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Shannon machte sich nicht besonders viel aus ihrer Versetzung nach Iquitos, doch stellte ihr neues Aufgabengebiet eine deutliche Verbesserung zu dem dar, was sie bisher getan hatte, nämlich über Touristik- und Aufforstungsprojekte zu berichten. Wenigstens gab es in Iquitos öffentliche Einrichtungen, ein halbwegs erträgliches Nachtleben und klimatisierte Geschäfte, in die sich die Stadtbewohner vor der erdrückenden Hitze und Luftfeuchtigkeit flüchten konnten. Es hätte schlimmer kommen können, das wusste Shannon. Beispielsweise hätte ihr Medienkonzern sie damit beauftragen können, über die Forschungsarbeiten in den Tropen zu berichten. Das hätte für sie bedeutet, viele Wochen im Dschungel zu verbringen, mit Wissenschaftlern, die sich ab und an dazu herabgelassen hätten, Shannons Fragen zu beantworten, während sie sich zugleich darüber beschwerten, dass ihre Zeit zu kostbar für Interviews sei (und zwar ungeachtet der Tatsache, dass sie durch Shannon die Gelegenheit bekamen, ihre Arbeit der breiten Öffentlichkeit zu präsentieren) .
Nein, dachte Shannon, hier in der Bezirksredaktion von Iquitos gefällt's mir besser, viel besser.
Ihre neue Stelle bot ihr nicht nur die Möglichkeit, Beiträge für die Tagesnachrichten zu erstellen. Im Regenwald ließ sich eher selten eine Geschichte auftun, für die sich viele Menschen interessierten. In der Stadt mit ihren verwinkelten Vororten hingegen gab es immer genug Interessantes zu berichten. So zum Beispiel die Story, auf die sie an diesem Morgen gestoßen war. Immer wieder versuchten Taugenichtse und Ganoven in den Weiten des Naturreservats unterzutauchen, doch früher oder später wurden sie von den automatischen Überwachungssonden entdeckt und fanden sich bald unverhofft in einer Zelle wieder, eingefangen von den Rangern.
Der Mann, den man an diesem Morgen festgenommen hatte, wurde jedoch nicht wegen Unterschlagung oder Vandalismus gesucht und auch nicht, weil er unerlaubt ins Reservat eingedrungen war oder dort gewildert hatte. Er wurde wegen Mordes gesucht. Iquitos war nicht immer eine friedliche Stadt, doch Morde gab es hier nur selten. Das war der abschreckenden Wirkung der modernen Strafvollzugstechnologie zu verdanken - und auch der Tatsache, dass ein Gericht den Täter zu einer generellen Gedächtnislöschung verurteilen konnte, anstatt nur zu einer partiellen.
Dass man an diesem Morgen einen Mörder gefasst hatte, war jedoch nicht der Grund, warum Shannon den Fall so faszinierend fand. Für die Medien war der Festgenommene deshalb so interessant, weil er eine »Story« anzubieten hatte. Shannon war neugierig zu erfahren, ob der Mann so verrückt war wie seine Geschichte.
Ein Wachmann hatte sich vor dem Befragungsraum postiert; eingedenk der Tatsache, dass der darin wartende Mann eines Kapitalverbrechens bezichtigt wurde, war das nicht verwunderlich. Man hatte Shannon bereits nach Waffen und verbotenen Gegenständen durchsucht, und nun zeigte sie dem Wachmann ihren Presseausweis, woraufhin er das elektronische Sicherheitsschloss öffnete. Als die Tür in die Wand glitt, trat der Wächter beiseite und ließ sie eintreten.
Die Gestalt, die an dem Befragungstisch saß, sah nicht gerade vielversprechend aus, und Shannon fragte sich, ob sie hier vielleicht ihre Zeit vergeudete. Nicht dass sie etwas Wichtigeres zu erledigen gehabt hätte. Sie holte ihren Rekorder hervor, schaltete ihn an und vergewisserte sich, dass die Schutzkappe zurückgezogen und die Linse sauber war. Die Linse war mit einer Schmutz und Fett abweisenden Beschichtung versehen und funkelte kurz im matten Licht der Deckenbeleuchtung. Die kurze Lichtreflexion erregte die Aufmerksamkeit des Gefangenen. Als er den Kopf hob, konnte sie sein Gesicht besser erkennen. Das änderte ihren ersten Eindruck von ihm nicht. Und auch nicht die Art, wie er sie ansah - auch wenn sie derartige Blicke gewohnt war.
