Heiliger Damian?
Das Büro sah genauso aus wie immer. Dieselben gewöhnlichen modernen Möbel, dieselbe Aussicht, derselbe Mann hinter dem Schreibtisch. Nicht zum ersten Mal fragte sich Alex, wer Alan Blunt, der Chef der MI6-Abteilung Spezial-Operationen, wirklich war. Wie kommt er jeden Tag zur Arbeit? Mit dem Auto, der U-Bahn, dem Fahrrad? Wohnt er in irgendeinem hübschen Londoner Viertel, mit einer netten, fröhlichen Frau und zwei Kindern, die ihm morgens hinterherwinken, wenn er zur U-Bahn-Station geht? Kennt seine Familie die Wahrheit über seine Arbeit? Hat er seiner Frau jemals erzählt, dass er gar nicht in einer Bank arbeitet und dass er– vielleicht in dem schicken ledernen Aktenkoffer, den sie ihm zu seinem Geburtstag geschenkt hat– Dokumente und Papiere mit sich herumträgt, die für manche Leute das Todesurteil sein konnten?
Alex versuchte sich Blunt als Jugendlichen vorzustellen. Jetzt trug er einen grauen Anzug, aber irgendwann musste er ja mal in Alex’ Alter gewesen sein. Er musste zur Schule gegangen sein, über Klassenarbeiten geschwitzt haben, beim Fußball gefoult worden sein; er musste irgendwann einmal die erste Zigarette gepafft und sich wie jeder andere an den Wochenenden gelangweilt haben. Doch jetzt war in Blunt– mit seinen ausdruckslosen grauen Augen, dem farblosen Haar, der vergilbten, straff gespannten Gesichtshaut– alles Jugendliche verblasst. Wie lange mochte die Jugend dieses Menschen schon zurückliegen? Wann war er zu einem dieser Geheimdienstbeamten geworden, zum Befehlshaber der Spione, der seine Arbeit ohne jedes erkennbare Gefühl oder Bedauern durchführte?
Aber Alex fragte sich auch, ob er selbst einmal so werden würde. War es das, worauf ihn MI6 vorbereiten wollte? Erst hatten sie ihn in einen Spion verwandelt; als Nächstes würden sie ihn in einen Funktionär verwandeln, wie sie selbst welche waren. Vielleicht hatten sie sogar schon ein Büro für ihn eingerichtet, mit seinem Namen an der Tür. Bei diesem Gedanken lief Alex ein Schauer über den Rücken, obwohl die Fenster in Blunts Büro geschlossen waren und es im Raum sehr warm war.
Es war ein gewaltiger Fehler gewesen, mit Sabina hierherzukommen. Die Büroräume in der Liverpool Street wirkten auf ihn wie Gift. Wenn er sich nicht von MI6 abkoppelte, würden sie ihn irgendwann und auf irgendeine Weise zerstören.
»Wir konnten nicht dulden, dass du dieses Mädchen hierherbringst, Alex«, sagte Blunt. »Du weißt ganz genau, dass du nicht vor deinen Freunden damit angeben sollst, wann immer du…«
»Ich hab nicht damit angegeben!«, unterbrach ihn Alex heftig. »Ihr Vater wäre nämlich beinahe bei einem Bombenanschlag in Südfrankreich ums Leben gekommen und ich wollte ihr zeigen, dass…«
»Wir wissen alles über die Sache in Saint-Pierre«, knurrte Blunt gereizt.
»Ach? Dann wissen Sie sicher auch, dass die Bombe von Yassen Gregorovich gelegt wurde?«
Blunt stieß einen verärgerten Seufzer aus. »Das macht keinerlei Unterschied. Und es geht dich auch gar nichts an. Außerdem hat es ganz bestimmt nichts mit uns zu tun!«
Alex starrte ihn ungläubig an. »Sabinas Vater ist Journalist!«, schrie er. »Er schrieb an einem Artikel über Damian Cray! Wenn Cray ihn ermorden lassen wollte, muss es dafür doch einen Grund geben, oder nicht? Gehört es denn nicht zu Ihrem Job, das herauszufinden?«
Blunt hob die Hand, um Alex zum Schweigen zu bringen. Weder in seinem Gesicht noch in seinen Augen war irgendeine Regung zu erkennen. Wahrscheinlich würde es keinem Menschen auffallen, wenn dieser Mann plötzlich am Schreibtisch sterben und monatelang sitzen bleiben würde, schoss es Alex durch den Kopf.
