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Desvendapur, der inzwischen mehr oder minder zu dem deprimierenden Schluss gelangt war, dass die Anwesenheit von Menschen in Geswixt ein Mythos sei, machte den schnellsten Gesinnungswandel seines Lebens durch. Nach bewundernswert kurzem Zögern erwiderte er: »Ja, ich weiß.«
»Du weißt es?« Der Zubereiter zögerte unsicher. »Woher weißt du das?«
»Von der Aufschrift auf den Behältern«, antwortete der Dichter prompt; er betrachtete die geschmeidige Verdrehung von Tatsachen als engen Verwandten von glühender Kreativität. Der einzige Unterschied bestand für ihn darin, dass er sich bei der Verdrehung von Tatsachen etwas zu seinem eigenen Nutzen ausdachte und nicht zur Erbauung der Nachwelt.
Sein neuer Bekannter klickte unschlüssig mit den Mundwerkzeugen. »Jede Ladung ist kodiert. Woher kennst du denn die Kodes?«
Versunken im semantischen Morast, sah Des keine Möglichkeit, sich wieder herauszuziehen, und vergrub sich unbekümmert noch tiefer darin. »Weil ich hier bin, um dich zu überprüfen. Ich bin ebenfalls in der Nahrungszubereitung tätig. Man hat mich gerade erst hierher versetzt, auf den Posten eines allgemeinen Küchenhelfers.« Er tippte mit allen vier Fingern der rechten Echthand auf den Behälter, den er umklammerte. »Ist dein Wissen auf dem neusten Stand? Sag mir, was dieser Behälter enthält!«
Verwirrt schaute der Zubereiter auf die Prägung. »Milchpulver. Das natürliche Körperextrakt eines Säugetieres. Dient für viele Mahlzeiten als Zutat.«
»Sehr gut!«, lobte Des ihn sklavisch, noch während er sich fragte, was Milchpulver wohl sein mochte. »Die nächste Frage ist kniffliger.« Er griff sich einen Zylinder, der eine größere Aufprägung hatte als der vorige. »Was ist mit dem hier?«
Der jüngere Thranx zögerte nur kurz. »Sojapasteten, verschiedene Nussextrakte, dehydrierter Fisch, ausgesuchte Früchte und Gemüse. Ich kenne noch nicht alle Bezeichnungen für sie.«
»Nur zu, versuch es!«, drängte Des ihn. »Ich erwisch dich schon noch bei irgendwas auf dem falschen Fuß, bevor wir hier fertig sind!«
»Mir wurde nichts davon gesagt, dass meine Abteilung noch einen Helfer bekommt«, murmelte der Nahrungszubereiter, der nach wie vor unsicher war.
»Das habe ich mir schon gedacht.« Des verstaute den Behälter, ohne dass der andere Thranx einen Blick auf die Aufschrift werfen konnte. »Der hier enthält so fremdartige Dinge, dass du sie nicht kennen kannst.«
»Keine Aufschrift ist zu fremdartig für mich. Zumindest glaube ich das.« Stolz ließ der Nahrungszubereiter die Antennen kreisen. »Ich erfülle alle meine Aufgaben und bekomme dafür hervorragende Beurteilungen!«
Sie setzten ihr Gespräch auf diese Weise fort, bis alle Behälter auf den kleinen Transporter geladen und alles, was sie enthielten, genannt worden war. »Wo ist deine Unterkunft?«
»Sie haben mir noch keine zugewiesen«, improvisierte Des - eine Fähigkeit, durch die sich Dichter-Besänftiger besonders auszeichneten. »Ich bin recht früh hier eingetroffen. Eigentlich erwartet man mich erst am Tag nach morgen.«
Der Zubereiter dachte nach. »Hier in Geswixt gibt es nicht viel zu sehen. Warum begleitest du mich nicht? Du kannst in meiner Kabine wohnen, bis man dir eine zuteilt.«
»Vielen Dank, Ulunegjeprok.«
Sein neuer Freund sah sich um. »Wo ist dein Gepäck?«
»Man hat es nicht mehr verstaut, weil ich früher als geplant hergeflogen bin«, erklärte Des. »Mach dir um mich keine Sorgen! In ein paar Tagen wird man es mir nachsenden.«
»Du kannst dir ein paar Sachen von mir leihen, wenn du willst. Wie ich sehe, hast du schon einen Kaltwetteranzug.« Er deutete auf die spezielle Schutzkleidung, die einen Großteil von Desvendapurs Körper bedeckte. »Ich muss überprüfen, ob hier noch mehr Fracht für die Küche rumsteht. Falls nicht, können wir in einem halben Zeitteil aufbrechen.«
»Ich treffe dich hier an dieser Stelle«, versicherte Des ihm.
