Die Wahrheit über Alex
Kein Volk der Welt kannte wildere und grausamere Götter als die Azteken. Genau deshalb hatte Cray aztekische Götter für sein Computerspiel ausgewählt.
Drei dieser Götter hatte er sozusagen herbeigerufen, damit sie die fünfte und letzte Zone der riesigen unterirdischen Spiellandschaft bewachten: das Spiegellabyrinth. Tlaloc, der Regengott, war halb Mensch und halb Alligator. Er hatte scharfe Zähne, klauenähnliche Hände und einen dicken Schuppenschwanz, den er hinter sich her zog. Xipe Totec, der Gott des Frühlings, hatte sich selbst die Augen ausgerissen. Sie baumelten immer noch vor seinem grauenhaften, schmerzverzerrten Gesicht. Xolotl brachte den Azteken das Feuer; er ging auf zerschmetterten und nach hinten verdrehten Füßen. Aus seinen Händen züngelten Flammen, die hundertfach in den Spiegeln reflektiert wurden und die Rauchwolken immer dichter werden ließen.
Natürlich war nichts Übernatürliches an diesen drei Gestalten, die auf Alex warteten. Unter den grotesken Masken, der Plastikhaut und dem dicken Make-up verbargen sich nur ganz gewöhnliche Verbrecher, die vor Kurzem aus Baijlmer, dem größten Gefängnis der Niederlande, entlassen worden waren. Jetzt gehörten sie zum Wachpersonal von Cray Software Technology. Außerdem hatten sie auch noch ganz besondere Aufgaben. Das hier war eine davon. Die drei Männer waren mit Krummschwertern, Speeren, Stahlklauen und Flammenwerfern bewaffnet. Und sie freuten sich darauf, sie einzusetzen.
Der Mann, der als Regengott Tlaloc verkleidet war, erblickte Alex zuerst.
Die Überwachungskamera in Zone3 war ausgefallen, deshalb wusste niemand, ob Alex heil aus der Zone herausgekommen war oder ob ihn die Schlange erledigt hatte. Doch plötzlich nahm der Regengott eine Bewegung wahr– eine Gestalt mit nacktem Oberkörper, die um eine Ecke bog. Alex versuchte nicht einmal, sich zu verstecken, und der Mann erkannte auch sofort warum.
Alex Riders Oberkörper war blutüberströmt. Sein Mund öffnete und schloss sich, aber kein Laut kam heraus. Und dann bemerkte der Wachmann auch den Holzspeer, der in seiner Brust steckte. Wahrscheinlich hatte der Junge versucht, durch den Korridor mit den Speeren zu rennen, es aber nicht geschafft. Ein Speer hatte ihn erwischt.
Jetzt sah auch Alex den Wächter und blieb stehen. Er schwankte, fiel auf die Knie, eine Hand griff kraftlos nach dem Speer, dann kippte er um. Sein Blick war nach oben gerichtet. Er versuchte offenbar, etwas zu sagen, doch aus seinem Mund quoll Blut. Seine Augen schlossen sich und er rollte auf die Seite. Dann bewegte er sich nicht mehr.
Der Wachmann entspannte sich. Es war ihm völlig egal, dass der Junge tot war. Er griff in die Tasche seines Kettenpanzers und holte ein Funkgerät heraus.
»Die Sache ist vorbei«, sagte er auf niederländisch. »Der Junge ist von einem Speer erwischt worden.«
In der gesamten Spielanlage flackerten Neonlampen auf. Im harten weißen Licht erschienen die verschiedenen Zonen plötzlich viel billiger und primitiver– fast wie Attraktionen auf einem Rummelplatz. Die Verkleidung der Wachleute als aztekische Gottheiten wirkte absolut lächerlich. Die herabbaumelnden Augen waren bemalte Tischtennisbälle. Die Alligatorhaut war nichts weiter als ein mit Schuppen beklebter Neoprenanzug, und die nach hinten verkrümmten Plastikfüße hätten aus einem Spezialgeschäft für Faschingskleidung stammen können. Die drei »Götter« standen um Alex’ Körper herum.
»Er atmet noch«, sagte der Frühlingsgott.
