Zwei
Lewin schloss die Augen. Um ihn herum begann sich alles zu drehen und in seinem Inneren stieg rauchige Übelkeit nach oben. Das Nikotin wirkte noch immer, aber was sich vor wenigen Minuten noch angenehm und entspannend angefühlt hatte, ließ ihn nun plötzlich torkeln. Er schluckte, zählte langsam bis zehn und öffnete dann wieder die Augen. Der Platz vor dem Gartentürchen war leer, auf der Straße war keine Menschenseele zu sehen.
Eine Halluzination!
Lewin stürzte ans Fenster und riss nur einen Moment später die Tür auf. Mit drei schnellen Schritten war er an der Gartentür und stierte die Straße hinauf. Nirgendwo war eine Spur von dem Mädchen zu entdecken, das er noch vor wenigen Sekunden vor der Tür gesehen hatte. Lewin schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. So langsam drehte er durch. Die Hitze und die merkwürdigen Ereignisse des Tages führten offenbar dazu, dass er unter Halluzinationen zu leiden begann. Es war absolut unsinnig, dass das kleine Mädchen ihn verfolgt hatte. Erstens war er viel zu schnell gerannt, als dass sie mit ihm hätte mithalten können und zweitens gab es verdammt nochmal keinen Grund für sie, ihm zu folgen. Er kannte das Mädchen nicht und folglich war es unwahrscheinlich, dass sie ihn kannte. Er musste sich wieder zusammenreißen und damit anfangen, einen kühlen Kopf zu bewahren.
Kopfschüttelnd begab er sich zurück ins Haus und rauchte eine weitere Zigarette, als ihm erneut einfiel, dass er vorgehabt hatte, nach dem Alten zu sehen.
Fluchend sprang er auf und ließ dabei die Zigarette fallen, die er soeben noch in der Hand gehalten hatte. Die glühende Asche landete auf seinem Bein und zwar genau dort, wo die Schlägerei mit Kneif ihm am Morgen die Hose zerrissen hatte. Lewin jaulte auf und begann mit abgehackten Bewegungen auf sein Bein einzuschlagen. Nach ein paar Augenblicken merkte er, dass es nichts mehr gab, worauf er einschlagen musste. Die Asche glühte längst nicht mehr. Auf seiner nackten Haut waren jetzt nur noch ein paar graue, schmutzige Streifen zu sehen.
Lewin leckte seinen Finger an und wischte die Asche von seinem Bein. Dabei stellte er fest, dass der Kratzer, den er am Morgen noch genau an dieser Stelle gehabt hatte, vollständig verschwunden war. Wie war das möglich? Ungläubig rubbelte Lewin über sein Bein, bis die Haut rot wurde und brannte. Hatte er sich nicht heute Morgen noch wegen eben dieser Verletzung übergeben? Es mussten die Lichtverhältnisse gewesen sein. Die Aufregung wegen der Schlägerei und das plötzliche Auftauchen von Lydia. Er musste seinen körperlichen Zustand einfach völlig falsch eingeschätzt haben. Auch sein Gesicht war ja weitaus weniger versehrt, als er gedacht hatte.
Lewin kratzte sich am Kopf, warf die Kippe in den Aschenbecher und erhob sich. Er musste wirklich aufpassen, bei all dem nicht den Verstand zu verlieren.
Der beißende Geruch schlug ihm bereits am oberen Ende der Treppe entgegen. Erschrocken stellte er fest, dass die Tür zum Zimmer des Alten nicht verschlossen war. Dabei war er sich sicher, dass er die Tür beim Verlassen des Raumes hinter sich zugezogen hatte. Das war bereits eine Art Automatismus, der dem Selbstschutz gegenüber einer mehr als unangenehmen Geruchsbelästigung geschuldet war. Die Wut auf den alten Mann musste ihn derart benebelt haben, dass er selbst die einfachsten Vorgänge nicht mehr problemlos hatte bewältigen können.
Vorsichtig näherte er sich der halb geöffneten Tür und schob sie langsam auf. Der beißende Geruch wurde noch schärfer und Lewin spürte, wie sich ein klebriger Kloß in seinem Hals bildete. Er holte tief Luft und betrat das Zimmer.
Der Alte saß noch immer im Stuhl vor dem Fenster, vom Kater war keine Spur zu sehen. Mit bedächtigen Schritten ging Lewin auf den alten Mann zu und hielt dabei ununterbrochen die Luft an. Der Greis rührte sich nicht. Sein Kopf ruhte auf dem nackten Oberkörper; die fettigen Haare glänzten im Licht, das durch die geöffnete Tür hereinfiel und von irgendwoher ereilte Lewin das dumpfe Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte.
„Hallo?“
Lewins Stimme schaffte es kaum, sich den Weg durch die dicke Luft zu kämpfen. Mit weichen Knien schob er sich langsam durch das Zimmer.
„Schläfst du?“
Keine Reaktion.