Dann ließ der Dichter den Nahrungszubereiter zurück und eilte vom einen Teil des Terminals zum anderen, auf der Suche nach Melnibicon. Als er sie schließlich fand, unterhielt sie sich gerade mit zwei älteren Thranx. Des bemühte sich, seine Aufregung zu verbergen, als er sie beiseite zog.
»Was ist los?« Sie beäugte ihn misstrauisch. »Deine Stigmen sind geweitet.«
»Ich habe ... jemanden getroffen«, beeilte er sich zu erklären. »Einen alten Freund. Er hat mich eingeladen, eine Weile bei ihm zu bleiben.«
»Was soll das denn? Das kannst du nicht machen!« Die betagte Fliegerin sah sich peinlich berührt um. »Ich bin schon ein Risiko eingegangen, dich nur für einen Nachmittag mit herzunehmen. Ich kann dich nicht hier lassen. Wenn du fort bist, wird man Fragen stellen.«
»Ich kümmere mich darum. Ich werde dich nicht in diese Sache hineinziehen, Melnibicon.«
Sie trat einen Schritt zurück und machte mit beiden Fußhänden eine abwehrende Geste. »Bei den Blutparasiten, das wirst du nicht! Ich bin schon an der Sache beteiligt. Du bist mit mir hierher geflogen, Besänftiger, und du wirst auch wieder mit mir zurückfliegen!«
»Ich bleibe nur für ein oder zwei Tage«, flehte er sie an. »Man wird mich nicht vermissen.«
»Was ist mit deinen täglichen Vorträgen, deinen Rundgängen?«
»Sag jedem, der nach mir fragt, dass ich mich nicht wohl fühle, dass ich innerlich aufgewühlt bin und mich selbst besänftige. Sag Heul, sie soll das Schloss an der Tür zu meiner Unterkunft aktivieren.«
»Also willst du sie auch in diese Sache hineinziehen! Da werde ich nicht mitmachen, Desvendapur! Wenn du deine Zeit hier verbringen willst, reiche auf dem offiziellen Weg einen Antrag ein.«
»Der würde nicht genehmigt«, argumentierte er. »Das weißt du auch. Geswixt ist ein Reiseziel, zu dem nur bestimmte Leute Zutritt haben.«
»Und genau deshalb wirst auch mit mir zurückkommen.« Sie wandte sich von ihm ab. »Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, Besänftiger, ich habe das Gespräch mit meinen Freunden noch nicht beendet.«
Reglos stand Desvendapur da. Seine Gedanken waren aufgewühlt, und Wut stieg in ihm hoch, als Melnibicon ihn hartnäckig ignorierte. Es war unhöflich von ihm, bei ihr stehen zu bleiben, doch sie blieb eisern. Da sie ihn nicht beachtete, fühlten ihre Freunde sich ebenfalls nicht dazu verpflichtet. Er verbarg seine wachsende Frustration und Wut, wandte sich ab und ging durch das breite, flache Terminal zurück. Er würde zur verabredeten Zeit am Treffpunkt sein, den er mit seinem neuen Freund ausgemacht hatte. Doch zunächst musste er noch einmal zum Gleiter, mit dem er von Honydrop hierher gelangt war.
