Fünf
Als er das Hinterzimmer betrat, stutzte er einen Augenblick. Bei seiner eiligen Flucht auf die Toilette war ihm nicht aufgefallen, dass das Zimmer beinahe vollständig abgedunkelt war. Vor den ohnehin viel zu kleinen Fenstern hingen schimmernde grüne Tücher und auch über den beiden kleinen Stehlampen entdeckte Lewin ähnliche Schals. Auf dem Tischchen vor dem Sofa brannten einige Kerzen, denen es zwar nicht gelang, den gesamten Raum zu erleuchten, deren Licht aber positive Auswirkungen auf Lewins dröhnenden Schädel hatte. Die nackte Glühbirne, die von der Decke baumelte, war ausgeschaltet.
Auf dem alten Ledersofa saß die Nichte des Rollascheks, deren Gesicht Lewin nun zum ersten Mal richtig erkennen konnte. Hatte dieses im Schein der Taschenlampe noch dämonisch gewirkt, so musste er diesen Eindruck nun definitiv korrigieren. Lydia schien ungefähr in seinem Alter zu sein und war dabei wesentlich hübscher, als er vermutet hatte. Lewin merkte, wie sich in seiner Magengegend etwas regte. Vor ihm saß ein Mädchen, dass er sich besser nicht hätte erträumen können. Das lange, dunkle Haar umrahmte ein schmales, zartes Gesicht mit dunkelroten Lippen. Die Haut war makellos und so hell, dass Lewin spätestens jetzt klar war, dass das Mädchen nicht von hier sein konnte. Mit einer solchen Haut würde sie hier nicht überleben. Dafür war die Sonne zu erbarmungslos. In Weiß trug man dunkle Haut. Ledern und unempfindlich. Wie ein alter Rucksack.
Das Einzige, was Lewin an der Erscheinung des Mädchens störte, war ihre Nase. Sie schien zu lang für das zierliche Gesicht, aber das war ein Fehler, der die Unbekannte auf ihn nur noch anziehender wirken ließ. Er spürte, wie seine Handflächen wärmer zu werden begannen.
Abgesehen von den Haaren und dem Gesicht hätte das Mädchen im Übrigen sein bisher unbekannter Zwilling sein können. Genau wie Lewin trug sie ein dunkles Shirt und ausgewaschene Jeans. Die Turnschuhe, die Lewin schon im dunklen Laden so bekannt vorgekommen waren, waren dieselben, in denen auch seine Füße steckten. Ihre schienen noch älter zu sein als seine eigenen.
Lewins Blick fiel auf Lydias Hände, in denen sie langsam ein Päckchen Zigaretten drehte. Es überraschte ihn kaum noch, dass es dieselbe Marke war, die er selbst rauchte.
Mit einem Lächeln deutete Lydia auf einen der beiden Sessel, die gegenüber vom Sofa standen. Lewin ließ sich schwer auf das weiche Polster fallen. Er wurde müde.
Aus dem Kassettenrecorder neben dem Sofa drang leise Musik. Lewin erkannte eine dunkle, vibrierende Stimme, die er aber keinem bestimmten Sänger zuordnen konnte. Wenn das Mädchen ihm nun noch eine ihrer Zigaretten anbieten würde, dann könnte dieser Vormittag, trotz der Schmerzen und entgegen aller Erwartungen, vielleicht doch noch ganz angenehm werden.
Sobald Lewin diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, hörte das Mädchen auf, die Schachtel zwischen ihren Fingern zu drehen, öffnete den Deckel und streckte ihm die Packung entgegen. Lewin schluckte, beugte sich nach vorn und griff mit zitternden Fingern zu. Als er eine Zigarette aus der Schachtel zog, streifte er unabsichtlich die Finger des Mädchens und durch seine Hand wanderte ein Kribbeln. Dieses Kribbeln breitete sich über seinen gesamten Arm aus und glitt dann langsam seinen Rücken hinab. Lewin spürte, wie sich die kleinen Härchen an seinen Armen aufstellten und hastig zog er seine Hand zurück.
Das Mädchen lächelte, zog sich selbst eine Zigarette aus der Packung und zündete diese an. Anschließend warf sie das Feuerzeug zu Lewin herüber.
