Der schöne
Aaron
Dieser Junge war wahnsinnig gutaussehend und in Weiß überaus beliebt. Alle Menschen mochten ihn, aber niemand kannte ihn. Zumindest nicht richtig.
Sein Gesicht war perfekt und makellos und ebenso verhielt es sich mit der Täuschung, die er aufgrund dieses Aussehens aufrechterhalten konnte. Die braunen Locken, die die zarte Blässe seines ebenmäßigen Gesichts unterstrichen, erinnerten an die Bilder großer Maler. Ich glaube wirklich, dass man Aaron in jeder beliebigen Kirche an die Decke hätte nageln können und dadurch in Sekundenschnelle das Flair der Sixtinischen Kapelle heraufbeschworen hätte.
Weil er so schön war, stellten die Leute Aaron keine Fragen. Jeder genoss es, ihn anzusehen und sich in seiner Gegenwart aufzuhalten, weil man sich bei diesen Gelegenheiten in seinem Glanz sonnen konnte. Und wer konnte sich schon sicher sein, dass von diesem nicht vielleicht sogar etwas auf einen selbst abfärbte? Alle Menschen wollen schließlich besser sein, als sie in Wirklichkeit sind. Sich ein bisschen schöner, ein bisschen klüger, ein bisschen begehrter fühlen. Teufel auch, manche wären sogar bereit ihre Seele zu verkaufen, nur um etwas mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.
Aaron war Künstler. Der einzige in Weiß und dabei kein besonders guter. Trotzdem war er durchaus erfolgreich, denn die Leute kauften seine hässlichen Bilder, ohne auf deren Qualität zu achten. Sie wollten ihn unterstützen und sich etwas in ihr Wohnzimmer hängen, von dem sie wussten, dass seine zarten Hände es berührt hatten. Die Leute hier besaßen keinen Kunstverstand, sie verfügten ja nicht einmal über Geschmack, aber etwas Besseres hätte Aaron nicht passieren können. Die Leute beteten ihn und seine Bilder an und er konnte seiner sogenannten Kreativität freien Lauf lassen.
Jetzt stellt sich natürlich die Frage, aus welchem Grund dieser zarte Künstler mit den schmeichelnden Augen in meiner Geschichte überhaupt auftaucht. Immerhin scheint er, beispielsweise im Vergleich zu Kneif, doch eher von harmloser Natur zu sein. Dieser Vorstellung aber gilt es aufs Dringlichste zu widersprechen. Aaron war nicht harmlos. Er war ein Sohn des Teufels, dessen Boshaftigkeit sich in seinem engelsgleichen Gesicht manifestierte, sodass sie für jedermann zu sehen war und trotzdem unentdeckt blieb.
Der hübsche Künstler ernährte sich nämlich von der Liebe anderer Leute.
Das mag auf den ersten Blick nicht besonders gefährlich klingen. Jeder, der schon einmal von einem anderen Menschen bewundert wurde, kann wohl nachvollziehen, dass sich aus diesem Gefühl schnell ein gewisser Rausch entwickeln kann. Aber bei Aaron war das anders. Aaron war regelrecht süchtig nach Liebe und setzte alles daran, dieses Gefühl in anderen Menschen hervorzurufen. Hatte er dieses Ziel erreicht, versuchte er die Bewunderung und Hingabe des anderen bis aufs Äußerste zu steigern. Er verführte die jungen Mädchen, machte ihnen hübsche Augen und Geschenke, bezeichnete sie als seine Musen, bis sie ihm völlig verfielen und sich kaum noch an den eigenen Namen erinnern konnten. In Weiß gab es kaum ein Mädchen, dass nicht schon einmal Modell für ihn gestanden hatte und dem er anschließend nicht erzählt hatte, wie unwahrscheinlich inspirierend gerade diese Sitzung gewesen sei. Er brachte sie dazu, sich ihm hinzugeben, ihren Körper und ihre Seele zu entblößen, bis sie vollkommen schutzlos waren. Er labte sich an der Bewunderung in ihren Augen und erfrischte sich an ihrer Unverdorbenheit. Viele von ihnen hätten auf der Stelle Vater und Mutter verkauft, nur um eine weitere Stunde in seiner Nähe verbringen zu können.
Aaron nahm ihnen die Unschuld und wenn er sie ausgesaugt hatte, ließ er sie fallen wie ein schmutziges Papiertaschentuch. Danach weinten die Mädchen sich die Augen aus, konnten zu ihrem Unglück aber nicht umhin, den verlogenen Schönling weiterhin zu bewundern. Zurück blieben ausgebrannte Seelen, unvermögend die eigenen Gefühle zu kontrollieren und ihre Würde zu bewahren, da sie sich ihm immer wieder aufs Neue zu Füßen werfen mussten.
Ich bin kein Rächer der Betrogenen, das war ich nie und werde ich auch niemals sein. Meine Motive sind in erster Linie selbstsüchtig und die Entscheidung, Aaron an diesem Tag einen Besuch abzustatten, hatte nicht viel mit den unglücklichen Mädchen zu tun, die ihr Herz an diese giftige Schlange verschenkt hatten. Mein Interesse an Aaron gründete vielmehr in seiner Freundschaft zu Simon, Kneif und den Anderen. Die abwertenden Blicke, die er mir zuwarf, wenn ich ihm irgendwo begegnete, trafen mich so manches Mal härter als jeder Schlag von Kneif es vermocht hätte. Dem schönen Jungen, der so sehr darauf bedacht war, dass alle ihn mochten, waren meine Gefühle ihm gegenüber vollkommen egal.
Ich habe keine Ahnung, was die Anderen ihm über mich erzählt hatten, aber dass er es offenbar glaubte, war das Schlimmste für mich.
Ich musste doch eine Chance bekommen, mich zu verteidigen.