»Ich habe einen Bericht von der Polizei in Montpellier vorliegen und einen weiteren vom britischen Konsulat«, sagte Blunt. »Solche Berichte bekommen wir automatisch, wenn einer unserer Leute betroffen ist.«
»Ich bin nicht einer Ihrer Leute«, murrte Alex.
»Es tut mir sehr leid, dass der Vater deiner Freundin verletzt wurde. Aber ich muss dir sagen, dass die französische Polizei die Sache genau untersucht hat– und sie hat bestätigt, was du sagst: Es war kein Leck in der Gasleitung, sondern ein gezielter Anschlag.«
»Genau das habe ich Ihnen ja klarmachen wollen!«
»Inzwischen hat die CST die Verantwortung dafür übernommen. Das ist eine in Südwestfrankreich aktive Terroristenorganisation.«
»Die CST?« Jetzt war Alex völlig verwirrt. »Was sind das für Leute?«
»Eine neue Terrorgruppe«, erklärte MrsJones. »Es sind französische Nationalisten. CST ist die Abkürzung für Camargue Sans Touristes. Wie der Name schon sagt, will diese Gruppe verhindern, dass immer mehr Häuser und Wohnungen in der Camargue für den Tourismus und als Ferienhäuser für die Reichen verwendet werden.«
»Die Bombe hatte mit CST überhaupt nichts zu tun!«, protestierte Alex. »Das war Yassen Gregorovich! Ich habe ihn gefragt und er hat es zugegeben! Außerdem hat er bestätigt, dass die Bombe für Edward Pleasure bestimmt war. Warum hören Sie mir nicht zu, wenn ich es doch genau weiß? Es ging um diesen Artikel, an dem Edward gerade arbeitete. Irgendetwas über ein Treffen in Paris. Und Damian Cray wollte Edward aus dem Weg räumen lassen.«
Schweigen. MrsJones blickte ihren Boss an, als müsse sie ihn um Erlaubnis bitten, etwas sagen zu dürfen. Er nickte fast unmerklich.
»Hat Yassen Damian Cray erwähnt?«, fragte sie.
»Nein. Aber ich hab herausgefunden, dass seine Privatnummer in Yassens Handy gespeichert ist. Ich habe dort angerufen und hatte ihn tatsächlich am Apparat.«
»Woher willst du wissen, dass tatsächlich Damian Cray dran war?«
»Na ja, er hat sich mit dem Namen gemeldet.«
»Das ist völliger Unsinn«, mischte sich Blunt ein, und Alex bemerkte erstaunt, dass er sehr verärgert wirkte. Es kam selten genug vor, dass Blunt offen irgendwelche Gefühle zeigte. Er hatte den Eindruck, dass nicht sehr viele Leute in der Abteilung es wagten, anderer Meinung zu sein als der Boss. Jedenfalls nicht, wenn er in der Nähe war.
»Warum ist es Unsinn?«, fragte er.
»Weil du von einem der am meisten bewunderten und angesehenen Unterhaltungsstars in diesem Land sprichst. Ein Mann, der viele Millionen Pfund für wohltätige Zwecke gesammelt hat. Weil du über Damian Cray sprichst!« Blunt ließ sich in seinen Schreibtischsessel zurücksinken. Er wirkte unentschlossen, doch dann nickte er knapp. »In Ordnung«, sagte er. »Weil du für uns schon mehrmals recht nützlich gewesen bist und weil ich diese Sache ein und für alle Mal geklärt haben will, werde ich dir alles erzählen, was wir über Cray wissen.«
»Wir haben ein sehr umfangreiches Dossier über ihn«, warf MrsJones ein.
»Warum denn?«
»Wir haben über alle Berühmtheiten umfangreiches Material gesammelt.«
Blunt nickte MrsJones zu. Sie schien alle Fakten auswendig zu kennen. Entweder hatte sie die Akten erst kürzlich gelesen oder, was wahrscheinlicher war, die Festplatte in ihrem Hirn hatte eine hohe Speicherkapazität.