Als der brennende Rauch sich in seine Lungen fraß, merkte Lewin, dass er sich langsam entspannte. Seine Glieder wurden schwer und in seinem Kopf saugte ein riesiger Schwamm sämtliche Gedanken auf. Das Nikotin stieg ihm sofort ins Blut und er hielt ein paar Sekunden die Luft an, um nicht gleich wieder an den Rand einer Ohnmacht zu geraten.
Nach einer Weile merkte Lewin, dass er das fremde Mädchen anstarrte. Sie schien sich dessen ebenfalls bewusst zu sein, fühlte sich dadurch aber offensichtlich nicht gestört. Ihre Mundwinkel umspielte ein leises Lächeln, das im Gegensatz zu vorhin nichts Spöttisches oder Hämisches mehr an sich hatte.
Lewin wollte etwas sagen, wusste aber nicht was. Er räusperte sich. „Was machst du hier?“, fragte er schließlich und während seine Lippen noch die Worte formten, wurde ihm klar wie dämlich diese Frage klingen musste.
„Ich rauche.“
Verlegen schüttelte Lewin den Kopf und senkte den Blick zu Boden. „Ja, schon klar. Ich meinte, was genau du hier machst. In diesem Laden?“
Das Mädchen kicherte und murmelte leise etwas vor sich hin, das Lewin nicht verstehen konnte. Dann räusperte sie sich ebenfalls. „Mein Onkel musste verreisen und er brauchte jemanden, der auf seinen Laden aufpasst. Wie du vermutlich weißt, ist er nicht unbedingt der geselligste Mensch auf der Welt, also tue ich ihm diesen Gefallen.“ Sie machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: „Auch wenn ich nicht genau weiß, warum irgendjemand auf dieses komische Geschäft aufpassen muss. Seitdem ich hier bin, bist du der erste, der überhaupt nur in die Nähe dieser Bruchbude gekommen ist.“
Lewin lächelte. Er dachte an den Rollaschek und seine Penispuppen.
„Er hat mir von dir erzählt.“
Fragend hob Lewin den Blick. Lydia nickte.
„Er hat mir erzählt, dass hier wahrscheinlich früher oder später ein Typ reinstürmen wird, der ziemlich am Ende mit der Welt ist und dass ich mich dann um diese gequälte Seele kümmern soll.“
Sie lächelte ihn aufrichtig an und erneut durchfloss Lewin eine Welle wohltuender Wärme. Er ließ sich noch tiefer in den Sessel sinken und sog erneut an seiner Zigarette. Trotz der Schmerzen fühlte er sich plötzlich großartig.
„Allerdings hat er mir nicht erzählt, was genau dein Problem ist. Ich mein', so wie du aussiehst, könnte man denken, du hättest dich mit einem Preisboxer oder einem sowjetischen Killerkommando angelegt“, sagte Lydia mit einem fragenden Gesichtsausdruck.
Lewin zögerte. Er sprach nicht viel mit anderen Menschen. Schon gar nicht über seine Probleme. Genau genommen hatte ihn auch nie jemand danach gefragt.
„Ich hab Ärger mit ein paar Typen.“ Als er fortfuhr, war seine Stimme belegt. „Frag mich nicht warum, mit einigen von denen war ich früher sogar befreundet. Jetzt lassen sie sich keine Chance entgehen, um mich fertigzumachen.“
Das Mädchen nickte: „Und wie wehrst du dich dagegen?“
Lewin hob überrascht die Augenbrauen. „Da kann man sich nicht wehren. Du kennst diese Typen nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, die ganze Stadt wäre hinter mir her … Und ich bin nicht gerade der Stärkste!“ Seine Stimme wurde leiser. „Außerdem bin ich mir manchmal nicht sicher, ob ich den ganzen Scheiß nicht vielleicht sogar verdient habe …“
„Spinnst du? Niemand hat es verdient, von anderen fertiggemacht zu werden. Schon gar nicht von solchen Arschlöchern, die sogar mal deine Freunde waren?! Du musst dich wehren und den Kopf aus Deinem Arsch ziehen! Sonst wird sich doch nie etwas ändern.“ Sie pustete energisch ihren Zigarettenrauch in die Luft.
