Zwei

Er sah sie schon von weitem vor dem Gebäude stehen. Die Sonne war lange hinter dem Horizont verschwunden, aber der Himmel war immer noch nicht vollkommen dunkel. Stück für Stück zeigten sich die ersten Sterne am Firmament. Bis jetzt waren sie nur kleine, schwache Lichter, die sich nur bei ganz genauem Hinsehen vom Graublau des Himmels abhoben. Aber schon in wenigen Stunden, würden tausende von ihnen beobachten, was in dieser Stadt vor sich ging.

Lydias schlanker Schatten zeichnete sich im schwachen Licht der anbrechenden Nacht deutlich von der Umgebung ab. Lewin fühlte, wie sein Herz wieder schneller schlug. Obwohl er bisher nur wenige Worte mit dem Mädchen gewechselt hatte, hatte sie es geschafft, sich in seinem Kopf festzusetzen. Den ganzen Tag hatte er an sie gedacht und er fühlte sich ihr so nah, wie er sich schon seit langem niemandem mehr gefühlt hatte. Wenn er sich nicht ganz dumm anstellte, dann hatte er heute vielleicht die Chance auf den Abend seines Lebens.

Lewin wusste nicht, was er erwartet hatte, als er auf Lydia zutrat, aber ihre Reaktion überraschte ihn doch. Zunächst musterte sie ihn einen Augenblick lang, so, als suche sie etwas. Dann blitzte es in ihren Augen freudig auf und sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Ein elektrisierender Stoß huschte durch Lewins Körper, bahnte sich die Nervenleitern hoch und legte dann seinen Kopf lahm. Für einen Augenblick fühlte er nichts anderes als dumpfe Zufriedenheit. Sein Gehirn schien vollständig durch weiche, feuchte Watte ersetzt worden zu sein. Erst als er merkte, dass Lydia ihn schon längst wieder losgelassen hatte, fand er langsam wieder zu sich.

Sie sah ihn fragend an. Lewin schüttelte verwirrt den Kopf und atmete schwer. Lydia lächelte.

„Das war alles ein bisschen viel, hm?!“, fragte sie.

Sie hob ihren Arm, zögerte einen Augenblick, als hätte sie Angst, ihn durch eine weitere Berührung vollends aus dem Gleichgewicht zu bringen, griff dann aber doch nach seiner Hand und zog ihn schwungvoll mit sich. „Komm. Eine kleine Unterhaltung wird dir gut tun.“

Schweigend spazierten sie eine Weile nebeneinander her, bis sie zu einer Bank in der Nähe des Waldrandes gelangten. Lydia zog aus ihrer Umhängetasche zwei Dosen Bier und ein Päckchen Zigaretten, nahm sich jeweils ihren Teil und reichte Lewin den Rest. Dann rauchten sie eine Weile schweigend.

„Ich bin froh, hier zu sein“, sagte sie. „Es gibt so vieles hier, von dem ich nicht genug bekommen kann. Das hier zum Beispiel,“ sie hob die Hand, in der sie die Bierdose hielt und nahm dann demonstrativ einen großen Schluck daraus.

Sie wandte lächelnd den Kopf und schaute Lewin direkt in die Augen. In seiner Magengegend kitzelte es. Diese Augen schienen ihn magisch an- und gleichzeitig auszusaugen. Er spürte, wie sein Kopf immer leerer wurde.

Rasch wandte Lewin den Blick ab und blickte in den dunklen Wald. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er schämte sich, denn offenbar hatte sie einen Witz gemacht, den er nicht verstand. Er konnte sich keinen Ort auf der Welt vorstellen, an dem es kein Bier gab. Selbst die Mönche in ihren Klöstern brauten Bier. Da ihm nichts anderes einfiel, was er sagen konnte, beschloss er eine Blamage zu riskieren.

„Gibt es da, wo du herkommst, kein Bier?“

Lewin war klar, dass diese Frage bescheuert war, aber bei seinem momentanen Geisteszustand war er froh, dass er sich überhaupt so gut artikulieren konnte. Verschämt zog er die Schultern hoch und wartete auf das unvermeidliche Gelächter von Lydia. Die aber schüttelte nur den Kopf.

„Nein, so etwas gibt es bei uns wirklich nicht.“ Ihr Gesicht wurde traurig. „Darum gefällt es mir hier ja so gut. Ich wäre gern öfter hier, aber leider ergibt sich das viel zu selten.“

In ihrer Stimme lag Wehmut und in Lewin brannte das dringende Bedürfnis sie aufzuheitern. „Du kannst doch jederzeit herkommen, wenn du willst. Deinen Onkel besuchen … oder mich ….“ Den letzten Teil des Satzes hatte er nur geflüstert. Aber er war sich sicher, dass sie ihn trotzdem gehört hatte, denn er fühlte, wie sie noch ein Stückchen näher an ihn heranrückte. Sie seufzte, starrte noch einen Augenblick in den Wald und musterte ihn dann ausgiebig.