»Ich hatte eigentlich mit einem Reporter gerechnet, nicht mit einem solchen Zuckerhasen.« Er grinste anzüglich. »Wie wär's, wenn wir den dämlichen Bullen da draußen bitten, die Fester abzudunkeln?« Er deutete mit dem Kopf zur Tür.
»Wie wär's, wenn Sie Ihren Mund halten, mich nicht so dämlich ansehen und nur auf meine Fragen antworten?«, erwiderte sie scharf. »Ansonsten verschwinde ich wieder und Sie können mit sich selbst spielen, bis die Beamten Sie wieder verhören kommen! Die hören sich Ihre verrückten Geschichten nicht an.«
Nach dieser Rüge ließ der Gefangene von seinem Macho- Gehabe ab und senkte den Blick. Nervös tippte er die Finger aneinander, als wisse er nicht, was er mit ihnen machen solle. Dann antwortete er: »Zuerst müssen Sie mir meine persönlichen Sachen besorgen.«
Shannon zog die gefärbten Augenbrauen zusammen.
»Was für persönliche Sachen? In Ihrer Akte steht, dass Sie nur mit den Kleidern am Leib im Regenwald aufgegriffen wurden.«
Er lehnte sich vor und senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Als ich gemerkt habe, dass die Ranger mich aufgespürt hatten, hab ich meinen Rucksack vergraben. Ohne den Inhalt meines Rucksacks glauben Sie mir sowieso kein Wort.«
»Ich bezweifle, dass ich Ihnen überhaupt ein Wort glaube, also was soll's? Was ist in Ihrem komischen Rucksack, den Sie vor den Rangern versteckt haben? Illegale Rauschmittel? Edelsteine?«
Er grinste, diesmal jedoch nicht anzüglich, sondern wissend. »Beweise. Für meine Story.«
Shannon schüttelte enttäuscht den Kopf und schaltete den Rekorder aus. Wozu die Energiezelle unnötig verschleißen? »Es gibt keinen Beweis für Ihre ›Story‹. Weder in einem geheimnisvollen vergrabenen Rucksack noch sonst wo. Weil Ihre Geschichte verrückt ist. Sie ergibt keinen Sinn.«
Cheelos Lächeln wirkte angespannt, verblasste aber nicht ganz. »Und warum sind Sie dann hier?«
Sie zuckte zaghaft die Schultern. »Weil sich Ihre Geschichte von dem gewöhnlichen Durchschnittsmüll unterscheidet, mit dem wir unsere hinteren Bildschirmseiten füllen. Weil ich geglaubt habe, Sie könnten mir vielleicht aus einem neuen Blickwinkel schildern, auf welche Weise ihr Schurken euch der Justiz entzieht. Bis jetzt bin ich nicht begeistert, sondern enttäuscht.«
»Graben Sie meinen Rucksack aus, und Sie werden vor Begeisterung Purzelbäume schlagen! Der Inhalt wird Sie entzücken.«
Shannon seufzte schwer. »Ich habe den Polizeibericht überflogen. Es gibt keine Thranx im Reservat. Es gibt noch nicht einmal Thranx auf dieser Hemisphäre. Wie jeder Repräsentant einer neu kontaktierten Spezies dürfen sich auch die Thranx nur auf der Orbitalstation aufhalten, wo es entsprechende diplomatische Einrichtungen gibt. Wir haben gelegentlich aus nächster Nähe darüber berichtet, wenn besonders wichtige Thranx mit dem Rang eines Eint oder höher die Erde besucht haben, doch sogar sie dürfen die offiziellen Grenzen von Lombok oder Genf nicht überschreiten. Selbst wenn es einer bis nach hier geschafft hätte, könnte er nicht überleben.«
Cheelo beugte sich wieder zu ihr vor und senkte die Stimme so sehr, dass sie sich ebenfalls vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. Es gefiel Shannon gar nicht, dem Gefangenen so nah zu sein. Trotz der Behandlung, die er wie jeder neu Verhaftete über sich hatte ergehen lassen, roch sie noch deutlich, dass er viel Zeit im Reservat verbracht hatte.
