Acht
Als Lewin die Augen öffnete, fühlte er sich, als könnte er Bäume ausreißen. Durch seine Adern pulsierte eine angenehme Wärme, die ihm Vitalität verlieh. Das Adrenalin strömte durch seinen gesamten Körper, seine Hände zitterten leicht vor Erregung, aber das störte ihn nicht, denn das Gefühl war angenehm. Sein Kopf war federleicht und in seiner Brust schienen Schmetterlinge umherzufliegen, er fühlte sich kribbelig und geradezu euphorisiert. Einzig die Bisswunde an seiner Seite schmerzte. Es war kein schlimmer Schmerz, nur ein unangenehmes Pochen. Lewin vermied es trotzdem, sich die Wunde anzusehen. Er fühlte sich zu gut, als dass er sich jetzt einer blutigen Bisswunde aussetzen wollte, nach deren Anblick er sich vielleicht übergeben musste.
Kneif lag ein paar Meter von ihm entfernt mit dem Gesicht nach unten auf dem Waldboden. Seine Glieder waren weit von ihm gestreckt und sein Shirt war jetzt klitschnass von seinem Schweiß. Lewin ging langsam auf ihn zu und griff sich auf dem Weg einen langen, dünnen Stock aus dem knöchelhohen Gras.
Als er den reglosen Körper herumdrehte, wusste er, welcher Anblick ihn erwarten würde. Dementsprechend war die einzig sichtbare Reaktion nur ein angewidertes Kräuseln der Lippen. Kneifs Gesicht war aufgedunsen, seine Augen starrten weit aufgerissen und blutunterlaufen in die Leere. Neben den zahllosen Sommersprossen war sein Gesicht besudelt von Lewins Blut. Das Stück Fleisch, dass er Lewin herausgerissen hatte, war ihm aus dem Mund gefallen und lag ein paar Schritte entfernt. Lewin zwang sich dazu, es nicht anzusehen. Aus Kneifs Nase, Mund und Augen lief die weiße, milchige Flüssigkeit, die hier und da ein kleines Bläschen bildete und sich mit dem Blut vermischte.
Nachdem er den leblosen Körper eine Weile betrachtet hatte, nahm Lewin einen süßlichen, leicht schwefeligen Geruch wahr, den der tote Kneif verströmte. Wie auch bei der Katze am Morgen, brannte dieser Geruch in Lewins Nase. Trotzdem fuhr er fort, den Leichnam zu untersuchen. Er hob Kneifs schweißnasses T-Shirt an und stellte fest, dass an seinem gesamtem Oberkörper Adern geplatzt sein mussten. Auf seiner Haut zeichneten sich mehrere große und kleine blaurote Flecken ab. Lewin versuchte sich zu erinnern, ob Blutergüsse, sich nach dem Tod wieder zurückbildeten oder ob sie den Körper eines Toten für immer zierten.
Er ließ das Shirt sinken und legte sich neben Kneif auf den Boden, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Er blickte in die sich wiegenden Baumkronen und merkte wie sein ganzer Körper sich immer mehr entspannte. Dann begann er nachzudenken. Es gab keine mysteriöse Krankheit, keine Seuche, kein Virus, keine Epidemie. Kneif und der alte Mann, der schöne Aaron und die verdammten Katzen – das alles war er selbst gewesen. Oder besser, dieses Gefühl in ihm. Tief in sich drinnen hatte er etwas Ähnliches sicher schon die ganze Zeit vermutet, denn sonst wäre er wegen dieser Krankheit schon viel früher durchgedreht. Zwar hatte er keinen Schimmer, wie es dazu gekommen war, aber offensichtlich war er jetzt in der Lage dazu, sich zu rächen. Es den Leuten heimzuzahlen, die ihn bedrängt oder das Leben zur Hölle gemacht hatten. Es war fast so, wie Lydia es am Morgen gesagt hatte. Und er hatte endlich begonnen sich zu wehren!
Eine winzige Sekunde lang blitzte in Lewin ein bohrender Funke seines Gewissens auf. Er war dafür verantwortlich, dass diese Leute tot waren. Er war ein Mörder, ob nun beabsichtigt oder unbeabsichtigt. Dieses Gefühl war unangenehm. Aber dann beruhigte er sich selbst schnell wieder. Er hatte nicht vorgehabt, den alten Mann oder den schönen Aaron zu töten. Etwas hatte die Kontrolle über ihn übernommen und er hatte keine Chance gehabt, sich zu wehren. Er hatte ja nicht einmal gewusst, was geschah. Sicher war die Sache bei Kneif eine andere, aber wenn diese Dinge ohnehin passierten und unvermeidbar waren, dann konnte er sie schließlich auch genauso gut genießen und in Gänze auskosten. Sich Kneifs zu entledigen war ein Wunsch, an dessen Geburtsstunde er sich nicht einmal mehr erinnern konnte und wer wollte es ihm da verübeln, dass er den Augenblick, in dem dieser Wunsch endlich in Erfüllung ging, aus tiefstem Herzen genoss? Und wenn man es genau nahm, würde um diesen Parasiten ohnehin niemand wirklich trauern. Er jedenfalls wollte sich nicht runterziehen lassen.
Jetzt war seine Zeit gekommen. Zwar konnte er sich nicht erklären, woher diese Kraft in ihm stammte, aber sie war da und sie fühlte sich gut an, jetzt, da er ihr den Raum gab, den sie brauchte. Jetzt, da er sich fallen ließ und nicht länger kontrollierte. Nun konnte er die Dinge endlich selbst in die Hand nehmen. Er brauchte sich nicht länger zu verstecken, an Häuserwände zu drücken und nur noch in den heißesten Stunden des Tages umherirren. Wenn die Anderen erst wussten, welche Macht er nun hatte, würden sie alles tun, um in seiner Gunst zu stehen.
Lewin richtete sich auf. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu. Er wusste, dass es noch viel zu früh war, aber er wollte jetzt zu Lydia. Er spürte, dass das unbekannte Mädchen etwas mit dieser ganzen Sache zu tun hatte. Bevor er sie getroffen hatte, war er ein ganz normaler Typ gewesen, der sich vor ein paar Schlägern in Acht nehmen musste, aber seitdem sie ihm gesagt hatte, dass er sich um die Dinge kümmern musste, die ihn quälten, hatte sich die Gesamtsituation vollkommen verändert. Er musste sie suchen und mit ihr sprechen. Wer wusste schon, ob diese geheimen Kräfte nicht eine ihm bislang unbekannte Schwäche mit sich brachten.