dunkel, dann explodierte er plötzlich in einem grellen digitalen Farbenwirbel. Ein ohrenbetäubender Fanfarenstoß erklang– nicht echte Trompeten, sondern eine digitale Nachahmung–, und die gewaltige Doppeltür eines Tempels mit einem riesigen, aus Holz geschnitzten Aztekengesicht erschien. Schon auf den allerersten Blick war klar, dass die grafische Qualität des Gameslayer weit besser war als alles andere, was Alex bisher gesehen hatte. Einen Augenblick später schnappte die gesamte Zuschauermenge überrascht nach Luft, und Alex ging es nicht anders: Ein Junge schlenderte über den Bildschirm und blieb vor dem Tor des Tempels stehen. Der Junge war Omni– aber er sah jetzt ganz anders aus. Er trug jetzt genau dieselben Kleider wie Alex. Er sah Alex wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich oder richtiger: Er war genau wie Alex– bis ins kleinste Detail, bis zu den braunen Augen und den über die Stirn hängenden blonden Haarsträhnen.

Applaus brandete in der Halle auf. Die Journalisten kritzelten hektisch auf ihren Notizblöcken herum oder redeten aufgeregt in ihre Handys. Jeder wollte als Erster mit der Story über diesen unglaublichen Trick herauskommen. Vergessen waren die Kanapees und der Champagner.

Crays Softwarefabrik hatte eine Avatar-Figur erzeugt, einen virtuellen Doppelgänger von Alex. Und damit konnte auch jeder andere Spieler nicht nur das Spiel spielen, sondern durch sein virtuelles Ebenbild tatsächlich selbst Teil des Spiels werden. Alex war sofort klar, dass der Gameslayer auf der ganzen Welt wie eine Bombe einschlagen würde. Die Millionen würden nur so in Crays Kassen prasseln.

Und 20Prozent davon würde er für wohltätige Zwecke stiften, erinnerte sich Alex.

Konnte ein derart sozial eingestellter und guter Mensch denn wirklich sein Feind sein?

Cray wartete geduldig, bis wieder Ruhe eingekehrt war, dann wandte er sich an Alex. »Höchste Zeit, dass wir endlich mit dem Spiel anfangen!«, rief er.

Alex setzte sich vor den Computermonitor, den die Techniker auf den Tisch gestellt hatten. Er griff nach dem Joystick und drückte mit dem linken Daumen auf eine der Tasten. Auf dem Monitor und auf dem riesigen Plasmabildschirm ging sein virtueller Doppelgänger nach rechts. Alex hielt ihn an und drehte ihn in die andere Richtung. Der Joystick sprach unglaublich leicht an. Alex fühlte sich beinahe wie ein aztekischer Gott, der den sterblichen Alex wie eine Puppe tanzen ließ.

»Mach dir nichts draus, wenn du beim ersten Versuch umkommst«, sagte Cray großmütig. »Die Konsole reagiert schneller als irgendeine andere auf dem Markt. Es dürfte also eine Weile dauern, bis du dich daran gewöhnt hast. Aber wir stehen alle auf deiner Seite, Alex. Also los– spielen wir mit Feathered Serpent! Wollen mal sehen, wie weit du kommst!«

Die Tore des Tempels schwangen auf.

Alex drückte auf einen der Steuerknöpfe und sein Doppelgänger ging geradewegs in die Spielkulisse, die fremdartig und bizarr wirkte, aber hervorragend realisiert worden war. Der Tempel war eine Mischung aus primitiver Kunst und Fantasiewelt. Riesige Säulen ragten empor, überall flammten Leuchtfeuer auf, komplizierte Hieroglyphen bedeckten die Wände und in den Ecken kauerten Aztekenfiguren. Der Boden war aus Silber, nicht aus Stein. Seltsame Metalltreppen und Korridore zogen sich durch den ganzen Tempelbezirk. Hinter schwer vergitterten Fenstern blitzten elektrische Lichter auf. Überwachungskameras verfolgten jede von Alex’ Bewegungen.