»Sie haben Recht«, flüsterte er. »›Einer‹ könnte nicht überleben. Aber ein gut vorbereitetes und ausgerüstetes Landungskommando schon.«
Sie verdrehte die Augen und wandte den Blick von ihm ab. Allmählich hatte sie genug von diesem Mörder und seinen jämmerlichen Fantasien. »Sie wollen mir also weismachen, dass es nicht nur ein Thranx war, sondern dass ein ganzes Thranx-Landungskommando unbemerkt im Reservat rumläuft! Für wie dämlich halten Sie mich, Montoya?
Wenn die Ranger einen Menschen wie Sie einfangen können, der sich nach Kräften bemüht, ihnen aus dem Weg zu gehen, meinen Sie dann nicht, dass sie erst recht so was Fremdartiges wie einen Thranx aufspüren würden? Geschweige denn einen ganzen Landungstrupp?«
»Nicht wenn die Thranx unter der Erde blieben und von menschlichen Helfern unterstützt würden«, schoss er zurück. »Und ich habe nicht versucht, den Rangern aus dem Weg zu gehen. Jedenfalls am Schluss nicht mehr. Ich wollte geschnappt werden.«
Shannon runzelte unsicher die Stirn; ihr Zorn verebbte gerade genug, um ihrer Neugier Platz zu machen. »Unterirdisch? Wollen Sie mir etwa sagen, dass ein illegaler Thranx-Landungstrupp im Reservat operiert - und das auch noch unter der Erde?«
Er verzog das Gesicht zu einem selbstgefälligen Grinsen. »Kein Landungstrupp. Ein Stock. Eine Kolonie.« Sein Tonfall klang inzwischen anmaßend. »Es gibt nicht nur ein Dutzend Thranx im Reservat - es gibt hunderte. Und sie schauen sich keine Pflanzen an und fangen auch keine Schmetterlinge - sie leben dort. Und vermehren sich.«
Sie starrte den schlaksigen, prahlerischen Kerl an, der mit verschränkten Armen vor ihr saß und sie blasiert anlächelte. Montoya sah ihr unbeirrt in die Augen. Shannon wollte den Blick abwenden, konnte es aber nicht. Noch nicht.
»Also, was sind das für Beweise in dem Rucksack, die eine so ungeheuerliche Geschichte belegen sollen?«
»Dann ist meine ›verrückte‹ Geschichte für die Medien also doch interessant?«, zog Cheelo sie auf.
Shannon wollte ihn nicht so leicht davonkommen lassen.
»Geben Sie mir die Koordinaten der Stelle, an der Sie den Rucksack vergraben haben, und ich sehe mir an, was er enthält! Wenn überhaupt was drin ist. Wenn es ihn überhaupt gibt.«
»Oh, es gibt ihn.« Er blickte flüchtig zur Tür. »Aber zuerst müssen wir so eine Art Vereinbarung treffen. Offiziell aufgezeichnet, in Anwesenheit von Zeugen.«
»Eine Vereinbarung?« Shannon war ganz und gar nicht erbaut. Ihr Posten in der Mediengesellschaft war nicht gerade der Bedeutendste, und das wirkte sich entsprechend auf ihr Spesenkonto aus. Iquitos war eben nicht Paris. »Was für eine Vereinbarung?«
Zum ersten Mal, seit sie den Interview-Raum betreten hatte, schien der Mann sich zu entspannen. »Sie glauben doch nicht, dass ich eine solche Jahrhundertstory aus reiner Nächstenliebe rausrücke, oder?« Einen Moment lang trat ein abwesender Ausdruck in seine Augen, und er senkte die Stimme wieder zu einem Flüstern. »Für mich muss irgendwas dabei rausspringen, weil ich schon meine Verabredung verpasst habe. Ich hab die Lizenz sausen lassen. Für das hier.« Langsam schüttelte er den Kopf, dann fügte er in ungläubigem Ton hinzu: »Ich muss verrückt sein! Eine Bedingung noch: Wir erzählen die Story auf meine Weise. Ich will Mitspracherecht haben.«
Shannon lachte auf, doch dann erkannte sie, dass es ihm ernst war. »Also wollen Sie jetzt nicht nur Mörder, sondern auch Journalist sein?«
Er senkte den Blick. »Das mit dem Touristen in San Jose war ein Unfall. Das werde ich alles noch bei einer Anhörung erzählen.« Das verschlagene, wissende Lächeln kehrte in sein Gesicht zurück. »Die Anhörung wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, das garantiere ich Ihnen. Ich weiß zu viel, - und die Regierung mag es nicht, wenn Leute, die zu viel wissen, durch die Gegend laufen und alles ausplaudern. Aber es wird sich für Sie lohnen. Das verspreche ich.«