„Wie geht es dir?“, fragte sie.

Im ersten Moment kam Lewin diese Frage vollkommen deplatziert vor. Sie saßen bereits eine halbe Stunde zusammen auf dieser Bank und getroffen hatten sie sich noch früher. Die Frage nach dem Befinden gehörte an den Anfang einer Unterhaltung und hätte also längst gestellt werden müssen, wenn sie von Interesse gewesen wäre. Trotzdem wusste Lewin, dass es im Grunde genommen die einzige Frage war, die Lydia jetzt hatte stellen können. Die einzige Frage, die zählte. Und als wäre das noch nicht genug, fügte sie forschend hinzu: „Du siehst irgendwie anders aus als heute Morgen.“

Lewin spürte, wie sich ein dicker Knoten in seinem Hals bildete. Er hatte den halben Tag damit verbracht, darüber nachzudenken, dass er Lydia von all den verrückten Ereignissen des Tages erzählen wollte. Aber er hatte keinen Gedanken daran verschwendet, wie er es ihr erzählen wollte.

Plötzlich wurde ihm klar, wie lächerlich das Ganze war. Wie sollte er Lydia erzählen, dass er davon überzeugt war, heute nicht nur mehrere Katzen, sondern auch einige Menschen umgebracht zu haben. Und das, ohne sie überhaupt nur zu berühren. Bei den Katzen war er sogar nicht einmal anwesend gewesen. Was hielt so ein Mädchen wie Lydia wohl von Gerede über Superkräfte? Über Macht und Unbesiegbarkeit? - Lewin konnte es sich bildlich vorstellen. Und diese Vorstellung hatte nichts mit dem Bild gemeinsam, dass er von dem Ausgang dieser Verabredung gehabt hatte. Fieberhaft dachte er nach, kam aber zu keinem Ergebnis.

Als sie keine Antwort bekam, fuhr Lydia fort Fragen zu stellen: „Was ist mit den Jungs von heute Morgen. Die, die hinter dir her waren. Sind die dir nochmal blöd gekommen?“

Lewin schüttelte den Kopf, brachte aber noch immer kein Wort über die Lippen.

„Haben sie dich in Ruhe gelassen oder hast du ihnen dieses Mal gezeigt, dass du dir nicht mehr länger alles gefallen lässt?“

Lewin hob den Kopf und sah Lydia tief in ihre unergründlichen Augen. Wusste sie etwa, was passiert war? Hatte sie vielleicht tatsächlich etwas mit den Ereignissen dieses Tages zu tun? Das war unmöglich. Lächerlich! Aber auch nicht weniger absurd, als alles andere, was er heute erlebt hatte.

Bevor er noch weiter darüber nachdenken konnte, hörte er auf einmal seine eigene Stimme, die begann, dem fremden Mädchen von den Ereignissen des Tages zu erzählen. Die Stimme berichtete ohne sein Zutun von den Katzen, dem alten Mann und dem schönen Aaron. Er konnte gerade noch die Oberhand gewinnen, bevor er ihr auch von Kneif und den merkwürdigen Beobachtungen im Haus von Galen berichtete. Er wollte nicht, dass sie dachte, er hätte den Verstand verloren. Er erwähnte nichts von Superkräften, nichts von seinem Verdacht, selbst für die Todesfälle verantwortlich zu sein. Stattdessen erzählte er ausführlicher von der weißen Flüssigkeit, die den Toten aus Augen und Mündern gelaufen war.

Lydia verzog angewidert das Gesicht, wirkte aber eher belustigt als erschrocken. „Wie meinst Du das? So, als wäre denen Milch aus den Augen gelaufen?“ Sie begann leise zu kichern und blubberte wie am Morgen, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.

„Nein, Milch ist zu flüssig. Eher so wie … wie Sahne. Ja, wie Sahne und sie schlug Bläschen. So als ließe man Sahne auf eine heiße Herdplatte tropfen“, sagte er.

Lewin redete sich jetzt in Rage. All die aufgestauten Gefühle entluden sich in einer unappetitlichen Schilderung seiner Beobachtung, die bei jedem anderen Zuhörer blankes Entsetzen ausgelöst hätte. Nicht so bei Lydia. Sie hörte interessiert zu und ließ nur hin und wieder einige Geräusche über ihre Lippen rollen, die Lewin als Mischung aus Ekel und Anteilnahme interpretierte.