»In der ersten Kammer solltest du nach zwei Waffen suchen«, riet ihm Cray, der über Alex’ Schulter blickte. »Später wirst du sie vielleicht gut brauchen können.«

Die erste Kammer war riesig. Orgelmusik dröhnte und durch die bemalten Fensterscheiben waren Kornfelder, Kornfeldkreise und darüber schwebende Raumschiffe zu sehen. Alex hatte keine Schwierigkeiten, die erste Waffe zu finden: An der Mauer hing ein Schwert. Aber er merkte schnell, dass überall Fallen eingebaut waren. Ein Teil der Mauer stürzte ein, als er versuchte, daran hinaufzuklettern, und als er nach dem Schwert griff, aktivierte er unwissentlich ein Geschoss, das aus dem Nichts auf seinen Doppelgänger, den Avatar, zuraste. Das Geschoss war ein doppelter Bumerang mit rasiermesserscharfen Kanten, der geradezu mit Lichtgeschwindigkeit zu rotieren schien. Alex wusste, dass ihn dieses Geschoss in zwei Hälften zerlegen würde, wenn es ihn traf.

Hektisch presste er die Daumen auf die Konsole. Sein Avatar duckte sich und der Bumerang schoss dicht an ihm vorbei– so dicht, dass eine seiner scharfen Kanten den Avatar am Arm erwischte und leicht verletzte. Die Zuschauer stöhnten auf: ein dünner Blutstrom erschien auf dem Arm der Figur und ihr Gesicht– Alex’ Gesicht!– verzerrte sich vor Schmerzen. Die Darstellung war dermaßen realistisch, dass Alex unwillkürlich auf seinen echten Arm hinabsah. Erst Sekunden später wurde ihm klar, dass nur sein Avatar verwundet war, nicht er selbst.

»Schmerzsimulation!«, verkündete Cray und wiederholte das Wort gleich noch einmal. Seine Stimme durchbrach das gespannte Schweigen, das nun im Game Dome herrschte. »In unserer Gameslayer-Welt durchleben wir alle Gefühle des Helden. Und sollte Alex dabei umkommen, sorgt der Prozessor dafür, dass wir sogar seinen Tod zu spüren bekommen.«

Alex war inzwischen wieder von der Mauer heruntergeklettert und suchte nach der zweiten Waffe. Die kleine Wunde heilte bereits, sie blutete schon sehr viel weniger. Er duckte sich, und ein zweiter Bumerang schoss knapp über seiner Schulter an ihm vorbei. Aber die zweite Waffe hatte er noch immer nicht entdeckt.

»Schau doch mal hinter dem Efeu nach«, flüsterte ihm Cray mit der Lautstärke eines halb tauben Theatersouffleurs zu. Im Publikum gluckste jemand, weil Alex schon jetzt Hilfe brauchte.

In einer Nische war eine Armbrust versteckt. Aber was Cray Alex nicht verraten hatte, war, dass der Efeuvorhang, hinter dem sich die Nische verbarg, unter 10000Volt Strom stand. Alex brauchte nicht lange, um es selbst festzustellen. Als sein Avatar den Efeu berührte, zuckte ein blauer Blitz heraus. Die Figur wurde zurückgeschleudert. Sie schrie; ihre Augen waren weit aufgerissen und starr. Der Avatar war zwar noch nicht tot, aber sehr schwer verletzt.

Cray tippte Alex auf die Schulter. »Du solltest wirklich ein wenig vorsichtiger sein«, empfahl er.

In der Zuschauermenge setzte ein heftiges Getuschel ein. So etwas hatten die Leute noch nie gesehen.

Vielleicht war das der Grund dafür, dass Alex in diesem Augenblick einen Entschluss fasste. Plötzlich waren MI6, Yassen, Saint-Pierre und alles andere vergessen. Cray hatte ihn ausgetrickst, hatte ihn dazu gebracht, den Efeu zu berühren. Er hatte ihn ganz bewusst verletzt. Natürlich war alles nur ein Spiel. Nur der Avatar war verletzt. Aber die Schande, die Erniedrigung empfand der echte Alex. Und dieser Alex war jetzt entschlossen, Feathered Serpent zu besiegen. So leicht gab Alex nicht auf! Und er hatte nicht die geringste Absicht zu »sterben«, nur damit Cray seinem Publikum Alex’ Todessimulation vorführen konnte!

