Acht
Er stieß das kleine Gartentürchen mit einer solchen Wucht auf, dass die rostigen Scharniere protestierend quietschten.
Obwohl er jetzt nur noch wenige Meter von dem alten Mann entfernt war, war Lewins Laune immer noch erstaunlich gut. Er fühlte das Leben in seinem Körper pulsieren und der Gedanke an Lydia und ihre langen, dunklen Haaren brachte ihn dazu, sich unglaublich leicht zu fühlen. Heute würde er sich von dem Alten nichts gefallen lassen. Heute konnte der hässliche Kerl seine Laune nicht ruinieren, denn heute würde er ihm zeigen, wie es in Zukunft zu laufen hatte.
Wenn man sich nicht wehrt, wird sich auch nichts ändern – da hatte Lydia wirklich verdammt recht!
Lewin öffnete die Wohnungstür und ging zuerst nach rechts ins Badezimmer, um sich dort gründlich die Hände zu waschen. Der Gedanke, dass die Bakterien oder Viren, die diese fette Katze zerfressen hatten, sich auf seinem Körper festsetzten, bereitete ihm Sorgen. Selbst wenn sie ihm vielleicht gar nicht gefährlich werden konnten. Schließlich gab es Krankheiten, die nur Tiere befielen. Aber Vorsicht war in dem Fall vermutlich besser als Nachsicht.
Nachdem die Haut an seinen Händen rot und heiß war, machte er sich auf den Weg in die Küche, um das Essen für den Alten vorzubereiten. Grauer Haferbrei, wie jeden Tag. Das einzige, was der Greis überhaupt noch verdauen konnte. Als er die graue Pampe langsam auf den Teller tropfen ließ, verzog sich Lewin Gesicht voller Ekel. Nein, heute würde er sich nichts gefallen lassen. Dafür fühlte er sich viel zu gut, das würde er sich nicht kaputtmachen lassen. Ab heute würde eine neue Zeitrechnung in Weiß beginnen. Er, Lewin, würde aus dem Schatten treten und endlichen die verdammten Zügel in die Hand nehmen. Auch wenn er noch nicht genau wusste, wie er das anstellen sollte.
Langsam stieg er die Stufen in den ersten Stock hinauf. Vor der Zimmertür des Alten blieb er kurz stehen und atmete zweimal tief ein und aus. Bereits hier im Flur war die Luft unwahrscheinlich schlecht. Er konnte ihn schon hier spüren, den Duft von vergorener Milch und das salzige Aroma schmutziger Wäsche. Nach einem weiteren tiefen Atemzug öffnete er schließlich schwungvoll die Tür.
Die warme stickige Luft drückte sich ihm wuchtig entgegen und es fühlte sich an, als würde sie sich wie ein klebriger Film auf seine Haut legen und ihm dabei sämtliche Poren verstopfen. Er spürte, wie seine Nackenhaare sich aufrichteten und es in seinem Hals zu kratzen begann..
Lewin warf einen raschen Blick durchs Zimmer. Die Vorhänge waren zugezogen, was einem Geschenk glich. Die halbdunklen Schatten legten sich wie ein erbarmungsvoller Schleier über den Inhalt dieses Zimmers. Der Alte saß wie gewohnt auf seinem Stuhl und kippelte langsam vor und zurück. Seine Augen waren halb geschlossen und blickten ins Leere. Das strähnige weiße Haar fiel auf die nackten, käsigen Schultern; der Unterleib war lediglich in ein weißes Laken gehüllt. Die Füße steckten in ausgetretenen Pantoffeln.
Lewin wollte gerade den ersten Schritt in das Zimmer setzen, als er neben sich ein zischendes Fauchen hörte. Er kniff die Augen zusammen, um im Halbdunkeln besser sehen zu können und entdeckte dann den blinden Kater des Alten, der sich neben ihm an die Wand presste. Sein Schwanz ragte kerzengerade in die Luft und sein Rücken war so stark gekrümmt, dass Lewin allein der Anblick wehtat. Die blinden Augen des Katers glitten unruhig hin und her und aus dem weit aufgerissenen Maul drangen immer wieder vorsichtig murrende und zischende Laute.