»Damian Cray wurde am 5.Oktober 1950 im Norden Londons geboren«, begann sie. »Cray ist übrigens nicht sein wirklicher Name. Er wurde auf den Namen Harold Eric Lunt getauft. Sein Vater war Sir Arthur Lunt, ein Bauunternehmer, der mit dem Bau von Parkhäusern ein Vermögen gemacht hat. Schon als Kind hatte Harold eine bemerkenswerte Stimme, und im Alter von elf Jahren schrieb man ihn an der Königlichen Musikakademie in London als Schüler ein. Dort sang er regelmäßig gemeinsam mit einem anderen Jungen, der ebenfalls sehr berühmt wurde– und zwar mit Elton John.
Aber als Harold dreizehn war, ereignete sich ein furchtbares Unglück. Seine Eltern kamen bei einem– wie soll ich sagen– geradezu bizarren Autounfall ums Leben.«
»Warum war der Unfall bizarr?«
»Ein Auto rollte von der obersten Ebene eines ihrer Parkhäuser und fiel direkt auf sie herab. Du kannst dir sicher vorstellen, dass Harold völlig verstört war. Er verließ die Musikakademie und reiste eine Zeit lang kreuz und quer durch die Welt. Er änderte seinen Namen und trat irgendwann zum Buddhismus über. Er wurde auch Vegetarier, und bis heute rührt er kein Fleisch an. Die Karten für seine Konzerte lässt er nur auf Umweltpapier drucken. Er hat sehr klare Wertvorstellungen und hält sich auch strikt an diese.
Jedenfalls kam er dann in den Siebzigerjahren nach England zurück und gründete eine Band– Slam! Sie war sofort ein Riesenerfolg. Sicherlich kennst du den Rest der Geschichte, Alex. Ende der Siebzigerjahre löste sich die Band auf und Cray begann eine Solokarriere, die noch erfolgreicher war als seine Karriere mit der Band. Für sein erstes Soloalbum Firelight erhielt er Platin. Seither kam es nur selten vor, dass einer seiner Songs nicht unter den Top20 in den USA oder in Großbritannien war. Er hat fünf Grammy-Awards verliehen bekommen und einen Oscar für den besten Filmsong. 1986 bereiste er Afrika und beschloss, etwas zu unternehmen, um den Menschen dort zu helfen. Er veranstaltete ein Großkonzert im Wembley-Stadion und spendete die gesamten Einnahmen für wohltätige Zwecke. Chart Attack– so hieß das Konzert. Ein Riesenerfolg. Und an Weihnachten desselben Jahres brachte er die Single Für die Kinder heraus. Davon verkaufte er vier Millionen Platten und spendete jeden Penny für mildtätige Zwecke.
Aber das war nur der Anfang. Seit dem Erfolg von Chart Attack hat Cray immer wieder unermüdlich Kampagnen zu allen möglichen Problemen der Welt durchgeführt: Schützt den Regenwald; Rettet die Ozonschicht; Erlasst den armen Ländern die Schulden. Außerdem baute er eigene Rehabilitationszentren für junge Drogenabhängige und kämpfte zwei Jahre lang darum, dass ein Labor dichtgemacht wurde, in dem Tierexperimente durchgeführt wurden.
1989 veranstaltete er ein freies Konzert in Belfast in Nordirland. Viele Leute glauben, dass das ein erster Schritt auf dem Weg zum Frieden in der Provinz war. Ein Jahr später besuchte er an zwei aufeinanderfolgenden Tagen den Buckingham-Palast. Am Donnerstag trat er bei der Geburtstagsfeier von Prinz Charles auf, und am nächsten Tag wurde er von der Königin zum Ritter geschlagen.
Und letztes Jahr brachte das Magazin Time sein Foto als Titelbild. Die Schlagzeile lautete: Mann des Jahres: Heiliger Damian? Und aus diesen Gründen sind deine Vorwürfe absolut lächerlich. Die ganze Welt weiß, dass Damian Cray tatsächlich einem Heiligen so nahekommt wie kein anderer lebender Mensch in diesem Land.«
»Trotzdem war es seine Stimme am Telefon«, beharrte Alex.