Grimmig entschlossen packte sein Avatar die Armbrust und marschierte noch tiefer in die Aztekenwelt hinein.

Die zweite Kammer bestand aus einem riesigen Loch im Boden. Eigentlich war es eine Grube, etwa 50Meter tief, aus der dünne Säulen emporragten. Um auf die andere Seite zu gelangen, musste der Avatar von Säule zu Säule springen. Verfehlte er eine Säule oder sprang er zu weit, würde er in die Tiefe und damit in den Tod hinabstürzen. Und um die Sache noch ein wenig schwieriger zu machen, setzte ein heftiger Wolkenbruch ein, sodass die Säulenoberflächen sehr glitschig wurden. Sogar der Regen war auf höchst ungewöhnliche Weise simuliert. Wie Cray dem Publikum erklärte, war für den Gameslayer eine Grafiktechnologie entwickelt worden, die es erlaubte, jeden einzelnen Regentropfen individuell zu gestalten. Der Avatar war bereits völlig durchnässt, seine Kleider hatten sich mit Wasser vollgesogen und das Haar klebte ihm patschnass am Kopf.

Ein elektronisches Kreischen zerriss die gespannte Stille. Eine Kreatur mit Schmetterlingsflügeln und dem Kopf und den Krallen eines Drachen fegte im Sturzflug herab und versuchte, den Avatar von der Säule zu reißen, auf der er gerade balancierte. Alex riss die Armbrust hoch und erschoss das Vieh, dann jagte er in drei Sprüngen über die restlichen Säulen zur anderen Seite der Grube.

»Gut gemacht«, kommentierte Damian Cray. »Aber ich würde mich wirklich wundern, wenn du auch lebend aus der dritten Kammer kämst.«

Doch Alex fühlte sich inzwischen ziemlich zuversichtlich. Feathered Serpent war ein einzigartig gestaltetes Spiel. Die dreidimensionale Darstellung und die Landschafts- und Hintergrundgrafik waren einfach sagenhaft. Die Omni-Figur war den Spielfiguren anderer Softwarefirmen weit überlegen. Aber trotz alledem war es nur ein weiteres Computerspiel und glich insofern allen anderen, die Alex schon zuvor gespielt hatte. Er wusste, was er tat. Es gab eine Chance zu gewinnen.

Die dritte Sektion brachte er schnell und leicht hinter sich. Sie bestand aus einem hohen, engen Korridor mit geschnitzten Götterfratzen auf beiden Seiten. Aus ihren aufgerissenen Holzmündern ging ein Hagel von Speeren und Pfeilen auf den Avatar nieder, aber er duckte und schlängelte sich hindurch, ohne sich in seinem Lauf aufhalten zu lassen. Dann tauchte ein brodelnder Säurebach auf, der sich durch den Korridor wand. Der Avatar sprang mit einem Satz hinüber, als ob es ein harmloses Gebirgsflüsschen sei.

Doch dann erreichte er einen unglaublich echt wirkenden Dschungel. Die größte Gefahr ging hier von einer riesigen Roboterschlange aus, die sich zwischen den Bäumen und Büschen verbarg und deren Körper vollständig mit Eisenspitzen bedeckt war. Die Kreatur sah entsetzlich aus. Alex hatte noch nie eine bessere Grafikarbeit gesehen. Aber er ließ seinen Avatar so schnell um die Schlange herumkurven, dass die Zuschauer kaum eine Chance bekamen, das Tier richtig bewundern zu können.

Crays Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, aber er lehnte sich jetzt dichter über Alex. Seine Augen waren unverwandt auf den Monitor gerichtet und seine Hand lag auf Alex’ Schulter. Die Knöchel traten weiß und spitz hervor.

»Bei dir sieht das Spiel zu leicht aus«, murmelte er leise. Es hatte wie eine nebensächliche Bemerkung geklungen, aber Alex hörte die Anspannung in seiner Stimme.