»Aber nicht mehr lange.« Der Regengott betrachtete die Speerspitze, an der das Blut bereits gerann.
»Was sollen wir mit ihm machen?«
»Wir lassen ihn hier liegen. Das ist nicht unser Job. Der Reinigungstrupp wird ihn später wegräumen.«
Sie gingen davon. Einer trat an eine Mauer, die man so bemalt hatte, dass ihre Steine verwittert wirkten, und öffnete eine Klappe, hinter der ein Schalter verborgen war. Er drückte darauf und die Mauer öffnete sich. Dahinter wurde ein hell erleuchteter Korridor sichtbar. Die drei Männer verschwanden.
Alex öffnete die Augen.
Der Trick war so uralt, dass er sich fast ein wenig schämte. Wenn er diese Show auf einer Bühne abgezogen hätte, wären wahrscheinlich nicht einmal sechsjährige Kinder darauf hereingefallen. Aber vermutlich war hier alles ein wenig anders.
Im Minidschungel hatte Alex die Speerspitze wieder an sich genommen, mit der er die Schlange erschossen hatte. Unter den Pflanzen des Dschungels hatte er eine gefunden, die eine klebrige, harzähnliche Substanz absonderte. Mit diesem Klebstoff war es ihm gelungen, die Speerspitze an seinem Körper zu befestigen. Dann hatte er sich mit dem Schlangenblut eingerieben. Es hatte ihn zwar einige Überwindung gekostet, aber nur so konnte die Täuschung funktionieren. Mühsam einen Würgereiz unterdrückend, hatte er sich eine Hand voll Blut in den Mund geschüttet. Der Geschmack lag immer noch auf seiner Zunge und er zwang sich, nicht zu schlucken. Aber die Männer waren darauf hereingefallen. Alle drei hatten nur das gesehen, was sie sehen wollten. Keiner hatte genauer hingeschaut.
Alex wartete, bis er sicher war, dass sich niemand mehr in der Nähe befand, dann setzte er sich auf und entfernte den Speer. Er konnte nur hoffen, dass mit dem Ende des Spiels auch alle Überwachungskameras automatisch ausgeschaltet worden waren. Der Ausgang stand immer noch offen und Alex schlich in den Flur. Endlich konnte er die falsche Welt hinter sich lassen! Vor ihm erstreckte sich ein kahler, gefliester Korridor, von dem nach beiden Seiten Türen abgingen. Aber obwohl er die schlimmsten Gefahren hinter sich hatte, war ihm klar, dass er keineswegs in Sicherheit war. Niemand durfte ihn sehen, schließlich lief er halb nackt und blutverschmiert mitten auf dem Firmengelände herum. Außerdem konnte es bestimmt nicht mehr lange dauern, bis jemand das Verschwinden seiner »Leiche« bemerkte und Alex’ Trick durchschaute.
Vorsichtig öffnete er die erste der Türen; dahinter lag nur ein geräumiger Materialschrank. Die beiden nächsten Türen waren verschlossen, aber ungefähr in der Mitte des Korridors entdeckte er einen Umkleideraum mit Duschen, Spinden und einem großen Wäschekorb. Er starrte die Dusche an. Klar, dass ihn das wertvolle Minuten kosten würde, aber er konnte den Blutgestank einfach nicht mehr aushalten und musste das Blut abwaschen. Er zog sich aus, duschte und trocknete sich schnell ab. Dann zog er die Kleider wieder an. Bevor er den Raum verließ, durchsuchte er den Wäschekorb und fand ein Hemd, das ihm als Ersatz für sein verbranntes T-Shirt dienen konnte. Es war zwar schmutzig und zwei Nummern zu groß, aber es war immerhin besser als gar nichts. Erleichtert zog er es an.
Dann öffnete er vorsichtig die Tür– und schob sie sofort wieder zu. Zwei Männer gingen gerade vorbei. Sie unterhielten sich auf Niederländisch und waren auf dem Weg in Richtung Spiegellabyrinth. Alex hoffte, dass die beiden nicht den Auftrag hatten, seine »Leiche« zu beseitigen, denn wenn das der Fall war, würde der Alarm jeden Augenblick losgehen. Er zählte die Sekunden, bis sie vorüber waren, dann schlich er geräuschlos hinaus und lief in entgegengesetzter Richtung durch den Flur.