Während er das Terminal durchquerte, hatte er Zeit, darüber nachzudenken, wie er vorgehen sollte. Obgleich sein Kopf klar war, seine Absicht klar definiert, zögerte er noch immer. Was er vorhatte, war untypisch für ihn - so etwas hatte er noch nie zuvor getan. Aber war das nicht der Ursprung wahrer künstlerischer Inspiration: den Sprung zu wagen, in bislang nie besuchte Regionen vorzudringen, sich von der Konvention und der Einschränkung loszureißen? Die ganze Zeit über rang er mit sich - auf dem Weg zum Gleiter, während er an Bord war und als er ihn wieder verließ. Doch nachdem er sich entschieden hatte, wuchs seine Entschlossenheit mit jedem Schritt, den er sich dem Treffpunkt näherte. Es machte ihn überaus stolz, dass er nicht mehr über die Schulter zurücksah, nicht einmal, als er an Bord des kleinen Lastwagens stieg und gemeinsam mit dem schwatzenden Ulunegjeprok davonfuhr.
Melnibicon würde nach ihm suchen, das wusste er. Sie würde die anderen Thranx fragen, ob sie ihn gesehen hätten. Er bezweifelte, dass sie eine brauchbare Antwort erhalten würde. Alle im Terminal waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Gewiss hatte niemand einen fremden Thranx bemerkt, der entschlossenen Schrittes durch ihr Blickfeld gelaufen war. Letztlich würde Melnibicon aufgeben und fluchend und schimpfend wieder an Bord ihres Gleiters gehen, um nach Honydrop zurückzufliegen. Es war nicht ihre Schuld, wenn er den Abflug verpasste. Nach ihrer Rückkehr würde sie seine Abwesenheit melden, jedweden Tadel dafür, dass sie einen unbefugten Passagier nach Geswixt mitgenommen hatte, akzeptieren und sich dann wieder um ihre Angelegenheiten kümmern.
Der Gedanke machte Desvendapur zu schaffen, doch nicht so sehr, dass er sich nicht mit Ulu hätte unterhalten können. Sie redeten über Fremdweltlernahrung und deren mitunter ausgefallene Zubereitungsart, wobei Des vorgab, sehr viel darüber zu wissen, während er sich in Wirklichkeit nicht im Mindesten damit auskannte. Doch je mehr Ulu redete, je mehr Des ihn ›testete‹ und ›überprüfte‹, desto größer wurde der Wissensfundus des Dichters. Als sie schließlich den Kontrollpunkt erreichten, glaubte er, sich bereits begrenzt über Nahrungszubereitung unterhalten zu können. Gewiss wusste er nun mehr darüber als jeder Fachfremde.
Ein versperrter oder bewachter Stockeingang war ein seltener Anblick. Desvendapur nahm an, dass der Zutritt zu dem Wissenschaftskomplex vor ihm ähnlich streng kontrolliert werden würde wie bei einer militärischen Anlage; noch nie zuvor in seinem Leben hatte er einen bewaffneten Wächter gesehen. Doch nun standen gleich zwei vor ihm, und einer von ihnen erkannte Ulunegjeprok gleich wieder. Des' Anspannung wuchs, als der sachliche Wächter seine Aufmerksamkeit auf Ulus Beifahrer richtete. Doch es war schon spät, und der Wächter war müde. Als Ulu ihm fröhlich erklärte, sein Passagier sei ein frisch eingetroffener Arbeiter, den man seiner Abteilung zugeteilt habe, akzeptierte der Thranx mit dem Panzeranzug die Erklärung bereitwillig. Es gab keinen Grund, warum er sie hätte anzweifeln sollen. Wieso sollte jemand, dem es nicht befohlen wurde, sich freiwillig in die Nähe von einem Haufen weichkörpriger, faltengesichtiger, antennenloser, übel riechender Säugetiere begeben? Die Wächter winkten den Transporter durch.
Sie fuhren durch einen sehr langen Stollen, der bis auf die elektronischen Kontrollpunkte, die sie in regelmäßigen Abständen passierten, völlig leer war. Des erkannte, dass ihr Vordringen überwacht wurde. Die Sicherheitsmaßnahmen waren erschreckend. Wie lange würde er sich hier durchmogeln können? Lange genug, um sich zu einigen Strophen inspirieren zu lassen, hoffte er. Zumindest zu einigen gehaltvollen Versen. Nach alledem, was er durchgemacht hatte, um so weit zu kommen, sollte ihm zumindest das gelingen.