Als er mit seiner Schilderung fertig war, nahm er einen großen Schluck aus seiner Bierdose, lehnte sich zurück und schaute in den Himmel. Er konnte jetzt immer mehr Sterne erkennen. Sie wurden kräftiger und leuchteten stärker. Lewin fühlte sich erschöpft und erleichtert zugleich.

„Und? Wie hat sich das angefühlt?“ fragte Lydia plötzlich.

Lewin stockte der Atem. Was war das für eine Frage? Glaubte sie etwa doch, dass er etwas mit der ganzen Sache zu tun hatte? Er hatte ihr nichts von seinem Verdacht erzählt. Warum vermutete sie nicht, wie er auch, eine Krankheit hinter den Todesfällen? Die Symptomatik, das abrupte Eintreten des Todes, das alles wies doch eindeutig auf eine Infektion hin. Jeder normale Mensch würde so etwas vermuten! Erneut keimte in ihm der Verdacht auf, dass Lydia über alles, was geschehen war, bereits bestens Bescheid wusste. Dennoch zögerte er einen weiteren Augenblick, bevor er sich dazu entschloss, alles auf eine Karte zu setzen.

„Etwas Vergleichbares habe ich noch nie gefühlt!“

Als der Satz heraus war, fühlte Lewin sich erleichtert. Die Sterne funkelten über ihm und selbst wenn Lydia das nicht verstehen konnte, war er doch froh, in diesem Moment die Wahrheit gesagt zu haben.

„Das kann ich mir vorstellen“, flüsterte sie. „Ich wünschte, ich könnte so etwas auch einmal fühlen. Ich meine so richtig.“

Lewin verstand erneut kein Wort von dem, was Lydia sagte. Die Leichtigkeit, die um sein Herz herrschte, machte es ihm ohnehin kaum möglich, sich auf etwas zu konzentrieren. „Wie meinst du das?“ Er stellte die Frage aus reiner Höflichkeit. Eigentlich interessierte ihn das, was sie gemeint hatte, nur wenig. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, ihre Nähe zu genießen, als auf das zu hören, was ihre Stimme ihm ins Ohr flüsterte.

„Was würdest du davon halten, wenn ich dir sagen würde, dass du ein Wolf bist?“

Lewin hatte keine Ahnung, was er auf eine solche Frage antworten sollte und zog es vor zu schweigen. Lydia sah ihn fragend an und er zuckte mit den Schultern. Sie seufzte.

„Gut, vielleicht ist das ein bisschen zu uneindeutig formuliert. Du bist natürlich kein Wolf im eigentlichen Sinn. Es ist vielmehr so, als würde ein Wolf in dir stecken. Ganz tief, irgendwo in deinem Unterbewusstsein verborgen.“

Lewin glotzte sie ratlos an.

„So ein Wolf steckt eigentlich in jedem Menschen. Er ist so etwas wie das Ursprüngliche im ihm. Etwas, das schon immer da war und mit dem Wesen des Menschen zusammenhängt. Ich meine, es ist ja wohl klar, dass der Mensch ein Raubtier ist. Da sind wir uns einig?“

Lewin nickte vorsichtig.

„Um überleben zu können, musste der Mensch schon immer kämpfen. Das liegt einfach in seiner Natur. Und auch, wenn die Umstände anders sind, als sie es meinetwegen noch in der Steinzeit waren, hat sich an der Natur des Menschen im Grunde doch nichts geändert. Er ist immer noch ein Raubtier und er hat immer noch den Drang in sich, zu kämpfen. Kapierst du?“

Lewin war sich nicht sicher, nickte aber erneut.

„Also, diesen Drang in dir, den kannst du jetzt Trieb oder Verlangen oder was auch immer nennen. Ich bevorzuge den Begriff Wolf, weil er das Animalische betont.“ Sie kicherte kurz. „Dieser Wolf ist nicht bei allen Leuten gleich groß und auch nicht gleich stark. Bei manchen Leuten ist der Wolf völlig verkümmert und schwach. Ich stelle ihn mir immer total abgemagert oder steinalt vor. Oder ein bisschen behindert.“

Sie kicherte erneut und verschluckte sich dabei fast an ihrem Bier. Sie hustete kurz und fuhr dann fort. „Dann kann man mit diesem Wolf natürlich nicht mehr besonders viel anfangen. Gleiches gilt für die Wölfe, die in Ketten gelegt wurden. Manche Leute spüren nämlich, dass sie so ein Tier in sich haben, fürchten sich aber davor.“

Sie lächelte, schaute verschwörerisch in Lewins immer noch fragendes Gesicht und schnaubte verächtlich, als sie keine Reaktion bekam.