Der Korridor mündete in ein Treppenhaus. Er hatte zwar keine Ahnung, wohin die Treppe führte, aber er war sicher, dass er sich im Untergeschoss befand und folglich hinaufsteigen musste.
Über die Treppe gelangte Alex in einen kreisrunden, völlig fensterlosen Raum, von dem mehrere Flure abgingen. Er wurde nur durch große Fabriklampen beleuchtet, die in regelmäßigen Abständen von der Decke hingen. Alex blickte auf die Uhr: Viertel nach elf. Zweieinhalb Stunden waren vergangen, seit er sich auf das Gelände geschmuggelt hatte. Ihm kam es sehr viel länger vor. Der Gedanke an Jack schoss ihm durch den Kopf, die wahrscheinlich im Hotel in Amsterdam saß und vor Sorge um ihn fast verrückt wurde.
Es war völlig still. Alex vermutete, dass die meisten Mitarbeiter bereits schlafen gegangen waren. Ohne lange zu überlegen, lief er in einen der Korridore und gelangte wieder in ein Treppenhaus. Er rannte die Treppe hinauf und fand sich in einem Raum wieder, den er sofort wiedererkannte: Damian Crays Arbeitszimmer. Der Raum, in dem er Charlie Roper hatte sterben sehen.
Obwohl sich offenbar niemand darin aufhielt, widerstrebte es Alex irgendwie, den Raum noch einmal zu betreten. Vorsichtig blickte er hinein. Er sah, dass man die flaschenförmige Kammer geleert hatte; der Münzenberg und Ropers Leiche waren verschwunden. Es kam ihm seltsam vor, dass ausgerechnet dieser Raum nicht bewacht wurde, obwohl er doch das Herz von Crays Netzwerk bildete. Aber andererseits hatte Cray auch keinen Grund dazu. Seine Sicherheitskräfte patrouillierten über das ganze Gelände und kontrollierten die Zufahrt besonders intensiv. Und Alex war angeblich tot. Cray hatte also nichts mehr zu befürchten.
Vor Alex lag die Treppe, die, wie er wusste, in den Glaswürfel hinaufführte, von wo man auf den freien Platz vor dem Gebäude gelangen konnte. Er wurde fast von dem Verlangen überwältigt, einfach abzuhauen, die Treppe hinauf und ins Freie zu fliehen. Aber er wusste auch, dass sich ihm eine ähnliche Gelegenheit so schnell nicht mehr bieten würde. Irgendwo in seinem Kopf nagte auch noch ein anderer Gedanke: Selbst wenn es ihm gelang, von hier zu verschwinden und MI6 zu benachrichtigen, würde er keinen überzeugenden Beweis liefern können, dass Cray etwas ganz anderes war als nur der Popstar und Geschäftsmann, für den ihn alle hielten. Alan Blunt und MrsJones hatten ihm schon beim letzten Treffen nicht geglaubt. Wahrscheinlich würden sie ihm auch jetzt nicht glauben.
Alex überwand den Drang, sofort zu fliehen. Er trat in den Raum und ging zum Schreibtisch, auf dem ungefähr ein Dutzend gerahmte Fotos standen, die alle ohne Ausnahme Damian Cray zeigten. Alex achtete nicht darauf, sondern machte sich sofort an den Schubladen zu schaffen. Sie waren nicht verschlossen. Die unteren Schubladen enthielten stapelweise Dokumente, aber auf den meisten Papieren standen nur langweilige Zahlenkolonnen, die Alex nicht sehr wichtig vorkamen. Dann zog er die letzte Schublade auf und schnappte vor Überraschung nach Luft. Die kleine Box, die Cray bei dem Gespräch mit dem Amerikaner in der Hand gehalten hatte, lag wie ein völlig alltäglicher Gegenstand in der Schublade. Alex nahm sie heraus und wog sie in der Hand. Der Flash Drive! Er enthielt die Computercodes. Mit ihm konnte man irgendein Sicherheitssystem knacken. Das Ding hätte Cray zweieinhalb Millionen Dollar kosten sollen. Stattdessen hatte es den Amerikaner das Leben gekostet.