»Du hast jemanden gehört, der sich mit seinem Namen meldete. Du weißt aber nicht, ob er es wirklich selbst war.«
»Ich verstehe das nicht!« Alex wurde plötzlich wütend, aber er war auch verwirrt. »Also gut, wir alle mögen Damian Cray. Klar, der Mann ist ja sehr berühmt. Aber wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass er etwas mit der Bombe zu tun hat, warum weigern Sie sich dann, ihn genauer unter die Lupe zu nehmen?«
»Weil wir nicht dürfen.« Blunts Stimme klang ernst und schwer. Er räusperte sich. »Damian Cray ist Multimillionär. Er hat ein riesiges Penthouse am Themseufer und besitzt ein Anwesen in Wiltshire, ganz in der Nähe von Bath.«
»Ja und?«
»Reiche Leute haben gute Beziehungen. Und extrem reiche Leute haben extrem gute Beziehungen. Seit den Neunzigerjahren hat Cray viel Geld in verschiedene Firmen und Unternehmen investiert. Er hat eine Fernsehanstalt aufgekauft und lässt von ihr Programme produzieren, die auf der ganzen Welt ausgestrahlt werden. Dann ist er ins Hotelgewerbe eingestiegen und schließlich in die Produktion von Computerspielen. Schon bald will er ein neues Computersystem herausbringen. Er nennt es Gameslayer, und angeblich soll es alle anderen Systeme– wie PlayStation2, GameCube und so weiter– total in den Schatten stellen.«
»Ich verstehe immer noch nicht…«
»Der Mann hat viele Arbeitsplätze geschaffen, Alex! Er ist ein Mann mit einem enormen Einfluss. Und, was immer das auch heißen mag, er hat kurz vor der letzten Parlamentswahl der Regierung eine Million Pfund geschenkt. Begreifst du denn nicht endlich? Wenn es herauskäme, dass wir diesen Mann ausspionieren, nur weil uns ein Schüler angeblich einen Tipp gegeben hat, hätten wir sofort einen Riesenskandal am Hals. Der Premierminister kann uns sowieso nicht ausstehen. Er hasst überhaupt alles, was er nicht voll kontrollieren kann. Wenn herauskäme, dass wir uns mit Cray beschäftigen, hätte er eine Begründung dafür, unsere Abteilung vielleicht sogar ganz aufzulösen.«
»Cray war erst heute im Fernsehen«, ergänzte MrsJones. Sie griff nach der Fernbedienung. »Schau dir das mal an und sag mir dann, was du denkst.«
Der Fernsehbildschirm in der Ecke leuchtete auf und Alex sah eine Aufzeichnung der Morgennachrichten. Vermutlich zeichnete MrsJones die Nachrichten jeden Tag auf. Sie ließ das Band schnell vorlaufen.
Damian Cray erschien auf dem Bildschirm. Sein Haar war glatt nach hinten gekämmt. Er trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine mauvefarbene Seidenkrawatte. Er stand vor der amerikanischen Botschaft am Grosvenor Square in London.
MrsJones stellte den Ton lauter.
»…der frühere Popsänger Damian Cray, der sich jetzt unermüdlich für viele Umweltfragen und politische Probleme einsetzt. Er kam heute nach London, um den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu begrüßen, der gerade in England eingetroffen ist und hier seinen Sommerurlaub verbringen will.«
Eine Boeing747 kam ins Bild, die gerade auf dem Londoner Flughafen Heathrow landete. Schnitt. Nun war der Präsident zu sehen, der winkend und lächelnd in der offenen Flugzeugtür stand.
»Der Präsident landete in der Präsidentenmaschine Air Force One auf dem Heathrow Airport. Das Mittagessen wird der Präsident heute mit dem Premierminister in Downing Street Nummer Zehn einnehmen…«
Wieder Schnitt. Jetzt stand Damian Cray neben dem Präsidenten und schüttelte ihm die Hand, ein langes Händeschütteln, das für die Kameras bestimmt war, deren Blitzlichter wie ein Gewitter rings um die beiden Männer aufleuchteten. Cray hielt die Hand des Präsidenten zwischen seinen beiden Händen und schien sie gar nicht mehr loslassen zu wollen. Er sagte etwas zu ihm und der Präsident lachte.
»…aber zuerst traf er mit Cray in der amerikanischen Botschaft in London zu einem informellen Gespräch zusammen. Cray ist Sprecher von Greenpeace und gehört zu den Führern einer Bewegung, die verhindern will, dass in der Wildnis von Alaska Erdöl gefördert wird. Die Bewegung befürchtet gravierende Umweltschäden. Obwohl sich der Präsident in dieser Sache nicht festlegen wollte, versprach er, den Bericht von Greenpeace genau zu prüfen…«
MrsJones schaltete den Fernseher aus.