Shannon setzte sich aufrecht hin und schaltete wieder ihren Rekorder an. »Mal vom Inhalt Ihrer verrückten Geschichte abgesehen: Wieso sind Sie so sicher, dass Sie überhaupt ein Erzähltalent haben?«
Cheelo schürzte die Lippen und sandte ihr einen Luftkuss zu. Angewidert lehnte sie sich zurück. »Ihnen scheint meine Geschichte inzwischen doch zu gefallen, oder?«
Der Rucksack war an der angegebenen Stelle, überraschend weit südlich, vergraben in einer seichten Mulde zwischen zwei knorrigen Würgefeigen. Genau wie Montoya gesagt hatte. Das allein bedeutete noch gar nichts. Dass in dem Rucksack ein fremdes, funktionierendes Thranx-Gerät war, ließ ebenfalls auch keine Rückschlüsse zu, bis auf die Tatsache, dass Montoya über seine illegalen Kanäle gewiss leicht an Schmuggelware herankam. Bei dem Armglied, das von einem Thranx stammte, sah die Sache ganz anders aus. Die Extremität war noch recht frisch und gut verpackt, sodass der Verwesungsprozess trotz des gnadenlosen Regenwaldklimas noch nicht eingesetzt hatte. Beides zusammen, Arm und Gerät, bestätigten die Geschichte des Gefangenen - wenn sie sie nicht sogar bewiesen.
Als Shannon erneut Montoya besuchte, kam sie nicht allein. Sie brachte nicht etwa Ranger mit, sondern zwei Reporter aus ihrem Medienkonzern und einen runzligen, weißhaarigen Chefredakteur.
Der Gefangene beäugte sie mit freundlichem Misstrauen. Auf dem Tisch zwischen ihnen lagen das abgerissene Armglied des Außerirdischen und das fremdartige Gerät. Beide Objekte sahen so aus, als seien sie gerade erst aus dem vergrabenen Rucksack genommen worden, in Wirklichkeit aber hatte der Konzern sie gründlich auf ihre Echtheit untersuchen lassen. Die Untersuchung war positiv ausgefallen. Nun mussten die überaus neugierigen Medienvertreter nur noch herausfinden, wie diese ungewöhnlichen Dinge in den Besitz eines Kleinkriminellen gelangt waren, dessen Heimat weit nördlich des amerikanischen Isthmus lag.
Einer der Reporter, eine Frau, schob Cheelo das Gerät über den Tisch zu. »Wir wissen, dass dieses Gerät außerirdischen Ursprungs ist, aber wir wissen nicht, wozu es dient.«
»Ich aber. Das ist ein Sch'reiber. Ich hab's Ihnen doch erzählt - Des war ein Dichter. Das bedeutet, er hat mehr getan, als nur Worte aneinander gereiht. Unter den Thranx ist die Dichtung eine Vortragskunst. Ich weiß das, weil er mir einige Male etwas vorgetragen hat.« Ein leises, bedauerndes Lächeln trat in sein Gesicht. »Ich hab nicht viel davon verstanden. Weder die Wörter noch die Gesten. Er hat viele Klick- und Pfeiflaute gemacht. Aber bei Gott, es war wunderschön!«
Die Reporterin, die ihm die Frage gestellt hatte, wollte schon auflachen, doch der andere Reporter hielt sie davon ab, indem er ihr den Arm auf die Schulter legte. Er beugte sich vor und sagte in verständnisvollem Ton: »Ich bin Rodrigo Monteverde vom Bezirksparlament. Ich habe zwar einen solchen Vortrag, wie Sie ihn beschreiben, noch nie selbst besucht, aber mit Leuten gesprochen, die es getan haben. Ihre Beschreibung passt.«
»Die Thranx haben solche Vorträge für einige unserer Regierungsbeamten gegeben.« Der Chefredakteur verzog keine Miene, während er sprach. »Einige davon sind im 3-D ausgestrahlt worden. Vielleicht hat Montoya eine dieser Übertragungen gesehen.«
Shannon schob dem Gefangenen das abgerissene Armglied zu. »Was ist hiermit? Was ist das?«
Montoya sah auf die blaugrünen Finger hinab. Seine Eingeweide verkrampften sich, und ein stechender Schmerz schoss ihm durch den Bauch, doch ließ er sich nichts davon anmerken. »Das? Das war mein Freund.« Er hob den Blick und lächelte Shannon an, dann sah er dem grauhaarigen Mann ins Gesicht, der offenbar das Sagen hatte.