Denn das Publikum stand voll auf Alex’ Seite. Mehrere Millionen Pfund waren für die Softwareentwicklung des Gameslayers und des ersten Spiels, Feathered Serpent, ausgegeben worden, und jetzt sah es so aus, als würde es schon vom allerersten Teenager besiegt, der es spielen durfte. Als Alex einer weiteren Roboterschlange auswich, lachten ein paar Zuschauer laut auf. Crays Hand krallte sich tiefer in Alex’ Schulter.

Der Avatar hatte jetzt die fünfte Kammer erreicht– ein Zerrspiegellabyrinth, das mit Rauch gefüllt war und von einem Dutzend Aztekengötter bewacht wurde, die ganz mit Federn und Edelsteinen bedeckt waren und goldene Masken trugen. Auch jede einzelne dieser Figuren war ein kleines Kunstwerk der grafischen Gestaltung. Nacheinander stürzten sie sich auf den Avatar, aber verfehlten ihn. Das Gelächter im Publikum wurde lauter. Immer mehr Applaus und aufmunternde Rufe waren jetzt zu hören.

Nun stand nur noch ein Gott mit scharfen Krallen und Krokodilschwanz zwischen Alex und dem Feuerteich, von dem aus er auf die nächsthöhere Spielebene gelangen würde– also in ein anderes Spiel, das Crays Softwarefirma noch gar nicht entwickelt hatte. Wenn Alex’ Avatar es schaffte, an diesem einen Gott vorbeizukommen, hatte er gewonnen!

Und in genau diesem Augenblick griff Cray ein. Er war sehr vorsichtig, sodass es das Publikum nicht mitbekam. Und selbst wenn es jemand gesehen hätte, so hätte er wahrscheinlich angenommen, dass sich Cray von seiner eigenen Spannung hatte mitreißen lassen. Aber Cray wusste ganz genau, was er tat. Er packte plötzlich Alex’ Unterarm und riss seine Hand vom Joystick weg. Für wenige Sekunden verlor Alex die Kontrolle. Lange genug, sodass der Arm des Aztekengotts herumschwingen und seine Krallen in den Bauch des Avatars rammen konnte. Alex hörte tatsächlich, wie sein Hemd zerrissen wurde, und glaubte fast zu spüren, wie sein Blut aus dem Körper quoll. Der Avatar fiel auf die Knie, dann kippte er vornüber und blieb reglos liegen. Das Bild erstarrte und die Wörter GAME OVER erschienen in blutroten Buchstaben auf dem Monitor.

Im Game Dome herrschte Stille.

»Pech gehabt, Alex«, sagte Cray zufrieden. »Ich glaube, es war doch nicht ganz so leicht, wie du gedacht hast.«

Die Zuschauer begannen zu klatschen, aber man konnte nicht sagen, wem sie applaudierten: dem Spiel, das eine technische und grafische Spitzenleistung darstellte, oder Alex, der sich weit besser als erwartet geschlagen hatte und das Spiel beinahe besiegt hätte. Ein leichtes Unbehagen hatte sich ausgebreitet. Vielleicht war Feathered Serpent einfach zu realistisch. Es wirkte tatsächlich so, als sei ein Teil von Alex dort auf dem Bildschirm gestorben.

Wütend drehte sich Alex zu Cray um. Er allein wusste, dass ihn der Mann unfair ausgetrickst hatte. Aber Cray grinste fröhlich auf ihn herunter.

»Du hast dich wirklich großartig geschlagen«, sagte Cray gönnerhaft. »Ich wollte, dass du uns das Spiel vorführst, und das hast du hervorragend getan. Gib meinen Assistenten deine Adresse, denn zur Belohnung werde ich dir die Gameslayer-Konsole und den Feathered Serpent zuschicken. Außerdem bekommst du später alle weiteren Spiele, die wir noch entwickeln.«

Jetzt applaudierte das Publikum mit etwas größerer Begeisterung. Wieder bot ihm Cray die Hand, und Alex ergriff sie nach kurzem Zögern. Eigentlich konnte er Cray keine Vorwürfe machen. Der Mann hatte schließlich nicht tatenlos zusehen können, wie sein Gameslayer schon bei der ersten Präsentation in der Öffentlichkeit lächerlich gemacht wurde. Cray musste die Millionenbeträge im Auge behalten, die er in die Softwareentwicklung investiert hatte. Trotzdem fand Alex das, was er soeben erlebt hatte, alles andere als amüsant.