Und jetzt hielt Alex es in der Hand! Er hätte den Flash Drive am liebsten sofort überprüft, aber das musste noch warten. Er schob das Gerät in die Hosentasche und rannte zur Treppe zurück.
Zehn Minuten später schrillten auf dem gesamten Gelände die Alarmsirenen los. Die beiden Männer, die Alex im Flur gesehen hatte, waren tatsächlich beauftragt gewesen, Alex’ »Leiche« aus dem Spiegellabyrinth zu holen. Nur hatten sie dort gar keine Leiche vorgefunden. Eigentlich hätten sie sofort den Alarm auslösen sollen, aber es war zu einer kleinen Verzögerung gekommen. Denn die Männer hatten zunächst angenommen, dass irgendein anderes Team den Körper bereits entsorgt hatte, und hatten beschlossen, erst einmal nachzufragen. Doch dann hatten sie die tote Schlange entdeckt und den mit dem Harz präparierten Pfeil gefunden. Erst jetzt hatte ihnen gedämmert, was wirklich vorgefallen war.
Währenddessen verließ ein Lieferwagen das Betriebsgelände. Weder die müden Wachleute am Tor noch der Fahrer hatten bemerkt, dass sich eine Gestalt flach auf das Fahrzeugdach presste. Warum hätten sie es auch bemerken sollen? Der Truck wollte schließlich nicht auf das Gelände, sondern fuhr weg. Der Posten warf nur einen kurzen Blick auf den Ausweis des Fahrers und öffnete dann das Tor. Ein paar Sekunden später schrillte der Alarm los.
Die Sicherheitsbestimmungen von Crays Softwarefirma sahen vor, dass niemand das Gelände betreten oder verlassen durfte, wenn der Alarm ausgelöst worden war. Jeder LKW war mit einem Funksprechgerät ausgestattet und der Wächter am Tor befahl dem Fahrer sofort, umzudrehen und zum Tor zurückzukommen. Der Fahrer fluchte, hielt an, bevor er noch die Ampel erreicht hatte, und wendete mürrisch. Aber es war schon zu spät.
Alex glitt vom Dach, ließ sich auf den Boden fallen und verschwand in der Nacht.
Damian Cray war augenblicklich in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt und saß nun mit einem Glas Milch in der Hand auf dem Sofa. Er hatte bereits im Bett gelegen, als der Alarm ausgelöst worden war, und trug jetzt einen silbern glänzenden Morgenmantel, einen dunkelblauen Pyjama und weiche Frotteehausschuhe. Sein Gesicht sah erschreckend aus: Alles Leben war daraus verschwunden. Nur eine kalte, leere, gläsern wirkende Maske war zurückgeblieben. Über einem seiner starr blickenden Augen pochte eine Ader.
Kurz zuvor hatte Cray feststellen müssen, dass jemand den Flash Drive aus seiner Schreibtischschublade entwendet hatte. Hektisch hatte er alle Schubladen durchsucht, sie wild herausgerissen, umgedreht und ihren Inhalt achtlos über den Boden verstreut. Dann warf er sich mit einem tierischen Aufschrei auf den Schreibtisch, hämmerte rasend vor Wut mit Händen und Füßen auf die Tischplatte und fegte Telefone, Ordner und Fotorahmen in alle Richtungen vom Tisch. Einen Briefbeschwerer schleuderte er mit aller Kraft in den Computerbildschirm. Als der Tobsuchtsanfall endlich vorbei war, ließ er sich auf das Sofa sinken und brüllte nach einem Glas Milch.
Yassen Gregorovich beobachtete Crays Wutanfall gelassen, ohne ein Wort zu sagen. Auch er war aus seinem Zimmer gestürzt, als der Alarm losschrillte, aber im Gegensatz zu Cray hatte er noch nicht geschlafen. Yassen schlief nie länger als vier Stunden. Meistens joggte er nachts oder trainierte im Fitnessraum. Manchmal hörte er klassische Musik. In dieser Nacht hatte er mit einem Kassettenrekorder und einem offenbar häufig benutzten Lehrbuch am Tisch gesessen. Er lernte Japanisch, eine der neun Sprachen, die er beherrschen wollte.