„Ja was meinst du denn, weshalb es Kriege, Morde und dieses ganze Zeug auf der Welt gibt? Denkst du, es ginge bei diesen Dingen wirklich um rational vertretbare Gründe? Das ist doch alles völliger Quatsch. Schuld an allem sind die Wölfe! Irgendjemand passt mal nicht gut auf, hat sich nicht richtig unter Kontrolle und dann passiert so etwas. Und dass das nicht gut ist, kannst du dir ja wohl vorstellen.“

Lewin fragte sich, wann sie endlich zum Punkt kommen würde. Dieses Gerede verursachte ihm Kopfschmerzen. Er konnte ihr nicht folgen und eigentlich wäre es ihm lieber, sie würde endlich den Mund halten. Er wollte einfach nur ihre Nähe genießen und keine Erklärungen hören, die er nicht verstand.

Lydia aber hörte nicht auf zu reden: „So etwas muss verhindert werden. Diese unkontrollierten Ausbrüche sind schlecht! Schlecht für das Gleichgewicht eines jeden und dementsprechend auch schlecht für jeden, der innerhalb dieses Gleichgewichts existiert.“ Sie atmete tief ein und blickte in den Sternenhimmel. „Das alles hier, Lewin, ist viel größer als du dir vorstellen kannst. Ich will jetzt nicht in jedes noch so kleine Detail gehen, aber an all dem hier hängt so viel mehr. Wenn das Gleichgewicht verloren geht, endet alles früher oder später im Arsch.“ Sie wandte sich wieder ihm zu, ergriff ihn an den Schultern und schaute ihm direkt in die Augen. „Und deshalb ist es so wichtig, dass es Leute wie dich gibt! Menschen, die über so ein enormes Potential verfügen, dass sie in der Lage sind, das Gleichgewicht wieder herzustellen. Verstehst du, was ich dir hier sagen will? Du allein kannst dafür sorgen, dass alles wieder ins Lot kommt und zwar dadurch, dass du deinen Wolf endlich mal ans Licht lässt. Du hältst ihn schon viel zu lange gefangen! Dadurch konnten die Dinge doch überhaupt erst außer Kontrolle geraten.“

Sie deutete mit dem ausgestreckten Arm auf die Stadt Weiß, die sich dunkel vom sternenbeleuchteten Nachthimmel abhob.

„Siehst du denn nicht, was diese Stadt anrichtet? Sie frisst Energie! Haufenweise Energie, die sie dir und anderen wie dir entzieht. Diese Stadt ist schlecht, Lewin. Sie saugt dich aus, höhlt dich aus, bis von dir nichts mehr übrig ist als eine willenlose Hülle. Und dasselbe tut sie auch mit anderen. Du bist auserwählt Lewin! Du hast die Macht in dir, es dieser verdammten Stadt zu zeigen.“ Ihre Stimme wurde immer lauter und energischer. „Ich habe dein wahres Ich schon vor langer Zeit erkannt. Ich habe deine Macht gespürt und immer gehofft, dass du irgendwann so weit sein wirst. Aber du hast dich immer wieder zurückgezogen, hast nicht an dich geglaubt. Du hast dich versteckt und bist zu einem Schatten deiner selbst geworden. Sieh dich doch mal an. Schau wie du hier lebst. Du bist wie eine Ratte, die sich heimlich durch die Straßen stiehlt. Und genau das ist es, was diese Stadt in dir sieht. Ungeziefer! Das kann ich nicht zulassen! Leute wie ich sind dafür da, um dir den richtigen Weg zu zeigen. Um dich an die Hand zu nehmen und dich auf diesen Weg zu führen. Meine Güte, wenn es sein muss, dann gehen wir sogar ein Stückchen mit dir, damit du nicht so allein bist. Aber alles, was dann passiert, liegt nur in deiner Macht.“

Lewin begriff noch immer nicht, worauf Lydia hinauswollte und langsam begann er, an ihrem Verstand zu zweifeln. Lydia schien zu ahnen, was in ihm vorging und resigniert zuckte sie mit den Schultern.