Lewin streckte widerstrebend die Hand aus und berührte den Alten an der Schulter. Seine Haut fühlte sich unangenehm kalt und schmierig an. Auf seinem Körper schien eine Art Film zu liegen, den Lewin auf die Hitze und die Versäumnis der Wäsche am Morgen zurückführte. Er unterdrückte den ersten Impuls, die Hand wieder zurückzuziehen und rüttelte stattdessen leicht an der Schulter des Mannes. Wenn der Alte eingeschlafen war, wurde es jetzt Zeit für ihn aufzustehen.
Der Kopf des Greises rollte über den faltigen Brustkorb, als wäre er an einer Schnur und nicht an einem stabilen Knochengerüst befestigt. Lewin schauderte, überwand sich aber dennoch und schob den Kopf des Alten vorsichtig in den Nacken. Als er in das zum Vorschein kommende Antlitz blickte, begann es in seinen Ohren zu rauschen. Er hörte sein eigenes Blut pulsieren und schluckte schwer.
Das Gesicht des Greises war unnatürlich verzogen, die Falten und Furchen wirkten noch tiefer als sonst und der Ausdruck in seinen glasigen Augen erinnerte Lewin an kleine Schweine, die begriffen, dass ihre letzte Reise auf einen Schlachthof geführt hatte. Das Schlimmste aber war die weiße Flüssigkeit, die seinen Augen geflossen und mittlerweile größtenteils eingetrocknet war. Unter seinen Nasenlöchern konnte Lewin ebenfalls Reste dieses Zeugs erkennen.
Entsetzt stolperte er ein paar Schritte zurück. Sie war hier! Die Krankheit war hier! In seinem eigenen Haus und er hatte einen Infizierten direkt angefasst!
Lewin stürzte ins Badezimmer und übergab sich in die Kloschüssel. Die Welt vor seinen Augen begann sich zu drehen und er konnte nicht aufhören zu würgen. Verdammte Scheiße, er musste jetzt endlich etwas unternehmen, wollte er nicht Gefahr laufen, so zu enden wie die anderen.
Lewin unterdrückte das nächste Würgen, wartete einen Augenblick und trat dann zitternd ans Waschbecken. Sein Kopf dröhnte und er zog eine weitere Tablette aus seiner Hosentasche.
Er musste sich verstecken.
Während er die Tablette hastig hinunterspülte, überlegte er fieberhaft, wo er sich in dieser Stadt verstecken konnte, um sich der Gefahr dieses Virus' nicht länger aussetzen zu müssen. In Gedanken ging er alle möglichen Orte durch, verwarf aber jeden von ihnen sofort wieder, bis ihm schließlich die Idee kam, dass der Wald womöglich der einzig sichere Ort in dieser Stadt war.
Dorthin verirrte sich selten jemand aus Weiß und er konnte es dort locker eine ganze Weile aushalten. Dort kannte er sich aus, konnte sich verstecken und abwarten, wie die Dinge sich entwickelten. Er dachte an die Verabredung mit Lydia am Abend und zögerte. Sollte er zu dem Mädchen gehen und sie warnen?
Wenn er sie wirklich mochte, wäre das eine ganz natürliche Reaktion, aber etwas ihn ihm sträubte sich gegen diese Vorstellung. Wenn man es genau nahm, hatten all die merkwürdigen Ereignisse erst angefangen, nachdem er diesem Mädchen begegnet war. Das sollte nicht heißen, dass er sie beschuldigte, aber Lewin hatte keine Ahnung, woher die schöne Unbekannte so plötzlich gekommen war. Sie hatte einen ihm unbekannten Akzent, nach dem er sie nicht gefragt hatte, und vielleicht hatte sie, aus welchem Land auch immer, unwissentlich diese Seuche eingeführt. Die Chance, dass das Mädchen die Krankheit bereits hatte, dass sie womöglich der ultimative Wirt war, war zu groß.
Die andere Möglichkeit wäre, dass er selbst bereits infiziert war, Lydia hingegen vollkommen gesund. Dann würde er sie nur einer unnötigen Gefahr aussetzen, wenn er jetzt zu ihr ginge, um sie zu warnen. Er hielt es für das Beste, fürs Erste allein in den Wald zu gehen und abzuwarten. Wenn sich bei ihm keine, wie auch immer gearteten, Symptome zeigten, dann könnte er immer noch überlegen, was weiter zu tun sei. Und wenn es ihm später schlechter gehen würde, dann hatte er ohnehin die richtige Entscheidung getroffen.
Lewin ging hinunter in die Küche, packte ein paar Vorräte in einen Rucksack und suchte sich eine Decke aus dem Wohnzimmer. Waren die Tage in Weiß unerträglich heiß, verhielt es sich hier nachts wie in der Wüste und die Temperaturen fielen empfindlich. Er hatte keine Ahnung, wie lange er im Wald bleiben musste und hielt es für eine gute Idee, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.
Als er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zog, atmete Lewin erleichtert auf. Er schaute sich verstohlen nach allen Seiten hin um und verschwand dann nach hinten in den Garten. Dort kletterte er über den Zaun und lief gebückt über die Straße. Vermutlich war es momentan das Beste, seine altbekannten Schleichwege zu benutzen und sich von anderen Menschen fernzuhalten.