Als Yassen die Sirenen hörte, war ihm sofort klar gewesen, dass Alex Rider entkommen war. Er hatte den Rekorder abgeschaltet und vor sich hin gelächelt.
Jetzt wartete er darauf, dass Cray endlich sein langes Schweigen brach. Er hatte Cray als Erstes aufgefordert nachzusehen, ob der Flash Drive noch in der Schublade lag. Doch das war nicht der Fall, und Yassen war ziemlich sicher, dass Cray ihm die Schuld für den Diebstahl zuschieben würde.
»Er hätte doch ums Leben kommen müssen!«, jammerte Cray. »Und meine Leute haben doch auch behauptet, dass er tot ist!« Er starrte Yassen an, jetzt plötzlich wieder wütend. »Sie wussten, dass er hier drin war!«
»Ich hab’s vermutet«, sagte Yassen.
»Warum?«
Yassen dachte kurz nach, dann sagte er einfach: »Weil er Alex Rider ist.«
»Verdammt noch mal!«, brüllte Cray. »Dann erklären Sie mir doch endlich, wer er ist, dieser Alex Rider!«
»Ich kann Ihnen nicht viel über ihn erzählen.« Yassen starrte gedankenverloren in die Ferne, doch sein Gesicht verriet nichts. »Die Wahrheit über Alex Rider ist, dass es auf der ganzen Welt keinen Jungen wie ihn gibt«, begann er schließlich. Er sprach langsam und leise. »Überlegen Sie nur einmal: Heute Abend haben Sie gleich mehrmals versucht, ihn umzubringen– nicht einfach mit einem Messer oder einer Kugel, sondern auf eine ganz entsetzliche Weise. Aber der Junge entkommt, findet den Weg hierher zurück. Sieht die Treppe nach oben. In dieser Situation wäre jeder andere Junge, und sogar jeder erwachsene Mann, sofort geflohen. Nach allem, was er hinter sich hatte, hätte er doch nur einen einzigen Gedanken haben können– seine Flucht. Aber nicht Alex. Er bleibt stehen, beginnt zu suchen. Das macht ihn so einzigartig, MrCray, und das ist der Grund, warum er für MI6 so unersetzlich ist.«
»Aber wie hat er es überhaupt geschafft, auf das Gelände und in dieses Haus einzudringen?«
»Keine Ahnung. Wenn Sie mir erlaubt hätten, ihn zu verhören, bevor Sie ihn auf Ihren Abenteuerspielplatz schickten, wüssten wir es jetzt.«
»Das war schließlich nicht mein Fehler, Gregorovich! Sie hätten ihn schon in Südfrankreich umlegen sollen, dort hatten Sie die beste Gelegenheit dazu!« Cray trank einen Schluck Milch und stellte das Glas hart auf den Tisch zurück. Auf seiner Oberlippe blieb ein weißer Milchbart zurück. »Warum haben Sie’s damals eigentlich nicht getan?«, fragte er wütend.
»Ich habe es versucht…«
»Sie meinen doch nicht etwa die verrückte Idee mit dem Stierkampf? Absolut lächerlich. Ich glaube, Sie wussten ganz genau, dass es ihm gelingen würde abzuhauen.«
»Ich habe es gehofft«, gab Yassen zu. Cray begann ihn zu langweilen. Yassen hasste es, seine Handlungsweise rechtfertigen zu müssen. Aber als er dann doch weitersprach, redete er mehr mit sich selbst als mit Cray. »Ich kannte ihn schon…«, sagte er leise.
»Sie meinen, Sie kannten ihn schon vor Saint-Pierre?«
»Ja. Ich bin ihm schon einmal begegnet. Aber selbst damals kannte ich ihn bereits. Oder vielmehr: Als ich ihn sah, wusste ich sofort, wer er war und was er war. Das genaue Ebenbild seines Vaters…« Yassen brach ab. Er hatte bereits mehr verraten, als er beabsichtigt hatte. »Aber er weiß nichts davon«, murmelte er. »Niemand hat ihm bisher die Wahrheit gesagt.«
Cray hatte bereits das Interesse verloren. »Ohne den Flash Drive kann ich nichts machen«, stöhnte er auf. Plötzlich traten Tränen in seine Augen. »Die Sache ist vorbei! Eagle Strike! Die ganzen Pläne, jahrelang, Millionen Pfund in den Sand gesetzt! Und alles ist Ihre Schuld!«
Nun war es endlich heraus. Crays vor Wut zitternder Finger zeigte auf Yassen.