»Ich biete Ihnen eine echte Jahrhundertstory an. Wollen Sie sie oder soll ich lieber verlauten lassen, dass ich mit einem anderen Medienkonzern verhandeln will?«
Der Chefredakteur hielt seine unerschütterliche Gelassenheit aufrecht, doch verzog er den Mund fast unmerklich zu einem Lächeln. »Wir wollen die Story - wenn noch mehr an ihr dran ist, als das, was wir bis jetzt wissen. Die entscheidende Frage lautet aber: Was wollen Sie?« Er deutete mit dem Kopf auf Shannon. »Ms Shannon hier hat mir zwar schon gesagt, dass Sie verhandeln wollen, aber ich kenne noch keine Details.«
Alle sahen Cheelo mit erwartungsvollen Mienen an. Das gefiel ihm sehr. Es gab ihm das Gefühl ... bedeutend zu sein. »So ist's schon besser. Zunächst einmal will ich, dass man alle Anklagepunkte fallen lässt, die gegen mich erhoben wurden oder noch erhoben werden sollen.«
»Soweit ich weiß, haben Sie jemanden ermordet«, hielt Shannon ihm kühl entgegen.
Cheelo wusste, dass sie ihn nicht mochte. Das spielte keine Rolle: Sie musste nur begreifen, dass er ihr eine wirklich große Story zu bieten hatte. Er war nicht der Einzige, dem ein Ehrenwort noch etwas bedeutete. Auf der ganzen Welt verließen sich noch immer viele auf das Ehrenwort eines anderen. »Wie ich Ihnen schon gesagt habe, war das ein Unfall. Der Idiot musste unbedingt den Macho spielen, meine Pistole packen und mit mir kämpfen. Niemand kann mir Vorsatz nachweisen. Befragen Sie seine Frau, und Sie werden sehen, dass ich die Wahrheit sage.«
»Trotzdem«, wandte der Chefredakteur unerbittlich ein, »haben Sie einen unschuldigen Mann getötet.«
»Biegen Sie's für mich gerade!«, forderte Cheelo rau und kompromisslos. »Ich weiß, wozu die Medien imstande sind. Wenn alle Anklagen gegen mich fallen gelassen wurden, soll auch mein Straftatenregister gelöscht werden. Ich will wieder von vorn anfangen.«
»Damit Sie Ihr Register erneut mit Einträgen füllen können?« Der Redakteur seufzte. »Was Sie verlangen, lässt sich machen. Es ist aufwendig und teuer, aber machbar. Vor allem, wenn die Aussage der Ehefrau Ihre Behauptungen untermauert. Was noch?«
»Geld. Ich hab mir noch nicht überlegt, wie viel. Darüber können wir verhandeln.« Sein Tonfall wurde sehnsüchtig. »Sie glauben mir vielleicht nicht, aber indem ich mich aufgreifen ließ, habe ich mehr Geld geopfert, als Sie sich vorstellen können. Und nicht nur das, ich hab sogar meine zukünftige Karriere aufgegeben.«
»Wie nobel von Ihnen.« Während der Redakteur redete, machten sich die drei anderen Reporter Notizen. Notizen dachte Cheelo. Letztlich ist das ist alles, was uns ausmacht: ein Haufen Notizen, die ein anderer sich über uns macht. Wenn wir sterben, hängt es allein von diesen Notizen ab, ob man vergessen wird oder nicht. Es sei denn, wir nehmen uns die Zeit, selbst welche zu machen.