»Siehst du? Der mächtigste Mann der Welt unterbricht seine Ferien, um mit Damian Cray zusammenzutreffen. Und er trifft sich mit Cray sogar noch vor seinem Besuch beim Premierminister! Das sollte dir doch zeigen, wie wichtig Cray ist. Also, erklär es mir bitte! Welchen Grund könnte es auf dieser Welt für ihn geben, ein Ferienhaus in die Luft zu jagen und womöglich eine ganze Familie zu ermorden?«
»Genau das sollen Sie ja herausfinden!«
Blunt schnaubte verächtlich. »Ich denke, das reicht jetzt. Wir werden abwarten, was uns die französische Polizei berichtet. Sie untersuchen gerade die CST genauer. Schauen wir doch erst mal, was sie dabei herausfinden.«
»Sie werden also nichts tun?«
»Ich denke, das haben wir jetzt ausführlich genug erklärt, Alex.«
»Okay.« Alex stand auf. Er war wütend. »Sie haben dafür gesorgt, dass ich vor Sabina wie ein Vollidiot dastehe. Und dass ich meine besten Freunde verliere. Wirklich erstaunlich. Wenn Sie mich brauchen, holen Sie mich einfach aus der Schule und schicken mich ans andere Ende der Welt. Aber wenn ich Sie brauche, nur ein einziges Mal, tun Sie so, als gebe es diesen ganzen Laden hier gar nicht und lassen mich einfach hinauswerfen…«
»Jetzt wirst du aber wirklich zu emotional mein Junge«, sagte Blunt kalt.
»Nein, gar nicht. Aber ich sage Ihnen eins: Wenn Sie Cray nicht unter die Lupe nehmen, mache ich es selber. Vielleicht ist er ja wirklich der Weihnachtsmann, Johanna von Orleans und der Papst, alles in einer Person. Aber am Telefon habe ich seine Stimme gehört und ich weiß, dass er irgendwie mit der Sache in Südfrankreich zu tun hat. Und das werde ich Ihnen beweisen.«
Ohne ein weiteres Wort von Blunt oder MrsJones abzuwarten, verließ Alex den Raum.
Die beiden MI6-Leute schwiegen eine Weile, nachdem Alex gegangen war. Blunt nahm einen Kugelschreiber und schrieb ein paar Worte auf ein Blatt Papier. Dann blickte er zu MrsJones auf. »Nun?«, wollte er wissen.
»Vielleicht sollten wir Crays Akten noch einmal überprüfen«, schlug MrsJones vor. »Schließlich hat sich auch Herod Sayle als Wohltäter Englands ausgegeben, und wenn Alex nicht gewesen wäre…«
»Machen Sie, was Sie wollen«, sagte Blunt ungehalten. Er kreiste den letzten Stichpunkt, den er auf das Papier geschrieben hatte, ein. MrsJones konnte die auf dem Kopf stehende Schrift leicht entziffern: Yassen Gregorovich. »Jedenfalls seltsam, dass er Yassen noch einmal begegnet ist«, murmelte er.
»Und noch seltsamer ist, dass Yassen ihn nicht umgebracht hat, als sich die Chance bot.«
»Nun, das halte ich nicht für so seltsam, wenn man gewisse andere Umstände in Betracht zieht.«
MrsJones nickte. »Vielleicht sollten wir Alex mehr über Yassen erzählen«, schlug sie vor.
»Ganz bestimmt nicht!« Blunt nahm das Blatt und zerknüllte es. »Je weniger Alex Rider über Yassen Gregorovich weiß, desto besser. Ich hoffe jedenfalls sehr, dass sich die beiden nie wieder begegnen.« Er warf das Papierknäuel in einen Korb unter seinem Schreibtisch. Am Ende jedes Arbeitstages wurde der Korbinhalt verbrannt.
»Das wär’s dann, MrsJones.«
Jack machte sich Sorgen.
Alex war in absolut mieser Stimmung von der Liverpool Street zurückgekehrt und hatte seither kaum ein Wort mit ihr geredet. Er war ins Wohnzimmer gekommen, wo sie gerade ein Buch gelesen hatte, und sie hatte nur herausfinden können, dass sein Treffen mit Sabina nicht gut gelaufen war und dass sich die beiden nicht mehr wiedersehen wollten. Aber im Verlauf des Nachmittags entlockte sie ihm immer mehr Einzelheiten, sodass sie schließlich eine ziemlich genaue Vorstellung von dem hatte, was vorgefallen war.