Würde Melnibicon bemerken, dass er das Navigationssystem des Gleiters manipuliert hatte? Würde ihr in den Sinn kommen, einen vorprogrammierten Kurs zu überprüfen, dem der Gleiter schon unzählige Male anstandslos gefolgt war? Falls ja, würde seine Freiheit und seine Suche nach Inspiration nur wenige Stunden währen. Falls sie das System nicht überprüfte und sich an Bord ebenso entspannte wie auf dem Hinflug, blieben ihm vielleicht ein bis zwei Tage, bis die Sicherheitsteams ihn schnappten. Ein bis zwei Tage, während derer er mit den Fremdweltlern kommunizieren und den Ansturm fremder Anblicke und Geräusche verarbeiten könnte, die sie ihm hoffentlich böten. Melnibicons eilig umprogrammierter Gleiter würde automatisch zwischen den rilthigen Berggipfeln landen, woraufhin die Bordinstrumente (wenn Des seine Arbeit gut gemacht hatte) versagen würden. Und dann müsste Melnibicon über Funk Hilfe rufen.
Als Desvendapur voller Zorn das Navigationssystem manipuliert hatte, war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass der desorientierte Gleiter auch schlicht gegen einen Berg fliegen könnte.
Der Wartungstunnel, den sie hinabrasten, schien endlos zu sein. Eingeklinkt in die Führungsschiene des Stollens, überließ Ulunegjeprok die Steuerung dem Fahrzeug. Er würde wieder auf manuelle Steuerung umschalten, sobald es erforderlich wäre.
»Wo hast du studiert?«, fragte er seinen neu eingetroffenen, falschen Kollegen unschuldig.
Überaus redegewandt spann Des eine ausführliche Geschichte, in die er all sein Wissen über Hivehom einbrachte. Da Ulu auf Willow-Wane geboren war und den Planeten nie verlassen hatte, würde er Des wohl kaum bei einem Fehler ertappen. Als der Lasttransporter schließlich langsamer wurde und sie sich einer weiteren vom Boden bis zur Decke reichenden Absperrung näherten, war der Dichter fast schon selbst davon überzeugt, ein erfahrener Nahrungszubereiter zu sein.
Er hielt den Atem an, doch die Anlage hinter der Absperrung war enttäuschend gewöhnlich. Jedenfalls wies nichts auf die Anwesenheit von Fremdweltlern hin. Er zauderte, Ulu nach Details auszufragen, weil er nicht übereifrig erscheinen wollte. Davon abgesehen: Je seltener er die Mundwerkzeuge öffnete, desto besser. Schweigen war der beste Weg, um das eigene Unwissen zu verbergen.
Ulunegjeprok bog in einen Nebengang ab und parkte den Lasttransporter schließlich in einer freien Verladebucht. Wortlos half Des ihm beim Entladen, wobei er sich den Anschein gab, als gehöre er zu Ulunegjeprok und wisse genau, was er tue. Die Küchenanlage war sehr groß und weitläufig, makellos sauber und wirkte auf ihn mehr oder minder vertraut, obwohl er einige Geräte erblickte, deren Funktion ihm unbekannt war. Das heißt nicht zwangsläufig, dass sie für die Zubereitung von Säugetiernahrung verwendet werden, dachte er. Er war Dichter, kein Koch, und die einzigen Küchengeräte, mit denen er vertraut war, waren die, die er bislang selbst benutzt hatte.
Ulunegjeprok machte ihn mit einigen Mitarbeitern bekannt, und nicht ohne Stolz stellte Des fest, wie gut es ihm gelang, sich als Fachkollegen auszugeben. Die Mitarbeiter stellten Des wieder anderen Kollegen vor, mit dem Ergebnis, dass er bis zum Einbruch der Nacht als vollwertiges Mitglied des Personals akzeptiert war. Da persönlicher Kontakt ihn unter den Kollegen einführte, wunderte sich niemand mehr über seine Anwesenheit. Des half sogar bei der Zubereitung des Nachtmahls, wobei er herausfand, dass das für die Zubereitung des Fremdweltleressens zuständige Personal die riesige Küchenanlage ganz für sich allein hatte.