»Eine Sache noch.« Er schob Shannon den außerirdischen Sch'reiber zu. »Ich will, dass Sie alles, was hier drin gespeichert ist, veröffentlichen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wovon die Gedichte handeln, und erst recht nicht, in welcher Form Sie sie am besten herausgeben, denn sie sind nicht mit menschlicher Dichtung vergleichbar. Aber ich will, dass Sie es tun. Sie veröffentlichen seine Werke und verbreiten sie! Sowohl unter den Thranx als auch hier auf der Erde.«
»›Verbreiten‹?« Shannon beäugte ihn amüsiert.
»He, ich bin arm, aber nicht dumm! Ich will Des' Kunst veröffentlicht sehen. Damit jeder sie genießen kann.«
»Wir Menschen können doch mit thranxischer Dichtung nichts anfangen«, wandte der zweite Reporter ein.
»Vielleicht nicht viel, aber die Thranx werden Notiz von seinem Werk nehmen, ob sie wollen oder nicht. Wenn es erst veröffentlicht ist, können sie es nicht mehr ignorieren. Diese Dichtung ist großartig, ein umwerfendes Werk. Ein bedeutendes Werk.« Er verengte die Augen zu Schlitzen. Zu sehr schmalen Schlitzen. »Bedeutender als alles, was ich jemals zustande bringen werde.«
Zum ersten Mal wich die unverhohlene Abneigung und Geringschätzung, mit der Shannon dem Gefangenen begegnete, einem Gefühl der Unsicherheit. »Woher wollen Sie das wissen, wenn sie die Gedichte nicht verstanden haben?«
»Ich weiß es, weil Des so sehr daran geglaubt hat - die Art, in der er über seine Kunst sprach, wie er sie mir vortrug -, auch wenn ich nicht viel davon begriffen habe. Ich weiß es, weil er alles aufgegeben hat, um etwas Bedeutendes zu schaffen. Ich bin kein Künstler - ich kann keine Skulpturen formen, nicht malen, keine Lichtmuster erzeugen, und ich kann auch nicht besonders gut schreiben. Aber ich erkenne Leidenschaft, wenn ich sie sehe.« Seine Miene hellte sich auf. »Ja, das hat Des ausgemacht. Seine Leidenschaft.« Er tippte auf das Gehäuse des Sch'reibers. »Dieses Gerät steckt voller Leidenschaft, und ich will, dass die Gedichte überall erhältlich sind, damit jeder sie kaufen kann.«
Zum ersten Mal zeigte der Chefredakteur eine Regung. »Wieso? Wieso sollte es Sie kümmern, was mit dem Werk eines obskuren außerirdischen Künstlers passiert? Die Kunst bedeutet Ihnen nichts. Er bedeutet ihnen nichts.«
»Das weiß ich nicht genau. Vielleicht - vielleicht will ich es, weil ich schon immer geglaubt habe, dass jeder für seine Sache einstehen muss, selbst wenn der Rest der Gesellschaft nichts davon hält, und dass keiner vergebens sterben sollte. Ich hab schon zu viele Leute umsonst sterben sehen. Ich will nicht, dass mir das auch passiert - und auch nicht Des.« Er zuckte die Achseln und sah zum Fenster, das viel zu klein war, als dass ein Gefangener hätte hindurchkriechen können. Draußen lag die Stadt und hinter ihr der Regenwald. »Vielleicht passiert es mir ja trotzdem. Ich bin kein besonderer Mensch. War ich nie und werd's vermutlich nie sein. Aber ich werde dafür sorgen, dass der Tod meines Freundes nicht vergebens war.«
Während die Reporter respektvoll warteten, überdachte der Redakteur die Worte des Gefangenen. Schließlich sah er Cheelo an. »Also schön. Wir akzeptieren Ihre Bedingungen. Ausnahmslos. Vorausgesetzt, dass sich hinter ihrer schillernden Alien-Geschichte wirklich etwas Spektakuläres verbirgt.«
Beruhigt lehnte Cheelo sich im Stuhl zurück. Trotz seiner beiden unbestreitbar außerirdischen Beweisstücke war er bis zuletzt nicht sicher gewesen, ob die Medienvertreter sich auf den Handel einlassen würden. Wenn er sich nicht sehr irrte, würde er schon bald wieder frei sein. Ein toter Thranx-Dichter hatte ihn die Karriere gekostet, aber würde ihm zur Freiheit verhelfen.