Lewin spürte erneut ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Dieses Mal war es allerdings kein euphorisches Flattern, sondern vielmehr ein unangenehmes Drücken, wie es ihn in der Schule immer vor Klassenarbeiten gequält hatte.
Lydia war jedoch noch nicht fertig: „Hör mal, wenn man will, dass sich etwas ändert, dann muss man etwas dafür tun! Du kannst dir doch nicht alles gefallen lassen. Hast du mal in den Spiegel geguckt? Ich will ja nichts sagen, aber du siehst richtig scheiße aus!“
Sie nickte jetzt ununterbrochen und die Hand mit der sie ihre Zigarette hielt, fuhr wild gestikulierend durch die Luft. Sie schien sich in Rage zu reden. „Ich an deiner Stelle würde diese Typen büßen lassen! Solche Mistkerle kann man doch nicht einfach davonkommen lassen! Ich finde echt, wenn dir das nächste Mal einer dumm kommt, solltest du ihn genauso bluten lassen.“
Erregung erfasste Lewin. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann ihm das letzte Mal jemand so leidenschaftlich zugesprochen hatte, wann jemand das letzte Mal auf seiner Seite gewesen war und ihn unterstützt hatte. Sein Herz schlug schnell. Er hatte keine Ahnung, warum sie sich so für ihn einsetzte. Sie hatte ihn doch vor wenigen Minuten das erste Mal gesehen. Sie wusste nichts von ihm und er nichts von ihr. Trotzdem fühlte er sich in ihrer Gegenwart wohl. Er hatte das unbestimmte Gefühl, ihr vertrauen zu können. So als würde er sie schon ewig kennen. Vielleicht lag es daran, dass er instinktiv wusste, wie richtig sie mit dem, was sie sagte, lag. Er hatte sich viel zu lange alles gefallen lassen, hatte sich herumschubsen lassen und langsam den Gedanken entwickelt, dass ihm das alles zu Recht widerfuhr. Damit musste Schluss sein. Ansonsten würde es wohl für den Rest dieses Lebens so weitergehen.
Lewin atmete tief ein und hob den Blick. Das Mädchen lächelte, als hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen.
„Ich hab auf einem der Plakate dort draußen gelesen, dass heute Abend ein Konzert hier in irgendeinem Schuppen ist. Hast du Lust mit mir dort hinzugehen?“ fragte sie.
Lewin schluckte. „Im Bus. Das ist eine kleine Kneipe ein paar Straßen weiter.“ Er zögerte einen Augenblick und schüttelte dann den Kopf. „Ich kann da nicht hingehen. Ich war dort seit Ewigkeiten nicht mehr und die werden alle dort sein.“
Lewin stand jetzt auf und hielt dabei den Kopf zu Boden gesenkt. Er schämte sich und zuckte zusammen, als das Mädchen ihre kühle Hand auf seine Schulter legte. Mit der anderen Hand hob sie sein Kinn und zwang ihn so, ihr direkt in die Augen zu sehen.
Ihre Iris war so dunkel wie die Nacht. Lewin hatte schon öfter Leute mit dunklen Augen gesehen, aber die des Mädchens waren derart schwarz, dass man kaum noch die Pupille erkennen konnte. Er sah sich selbst in ihren Augen. Sah sein geschwollenes Gesicht und das getrocknete Blut, das immer noch an seiner Nase und seinen Lippen klebte.
Die Hände der Unbekannten wurden langsam wärmer und dort, wo sie ihn berührte, schien seine Haut zu glühen. In diesem Augenblick wollte er nichts sehnlicher, als sie an sich zu ziehen, um dieses Glühen auf seinem gesamten Körper spüren zu können, selbst wenn er dabei verbrennen würde. Lewin wunderte sich über dieses heftige Verlangen.
Das Mädchen lächelte und flüsterte: „Ich würde heute Abend wirklich gern mit dir dort hingehen!“
Lewin nickte. Seine Knie waren weich und es schien ein Wunder zu sein, dass er noch aufrecht stand. Er würde heute Abend auf dieses Konzert mit ihr gehen. Er spürte, dass jeder Widerstand zwecklos war. Wie auch immer dieses fremde Mädchen es angestellt hatte, aber in seinem Kopf existierte plötzlich nur noch der Wunsch, ihr zu gefallen.