»Das sind doch alles Vollidioten!«, rief Alex empört. »Ich weiß, dass sie sich irren. Aber weil ich jünger bin als sie, hören sie mir einfach nicht zu.«
»Ich hab’s dir ja schon einmal gesagt, Alex: Du solltest dich nicht mehr mit ihnen abgeben.«
»Mach ich auch nicht, nie mehr. Denen bin ich doch völlig egal.«
Es klingelte an der Haustür.
»Ich geh schon«, sagte Alex.
Vor dem Haus stand ein weißer Lieferwagen. Zwei Männer öffneten die Schiebetür des Laderaums und luden ein brandneues Fahrrad aus, das sie über die Straße zum Haus schoben. Alex ließ den Blick über das Fahrrad gleiten. Es war ein Cannondale Bad Boy, ein Mountainbike, das für den Gebrauch in der Stadt mit einem besonders leichten Alurahmen und Ein-Zoll-Reifen ausgestattet worden war. Es war silberfarben und schien alles zu haben, was sich Alex je an Fahrradausstattung gewünscht hätte: Scheinwerfer von Digital Evolution, eine Minipumpe Marke Blackburn… alles vom Allerfeinsten. Nur die silberne Glocke am Lenker schien irgendwie altmodisch und unpassend. Alex ließ die Hand zuerst über den Ledersattel gleiten, in den ein keltisches Symbol eingestanzt war, dann über den Rahmen. Er bewunderte die Qualität. Keine Spur von Schweißnähten. Das Fahrrad war von Hand hergestellt worden und musste ziemlich viel gekostet haben.
Einer der Männer fragte: »Bist du Alex Rider?«
»Ja. Aber ich glaube, das ist ein Irrtum. Ich habe kein Fahrrad bestellt.«
»Es ist ein Geschenk. Hier…« Er hielt ihm einen dicken Umschlag hin.
Der zweite Mann hatte das Fahrrad gegen den Gartenzaun gelehnt. Jack erschien an der Tür. »Was ist denn hier los?«, fragte sie.
»Jemand hat mir ein Fahrrad geschenkt.«
Alex riss den Umschlag auf. Darin befand sich eine Gebrauchsanleitung, an der ein Brief angeheftet war.
Lieber
Alex,
wahrscheinlich wird man mich für diese Sache in der Hölle rösten,
aber die Vorstellung gefällt mir überhaupt nicht, dass du ohne jede
Unterstützung einen Einsatz planst. Das Rad ist für dich bestimmt
und ich habe schon eine ganze Weile daran gearbeitet, also kannst
du es ebenso gut jetzt schon haben. Ich hoffe jedenfalls, dass es
dir nützt.
Pass auf dich auf, mein Junge. Es wäre mir äußerst unangenehm, wenn
ich dich in einem anderen als im lebendigen Zustand wiedersehen
müsste.
Alles Gute,
Smithers
PS: Dieser Brief wird sich zwanzig Sekunden, nachdem er mit Luft in
Berührung kommt, selbst vernichten. Hoffentlich kannst du schon
schnell genug lesen!
Alex hatte gerade die letzten Wörter entziffert, da begannen die Buchstaben auch schon zu verblassen und das Papier zerfiel zu weißer Asche. Er öffnete die Hände und alles, was von dem Brief noch übrig war, wurde von der leichten Brise weggetragen. Inzwischen waren die beiden Männer wieder eingestiegen und fuhren davon. Alex blieb mit seinem neuen Bike zurück. Er blätterte in der Gebrauchsanleitung.
Luftpumpe–
Rauchbombe
Scheinwerfer–
Magnesiumfackel
Lenker– Raketenabschuss
Radfahrershirt–
kugelsicher
Hosenspangen–
Haftmagnete
»Wer ist Smithers?«, fragte Jack. Alex hatte ihr noch nie von ihm erzählt.
Alex grinste. »Ich habe mich getäuscht«, sagte er. »Ich dachte, ich hätte keine Freunde bei MI6. Sieht aber so aus, als hätte ich doch einen.«
Er schob das Rad ins Haus. Jack schloss lächelnd hinter ihm die Tür.