Welche Folgen diese Freiheit letztlich haben sollte, hatte er nicht vorhersehen können. Er hatte nur frei sein wollen. Dass er berühmt werden würde, hatte er nicht erwartet.
Die Reporter durchsuchten den Regenwald; dank der Koordinaten, die der Dieb ihnen genannt hatte, konnten sie das Suchgebiet genau eingrenzen, und tatsächlich fanden sie nach wenigen Wochen die Thranx-Kolonie. Die Entdeckung wurde weltweit publik gemacht, und die Menschen reagierten empört. Die Repräsentanten der Kolonie und ihre verdeckt arbeitenden menschlichen Verbündeten mussten sich für das Geheimprojekt verantworten, was letztlich nur auf eine Weise enden konnte.
Die Botschafter von Menschen und Thranx, deren umsichtige diplomatische Arbeit zunichte gemacht war, bemühten sich nach Kräften darum, dass der erschütterte Annäherungsprozess zwischen beiden Spezies nicht zum Erliegen kam. Dazu gezwungen, alle interspeziären Gespräche voranzutreiben und Vorschläge zu unterbreiten, die bestenfalls durchdacht waren, beeilten sie sich, die ersten formellen Abkommen zwischen Menschen und Thranx zu formulieren und zu unterzeichnen - gut zwanzig bis vierzig Jahre, bevor ihre beiden Völker dazu eigentlich bereit waren. Den beiden Spezies blieb nichts anderes übrig, als die unvorhersehbaren Konsequenzen dieser Abkommen zu tragen. Die Alternative wäre gewesen, die diplomatischen Beziehungen sofort abzubrechen, was durchaus auch in offene Feindseligkeit hätte umschlagen können.
Was die Kolonie im Amazonasgebiet betraf, so wurde sie nur deswegen nicht geräumt, weil die Thranx den Menschen schnell gestatteten, auf ihrer Heimatwelt Hivehom ebenfalls eine Kolonie zu gründen - zusätzlich zu der viel kleineren Kolonie auf Willow-Wane. Die Zweifüßer suchten sich ein Gebiet aus, das sie schon die ›Hochebene von Mediterrania‹ nannten, eine Gegend, die so karg und kalt war, dass sie für die Besiedlung durch Thranx nicht infrage kam. Dank der ›Zwangsannäherung‹, die aus der Enthüllung der Kolonie resultierte, entdeckten Menschen und Thranx schnell, dass sie sich gegenseitig besser ergänzten, als es die bisherige Diplomatie je hätte erahnen lassen können. Zur Überwindung des Abscheus, den beide Spezies wegen des scheußlichen Aussehens der jeweils anderen empfanden, waren die ersten Schritte unternommen.
Cheelo Montoya hatte eigentlich nur wieder in die Hinterhofgesellschaft zurückkehren wollen, in der er aufgewachsen war (allerdings mit ein wenig mehr Geld als zuvor). Es blieb ihm jedoch verwehrt, ein ruhiges Leben zu führen, denn gegen seinen Willen wurde er vom unbedeutenden, rücksichtslosen Straßenganoven zum Vorbild für interspeziären Erstkontakt erkoren. Die damit einhergehende Bekanntheit suchte er weder, noch wollte er sie; doch nachdem bekannt geworden war, welche Rolle er in der Angelegenheit um die Thranx-Kolonie gespielt hatte, konnte er es sich nicht mehr aussuchen. Er wurde zum begehrten Interview-Partner und trat in verschiedenen 3-D- Sendungen auf, die weltweit ausgestrahlt wurden. Immer wieder wurden ihm seine persönlichen Schwächen bewusst, wenn die Moderatoren ihm Fragen stellten, die er nicht beantworten konnte, oder Stellungnahmen von ihm verlangten, die zu formulieren seine Fähigkeiten überstieg. Da sein Gesicht erbarmungslos der neugierigen Welt präsentiert wurde, verlor er jegliches Privatleben. Er wurde ausgefragt, herumgereicht, bedrängt, herausgefordert und sowohl zum Thema von Gerüchten als auch von Spekulationen gemacht. Schon bald bedauerte er es, dass er je versucht hatte, mit seiner ungewollten Beziehung zu dem toten Dichter Geld zu verdienen. Von den mitleidlosen Medien und der Bevölkerung bedrängt, die mit Halunken wie ihm sympathisierte, starb er letztlich vorzeitig - geadelt von einer Öffentlichkeit, deren historischer Appetit auf falsche Gottheiten fast grenzenlos war. Seine Beerdigung war eine kostspielige, prächtige Veranstaltung, die nicht nur auf der ganzen Welt im 3-D ausgestrahlt wurde, sondern auch auf allen von Thranx besiedelten Welten. Cheelo hätte über diese Geldverschwendung sicher geschimpft.