»Hab mich gefreut, dich kennenzulernen, Alex. Das hast du gut gemacht«, verabschiedete Cray ihn.

Alex stieg von der Bühne. Es gab noch weitere Vorführungen und ein paar von Crays Mitarbeitern erklärten bestimmte Leistungen des Spiels. Dann wurde das Essen gereicht, aber Alex’ Appetit war auf einmal verschwunden. Er hatte genug gesehen. Schlecht gelaunt verließ er den Game Dome und ging über die Brücke und durch den Park zur King’s Road.

Jack war längst wieder zu Hause angekommen und wartete gespannt auf ihn.

»Na, wie ist es gelaufen?«, wollte sie sofort wissen.

Alex erzählte es ihr in allen Einzelheiten.

»So ein Schuft!«, schimpfte Jack. »Weißt du, Alex, viele reiche Leute sind schlechte Verlierer, und Cray ist jedenfalls sehr reich. Aber glaubst du, dass du damit etwas beweisen kannst?«

»Weiß ich nicht, Jack.« Alex war zutiefst verwirrt. Immer wieder musste er sich in Erinnerung rufen, dass ein großer Teil der Gewinne aus dem Verkauf von Gameslayer für wohltätige Zwecke bestimmt war. Und das würde ein sehr großer Betrag sein. Alex hatte noch immer keinerlei Beweise. Nur ein paar Wörter am Telefon. Doch reichte das, um Cray mit dem Anschlag in Saint-Pierre in Verbindung zu bringen? »Vielleicht sollten wir nach Paris reisen«, sagte er nach einer Weile. »Dort hat schließlich alles angefangen. Edward Pleasure hat sich in Paris mit einem Fotografen getroffen. Sabina hat mir seinen Namen genannt– Marc Antonio.«

»Mit diesem Namen sollte er eigentlich nicht schwer zu finden sein«, grinste Jack. »Marcus Antonius hieß doch der römische Feldherr, der mit Kleopatra was hatte, oder? Außerdem liebe ich Paris.«

»Könnte trotzdem reine Zeitverschwendung sein«, gab Alex seufzend zu bedenken. »Ich hab Damian Cray nie gemocht. Aber jetzt hab ich ihn kennengelernt…« Er brach ratlos ab. »Ein Unterhaltungsstar. Er verkauft Computerspiele. Der Mann sieht so aus, als könne er nicht mal einer Fliege was zuleide tun.«

»Irgendwann musst du dich entscheiden, Alex.«

Alex hob die Schultern. »Aber wofür soll ich mich entscheiden? Ich hab absolut keine Ahnung, Jack. Keinen blassen Schimmer.«

Die Abendnachrichten im Fernsehen berichteten über die Vorstellung des neuen Computerspiels Gameslayer. Der Reporter sagte, mit der Grafikqualität und der Leistungsfähigkeit des neuen Systems habe Cray die gesamte Konkurrenz in den Schatten gestellt. Alex’ Rolle bei der Präsentation wurde nicht erwähnt. Etwas anderes band dafür seine Aufmerksamkeit.

Der ansonsten so perfekt wirkende Tag wurde von einem tragischen Ereignis überschattet. Offenbar war jemand ums Leben gekommen. Ein Foto erschien auf dem Bildschirm, das Gesicht einer Frau, die Alex sofort wiedererkannte: die lehrerhaft wirkende Journalistin, die Cray mit ihren unangenehmen Fragen über die Gewalt in dem Computerspiel gelöchert hatte. Ein Polizist erklärte dem Reporter, dass die Frau beim Verlassen des Hydeparks von einem Auto angefahren worden sei. Der Fahrer habe Fahrerflucht begangen und man habe ihn bislang nicht ausfindig machen können.

Am nächsten Morgen gingen Alex und Jack zum Bahnhof Waterloo und kauften zwei Tickets für den Eurostar, den Zug, der durch den Tunnel unter dem Ärmelkanal London mit Paris verbindet.

Um die Mittagszeit waren sie bereits in der französischen Hauptstadt.