Ein paar Sekunden lang überlegte Yassen ernsthaft, ob er Damian Cray auf der Stelle umlegen sollte. Die Sache wäre ziemlich schnell vorbei: Ein Schlag mit drei Fingern gegen die schlaffe, blasse Kehle. Yassen hatte schon für viele schlechte Menschen gearbeitet– obwohl er eigentlich nie darüber nachdachte, welche Menschen gut und welche schlecht waren. Für ihn zählte nur eines: wie gut oder wie schlecht sie ihn bezahlten. Manche seiner Auftraggeber– Herod Sayle zum Beispiel– hatten Millionen Menschen umbringen wollen. Yassen konnte mit solchen Zahlen nicht viel anfangen, sie waren nicht wichtig. Menschen starben schließlich jeden Tag. Er wusste, dass mit jeder Sekunde irgendwo auf der Welt hundert oder tausend Menschen ihren letzten Atemzug taten. Der Tod war überall, und er ließ sich nicht in Zahlen messen.
Aber in letzter Zeit hatte sich in Yassen etwas verändert. Vielleicht war der Auslöser gewesen, dass er erneut mit Alex zusammengetroffen war. Vielleicht wurde er einfach alt. Yassen wirkte zwar, als sei er erst Ende zwanzig, aber in Wirklichkeit war er 35. Er wurde tatsächlich alt. Jedenfalls zu alt für diesen Job. Er spielte allmählich mit dem Gedanken, den Job an den Nagel zu hängen.
Und aus diesem Grund beschloss er jetzt, Damian Cray nicht umzubringen. Eagle Strike sollte in zwei Tagen stattfinden. Die Sache würde ihm, Yassen, mehr Geld einbringen, als er sich je hätte träumen lassen. Er würde dann sogar endlich wieder in seine Heimat Russland zurückkehren können. Er hatte vor, ein Haus in St.Petersburg zu kaufen, dort stilvoll zu wohnen und zur Entspannung vielleicht ab und zu ein paar Geschäfte mit der russischen Mafia zu machen. Die Stadt wimmelte vor krimineller Energie und einem Mann mit einem solchen Vermögen und solchen Erfahrungen standen alle Möglichkeiten offen.
Yassen streckte beruhigend die Hand aus, dieselbe Hand, mit der er seinen Auftraggeber beinahe zu Tode gebracht hätte. »Sie machen sich zu viele Sorgen«, sagte er. »Wir wissen ja noch nicht einmal, ob Alex nicht doch noch auf dem Gelände ist. Aber selbst wenn er es geschafft hat, durch das Tor zu fliehen, kann er noch nicht sehr weit gekommen sein. Wie will er denn Sloterdijk verlassen und nach Amsterdam zurückfahren? Ich habe bereits alle Mitarbeiter angewiesen, draußen nach ihm zu suchen und ihn zurückzubringen. Selbst wenn er versucht, in die Stadt zu gelangen, werden wir ihn vorher abfangen.«
»Woher wollen Sie wissen, dass er in die Stadt zurückkehrt?«, fragte Cray.
»Es ist kurz vor Mitternacht. Wohin sollte er denn sonst gehen?« Yassen stand auf und gähnte. »Alex Rider wird noch vor Sonnenaufgang wieder hier sein. Und dann werden Sie Ihren Flash Drive wiederbekommen.«
»Gut.« Düster starrte Cray auf das Chaos, das er in seiner Wut angerichtet hatte. »Wenn er mir das nächste Mal in die Hände fällt, werde ich dafür sorgen, dass er nie mehr abhauen kann. Nächstes Mal wird er vom Chef selbst behandelt. Von mir.«
Yassen drehte sich wortlos um und verließ den Raum.