„Was glaubst du denn, weshalb all das heute passiert ist? Es gibt dafür nur eine einzige logische Erklärung. All diese Menschen sind gestorben, weil du es wolltest. Du hast diese besondere Macht, Lewin, also nutze sie gefälligst. Ich sehe, dass es Dir schwerfällt zu begreifen, was hier los ist, aber glaube mir, um dich selbst zu retten, gibt es keinen anderen Weg. Um mich zu retten, gibt es keinen anderen Weg.“

Lewin räusperte sich. „Wer … wer bist du denn?“

Lydia lächelte. „Ich bin deine Freundin, Lewin. Ich bin ein Teil von Dir. Wir sind füreinander bestimmt. Schon immer gewesen. Das musst du doch gemerkt haben …“

Lewin hatte es gemerkt. Er hatte das Gefühl nicht eindeutig identifizieren können, aber es kam nicht von ungefähr, dass er den ganzen Tag über immer wieder an Lydia hatte denken müssen. Er hatte sich bei ihr so wohl gefühlt, ihr vertraut und innerlich gespürt, dass sie ihm eine Antwort auf all seine Fragen geben konnte. Auch wenn er diese Antwort jetzt nicht verstand.

„Ich passe auf dich auf. Ich war lange weg, wollte sehen, ob du allein klarkommst. Aber jetzt bin ich wieder da. Und wie gesagt, ich helfe dir auf den richtigen Weg.“ Sie überlegte einen Augenblick und fügte dann hinzu: „Hast du noch die Münze?“

Lewin stutzte. Dann griff er in seine Hosentasche und zog die Münze hervor, die ihm im Laden des Rollascheks aus der Tasche gefallen war. Als er sich vorhin eine neue Jeans angezogen hatte, hatte er einfach alle Gegenstände, die sich in seiner zerrissenen, schmutzigen Hose befunden hatten, achtlos auf die neuen Taschen verteilt. Zu seiner Verwunderung musste er nun feststellen, dass es sich bei der Münze um kein normales Geldstück handelte. Sie war nicht richtig rund, sondern wirkte an den Ecken abgekaut oder abgeschlagen. Sie war auch nicht aus gewöhnlichem Metall, sondern aus irgendeinem anderen Material, dass er nicht kannte. Außerdem war die Münze viel schwerer, als ein gewöhnliches Geldstück. Wieso war ihm das nicht bereits heute Morgen aufgefallen?

„Diese Münze brauchst du jetzt nicht mehr. Ich habe sie dir sozusagen untergeschoben. Sie ist praktisch … eine Art Verstärker … für deine Kräfte.“

Lewin hatte Lydias Zögern bemerkt. Etwas stimmte hier nicht. Er war sich nicht sicher, ob sie ihm die Wahrheit sagte. Je länger er die Münze betrachtete, desto größer wurden die Zweifel in ihm. Irgendwie kam ihm dieses Geldstück so verdammt bekannt vor. Er hob die Hand und versuchte im Licht der Sterne, etwas von der Inschrift zu erkennen, die sich auf der Münze befand. Er hatte das Gefühl, dass diese Buchstaben wichtig sein könnten. Aber noch bevor er etwas entziffern konnte, nahm Lydia ihm die Münze aus der Hand und ließ sie in ihrer Tasche verschwinden. Als Lewin protestieren wollte, beugte sie sich plötzlich vornüber und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen.

Augenblicklich stockte Lewin der Atem und sämtliche Gedanken an die mysteriöse Münze wurden ausgeblendet. Auch wenn der Kuss nur eine winzige Sekunde dauert, kam er Lewin wie eine Ewigkeit vor. Er hätte sich darin verlieren können.

Lydia lehnte sich mit einem Lächeln auf den Lippen zurück.

„Und? Was meinst du?“

Lewin schaute sie fragend an. Er hatte keinen Schimmer, worauf sie hinauswollte. Sein Kopf war vollkommen leer.

„Machst du es?“ Sie nickte ihm zu. „Bist du bereit, all dem hier ein Ende zu machen?“ Sie lächelte und fügte dann flüsternd hinzu: „Für mich?“

Lewin nickte langsam. Es war ihm egal. Dieses Mädchen hatte sich vollkommen seines Willens bemächtigt und er hatte keine Wahl. Es war, als hätte der Kuss seine Fähigkeit zu denken betäubt. Was wusste er schon von Wölfen und Mächten. Er hatte keine Ahnung was heute passiert war und er hatte auch kein Wort von dem verstanden, was Lydia ihm zu erklären versucht hatte. Was kümmerte ihn schon, ob er verstand, was hier vor sich ging. Ihm ging es besser als vorher, also zum Teufel mit der Begründung. Er wusste nicht, wann er sich das letzte Mal so gut gefühlt hatte und das wollte er verdammt nochmal genießen. Ob er dafür nun von einem Wolf gefressen wurde oder nicht. Alles, was er wollte, war Lydia zu gefallen. Koste es, was es wolle.

Lydia lächelte siegessicher und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. „Ich würde sagen, wir rauchen noch eine und dann gehen wir los.“