Was war nur in dieses Vieh gefahren? Zwar war Lewin es gewohnt, dass Katzen ihn nicht leiden konnten, aber eine derart heftige Reaktion hatte er selbst von diesem Exemplar noch nie zu Gesicht bekommen. Vielleicht konnte er spüren, dass Lewin noch vor wenigen Minuten dem Tod eines seiner Artgenossen beigewohnt hatte.
Einen Augenblick lang überlegte Lewin, wie er sich verhalten sollte, denn er wollte das Tier nicht noch weiter reizen und dadurch einen Angriff provozieren. Sein Körper war malträtiert genug, brennende Katzenkrallen auf seiner Haut erschienen ihm daher nicht sehr verlockend. Schließlich entschloss er sich, den Kater zu ignorieren. Mit vorsichtigen Bewegungen schritt er an ihm vorüber und auf den alten Mann zu. Der Kater erkannte seine Chance instinktiv und versuchte mit einem hastigen Sprung, zur Tür hinaus zu fliehen. Er musste sehr verwirrt sein, denn normalerweise bewegte er sich auch mit seiner Blindheit absolut sicher. Jetzt aber taumelte er und stieß mit dem Schultergelenk an den Türrahmen. Schwankend trippelte das Tier wieder ein paar kleine Schritte zurück, schüttelte den Kopf, wartete einen kleinen Augenblick, als würde es seine Sensoren neu ausrichten und huschte dann davon.
Lewin seufzte. Nun musste er sich, nachdem er sich um den Alten gekümmert hatte, noch auf die Suche nach dem Kater machen und sich aller Voraussicht nach die Arme zerfleischen lassen. Er ballte die Fäuste und spürte wie es in seiner Magengegend zu kribbeln begann. Der verdammte Kater machte ihn eindeutig wütend.
Mit wenigen Schritten überbrückte er die noch verbliebene Distanz und erreichte den alten Mann. Es schien ihm, als wäre der beißende Geruch des Greises heute noch schlimmer als sonst. Tränen stiegen ihm in die Augen und er unterdrückte ein kleines Würgen. Lewin begab sich in die Hocke und hielt seine Augen dabei starr auf den Teller gerichtet. Er begann, dem Alten die zementartige Masse langsam in den Mund zu schieben und die schmatzenden und schlürfenden Geräusche dabei so gut es ging zu ignorieren. Aus irgendeinem Grund aber wollte ihm das heute nicht so gut wie sonst gelingen. Das Schmatzen wurde in seinen Ohren immer lauter, schien plötzlich den ganzen Raum zu erfüllen und dabei mit einem gigantischen Vorschlaghammer immer wieder auf seine Schläfen einzuhämmern. Auch der Geruch wurde schlimmer, biss ihn in die Nase, brannte in seinen Augen, verklebte seine Luftröhre, sodass er kaum atmen konnte. Vielleicht lag es an der sengenden Hitze oder daran, dass Kneif und die Anderen ihm so zugesetzt hatten, aber er konnte sich beim besten Willen nicht auf seine Aufgabe konzentrieren. Sich in diesem Zimmer aufzuhalten bedeutete für ihn gerade mehr als nur Pein und Lewin merkte, wie sich das wütende Kribbeln in seinem Bauch immer weiter ausdehnte. Wie es stärker und bestimmender wurde. Obwohl er wusste, dass er es bereuen würde, richtete Lewin seinen Blick auf das Gesicht des Alten.
Die trüben Augen blickten stumpf vor sich hin, die Kiefer bewegten sich in ruckartigen Bewegungen auf und ab, die faltigen Wangen zogen sich mechanisch wieder und wieder zusammen, um das Essen den Schlund hinabzubefördern. Aus dem Mundwinkel des Alten tropfte gräulicher Speichel, der an seinem Kinn einen milchigen Faden auf seine Brust herunter entstehen ließ.
