Sechs

Lewin arbeitete sich eine Weile durch das Unterholz und achtete dabei kleinlich darauf, keine Spuren zu hinterlassen. Er wollte nicht riskieren, irgendjemandem die Verfolgung zu ermöglichen. Zwar wusste er nicht genau, wer ihm folgen sollte, aber momentan schien ihm alles möglich. Eine bekannte Lichtung aufzusuchen und dort zu verweilen, schien ihm demnach keine gute Idee zu sein. Die Gefahr, dort jemandem zu begegnen, war zwar gering, aber immer noch existent. Er würde sich lieber einen Platz im richtigen Dickicht suchen, wo man ihn nicht so leicht auffinden konnte, fernab der Trampelpfade und Picknickplätze.

Die dornigen Büsche und Äste kratzten über seine Haut und als er das Gefühl hatte, bereits eine Ewigkeit durch all das Grün gestolpert zu sein, ließ Lewin sich ins weiche Gras fallen und lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum.

Müdigkeit überkam ihn.

Bei genauerem Nachdenken fiel ihm auf, dass er seit heute Morgen durchgängig unterwegs gewesen war und es eher einem Wunder glich, dass er sich bis jetzt so gut auf den Beinen gehalten hatte. Er war gerannt, verprügelt worden, hatte Todesängste ausgestanden und vermutlich eine todbringende Krankheit entdeckt. Kaum zu glauben, dass er nicht längst umgekippt war. Er beschloss, für einen kurzen Moment die Augen zu schließen.

Lewins Lider wurden immer schwerer und seine Augen begannen zu brennen. In Gedanken überzeugte er sich davon, dass er mittlerweile weit genug von der Stadt entfernt war und dass er im Anschluss an ein kleines Nickerchen noch genug Zeit haben würde, einen Plan zu schmieden. Stück für Stück verschwamm die Welt vor Lewins Augen und er glitt leise in einen Dämmerzustand hinüber. Seine Gesichtszüge entspannten sich und sein Körper wurde schwer. Plötzlich zuckte er jählings zusammen. Dort vorne im Wald war etwas.

Er hatte ein Geräusch gehört. Zuerst ein Knacken und dann eine Stimme. Lewin spannte jeden Muskel in seinem Körper an und lauschte. Das Rauschen der Blätter über ihm schien jedes andere Geräusch zu verschlucken. Er hörte absolut nichts und nach einer Weile entspannte er sich wieder. Vermutlich war es vollkommen normal, dass er begann, sich Dinge einzubilden. Er war bis zum Zerreißen angespannt, ein unnatürlicher und vollkommen ungewohnter Druck lastete auf ihm, sodass es kein Wunder war, dass er empfindlich reagierte.

Lewin schmunzelte. Er war in einem Wald, hier knackte und knirschte es andauernd. Aber bereits einen Augenblick später verzerrte sich das Lächeln auf seinen Lippen. Da war es schon wieder. Und es war kein Knacken oder Knirschen, sondern eine Stimme. Jemand schien da vorne im Wald zu singen und das viel zu nah an seinem Versteck.

Vorsichtig richtete Lewin sich auf. Leise versteckte er seinen Rucksack unter einem der umliegenden Büsche und achtete darauf, dass er von einem Fremden nicht sofort gesehen werden konnte. Er schaute sich um, prägte sich den Platz ein und versuchte dann, sich möglichst geräuschlos durch das Unterholz zu bewegen. Er musste herausfinden, was da vorne los war. Er hatte keine Lust, von einer Pfadfindergruppe im Schlaf überrascht und ausgefragt zu werden. Unter den gegebenen Umständen hatte er überhaupt keine Lust auf Menschen in seiner Nähe.

Die singende Stimme kam immer näher und Lewin erkannte bald, dass es sich nicht um eine Pfadfindergruppe handeln konnte. Die Stimme hatte ganz offensichtlich ein Solo, nur eine Person sang, und sie leierte. Die Töne gingen rauf und runter, waren schief und wurden teilweise gelallt. Der Sänger hatte anscheinend zu tief ins Glas geguckt.

Eigentlich hätte Lewin diese Erkenntnis beruhigen müssen; sich vor einem Betrunkenen im Wald zu verbergen, durfte nicht besonders schwierig werden. Aber andererseits waren Betrunkene in der Regel aufdringlich und warmer Körperkontakt war das letzte, was er jetzt wollte.

Lewin erkannte an der Lautstärke der Stimme, dass er dem Unbekannten jetzt immer näher kam. Vermutlich befand er sich gleich dort vorn auf der nächsten Lichtung. Mit feuchten Händen schob er die Blätter eines Busches auseinander und als er den Rotschopf sah, der dort vorn auf der Wiese im Gras lag und den Himmel angrölte, zog er überrascht beide Augenbrauen nach oben.