Das Denkmal, das sie an seinem Grab errichteten, zeugte - endlich - davon, dass er etwas Bedeutendes getan hatte.
Die Thranx gaben sich weniger freimütig. Normalerweise hätten sie die Werke eines Dichters, der sich so unerhört gesellschaftsfeindlich verhalten hatte wie Desvendapur, rigoros ignoriert. Doch nachdem sein Werk erst einmal veröffentlicht war, konnte das höchst konservative Amt für vorgetragene Dichtkunst nicht umhin, den ungeheuren Wert seines Werks anzuerkennen. Die Kraft und Leidenschaft, die der verstorbene Desvendapur in seine Dichtungen gepackt hatte, sprachen für sich.
Und so kam es, dass Cheelo Montoya vor seinem Tod den Ruhm ertragen musste, den der Außenseiter Desvendapur angestrebt hatte.
Die Medien boten Cheelo eine schockierend hohe Summe für seine Memoiren an, die er in mühevoller Arbeit mit Hilfe einer Armee aus Ghostwritern schrieb. So, wie er seine Abenteuer mit dem abtrünnigen Thranx schilderte, wurde eine ruhmreiche, heroische Geschichte daraus. Sie war sogar so poetisch gehalten, dass spätere Generationen nicht mehr imstande waren, sie eindeutig zu interpretieren. Zwar war dem Werk zu entnehmen, dass ein Mörder und ein Dichter die Annäherung von Menschen und Thranx beschleunigt hatten, doch ließ sich nicht mehr genau festmachen, wer von ihnen der Mörder und wer der Dichter gewesen war.
Wie gesagt, hatte die Enthüllung der Kolonie die vorsichtigen, kultivierten und zeremoniellen Verhandlungen zwischen Menschen und Thranx erschüttert, doch vertieften beide Spezies in den folgenden fünfzig Jahren ihre Beziehungen immer mehr - trotz (und nicht wegen) der Bemühungen von wohlmeinenden, hart arbeitenden Botschaftern.
Dass ein Mörder und ein Dichter diese Entwicklung in Gang gesetzt hatten, war nichts Ungewöhnliches. Die Geschichte wird oft von unbedeutenden Individuen beeinflusst, die sich eigentlich nur um ihre persönlichen Anliegen kümmern und dabei nicht im Mindesten bedenken, welche Folgen ihr Tun für die Nachwelt haben könnte. Das ist vielleicht auch ganz gut so.
Hätte die Menschheit die nächste intelligente Spezies, die sie kennen lernte, vor den Thranx getroffen, hätte es das Commonwealth vielleicht nie gegeben. Was die doppelzüngigen AAnn anging, so grenzte ihre Empörung an Wut, als sie sahen, dass die Thranx - ihre traditionellen Konkurrenten bei der Suche nach bewohnbaren Welten - sich immer besser mit den militärisch schlagkräftigen, aber unberechenbaren Menschen verstanden. Da es der kaiserlichen Regierung an einer Kriegslist mangelte, mit der sich die scheinbar unausweichliche Allianz verhindern ließ, ersuchte sie jeden um Rat, der eine Lösung für das Problem anzubieten hatte.
Und wie es der Zufall so wollte, wussten Lord Huudra Ap und Baron Keekil YN bereits Abhilfe.