Lewin verzog angewidert das Gesicht. Dieser alte Mann war wirklich das Erbärmlichste und Widerlichste, was er jemals gesehen hatte. Er merkte, wie ihn das trockene Würgen im Hals kitzelte. Lewin wusste nicht, ob es die Wut in seinem Bauch oder der Anblick des Greises war, aber etwas zwang ihn, plötzlich von seinem Stuhl aufzustehen und sich ein paar Schritte von dem alten Mann zu entfernen. Er konnte sich nicht länger beherrschen, das Kribbeln wurde zu stark und er hatte bereits zum zweiten Mal an diesem Tag das Gefühl, als würden sich tausende von Ameisen in seinem Körper auf und ab bewegen.
Was war nur los? Er war mit der Fütterung noch nicht fertig und gewaschen hatte er den Alten ebenfalls noch nicht. Lewin versuchte sich zu beruhigen, aber er schien keine Kontrolle mehr über sie zu haben. Sein Atem beschleunigte sich und plötzlich begann es, ihn am ganzen Körper zu jucken. Seine Haut brannte und fühlte sich viel zu klein für seinen Körper an. Wie ein Karnevalskostüm aus dem letzten Jahr, das nicht mehr richtig passte. Das Kribbeln in seinem Bauch wurde immer stärker, seine Arme juckten wie verrückt und er kratzte sich so lange, bis auf seiner Haut rote Striemen erschienen. Entsetzt starrte Lewin auf seine Arme, während die Wut in ihm immer stärker wurde.
Dann begann er zu schreien.
Er spie dem Alten die Worte ins Gesicht, beschimpfte ihn und verfluchte ihn. Er beschimpfte seine Mutter, sein Leben, die Stadt und zum Schluss brachte er gar keine Worte mehr hervor, sondern schrie einfach nur noch, als würde ihm soeben bei lebendigem Leib die Haut vom Fleisch gezogen. Das ganze Zimmer füllte sich mit seiner eigenen Stimme, die so laut in Lewins Schädel dröhnte, dass es in seinen Ohren zu klingeln begann. Dabei fühlte er, wie das Kribbeln in seinem Körper immer schwächer wurde. Der Druck in seinem Kopf begann sich zu lösen und das Atmen fiel ihm wieder leichter. Nach ein paar Augenblicken machte ihm das Ganze richtiggehend Spaß und er wunderte sich, weshalb er etwas derartiges nicht schon viel früher versucht hatte.
Eine Minute später war das unangenehme Gefühl in seiner Magengegend vollständig verschwunden und auch die Übelkeit war nicht mehr da. Seine Haut juckte und brannte nicht mehr, sondern fühlte sich stattdessen angenehm kühl an. Lewin hörte auf zu schreien. Seine Kehle war trocken und heiß. Er musste dringend etwas trinken.
Sein Blick fiel auf den alten Mann. Die dunklen Vorhänge ließen nicht viel erkennen, aber seine trüben Augen starrten noch immer teilnahmslos ins Leere. Aus seinem halb geöffneten Mund tropfte derselbe stetige Strom zähflüssigen Speichels, der in dem Licht, das durch die geöffnete Tür fiel, beinahe harmlos glitzerte. Mit einer ruckartigen Bewegung wandte Lewin sich ab und verließ das Zimmer. Er konnte ihn jetzt nicht waschen, er musste aus seiner Nähe verschwinden. Er fühlte sich viel zu gut, um sich weiter mit diesem verwesenden Greis zu beschäftigen. Dieser Wutausbruch, so überraschend er auch gekommen war, hatte ihn motiviert.
Lewin war jetzt vollkommen klar im Kopf. Die Hitze und die stickige Luft, die noch immer aus dem Zimmer des Alten drangen, schienen ihm nichts mehr auszumachen. Seine Glieder fühlten sich federleicht an. Einzig seine Niere schmerzte noch.
Ohne noch einen einzigen Blick auf den Mann im Schaukelstuhl zu werfen, zog Lewin die Tür zu und begab sich nach unten. Wieso hatte er das nicht schon früher gemacht? Auf seinem Gesicht lag ein zufriedener Ausdruck und seine Lippen umspielte ein leises Lächeln. Soeben war ihm eine interessante Idee gekommen.