Zu seiner Überraschung stellte er weiterhin fest, dass er sogar einige der zubereiteten Speisen kannte. Wohlweislich verschwieg er diese Tatsache, wollte er sich doch seine Unwissenheit nicht anmerken lassen. Trotzdem war es faszinierend, dass die Menschen auch Thranx-Nahrung essen konnten.
»Natürlich nicht alles davon«, bemerkte Ulu während der Arbeit, »aber das weißt du ja ohnehin schon. Glücklicherweise bitten sie uns nicht darum, ihnen bei der Zubereitung von Fleisch zu helfen.«
»Fleisch?« Desvendapur wusste nicht genau, ob er den Zubereiter richtig verstanden hatte.
»Ja klar, mach nur Witze darüber!«, pfiff Ulu. »Ich kann es mir ja selbst nicht vorstellen. Sie haben uns auf den Speziallehrgängen davor gewarnt, aber der Gedanke, dass intelligente Wesen das Fleisch von anderen Säugetieren essen, war trotzdem ziemlich grauenvoll. Findest du das nicht auch?«
»Oh, allerdings«, improvisierte Desvendapur schnell. »Fleischesser! Das scheint sich überhaupt nicht mit wahrer Intelligenz zu vertragen!«
»Ich habe ihnen noch nie beim Essen zugesehen. Ich erinnere mich noch, dass ich zu Beginn des ersten Seminars gefragt habe, warum sie ihr Essen nicht selbst zubereiten, aber wie du weißt, will man ihnen den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich machen. Das bedeutet, sie müssen lernen, das von uns zubereitete Essen zu verzehren.« Er kicherte pfeifend. »Was würden die Medien nicht alles für die Information geben, dass nicht nur auf Hivehom ein Kontaktprojekt durchgeführt wird!« Es blitzte in seinen Komplexaugen auf, als er zu Des hinübersah, der bis zu den Fußhänden mit einer weißen Substanz namens Mehl bedeckt war. »Wäre es nicht lustig, wenn du in Wirklichkeit ein Korrespondent wärst, der sich hier eingeschleust hätte, und kein Nahrungszubereiter?«
Desvendapur lachte auf, inbrünstig hoffend, dass sein Lachen ungezwungen wirkte. »Was für eine amüsante Vorstellung, Ulu! Natürlich hat man mich genauso zur Verschwiegenheit verpflichtet wie alle anderen, die man für die Zusammenarbeit mit den Fremdweltlern ausgewählt hat.«
»Natürlich.« Ulunegjeprok formte das nasse Mehl zu Laiben. Des, der mit jeder Minute etwas Neues und Nützliches lernte, machte es ihm mit rasch zunehmender Geschicklichkeit nach. Fremdweltlernahrung war eine gute Grundlage für ein bis zwei nette Vierzeiler, aber wo waren die Fremdweltler selbst? Wo? Würde er Gelegenheit bekommen, nicht nur das Essen für sie zuzubereiten, sondern sie sogar beim Verzehr der Speisen zu beobachten?
Würde er zusehen können, wie sie ihre biegsamen Mundwerkzeuge bewegten oder ihre lange rosa Zunge, die wie eine symbiotische Schnecke in ihren Mündern saß? Das würde ihn zu mehr als nur einigen Strophen inspirieren! Entsetzen war immer ein wirksamer Stimulus.
Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Die zubereiteten Speisen wurden zur Weiterverarbeitung abgeholt: Küchenmeister würde ihnen den letzten Schliff geben und sie dann bei den Menschen abliefern. Das Zubereitungspersonal blieb allein in der Küche zurück, wo es vor Dienstende noch alles sauber machen musste. Schließlich folgte Desvendapur Ulu zu dessen Unterkunft, wobei er sich alles, was er unterwegs sah, genau einprägte; auch hier lernte er mit jedem Schritt etwas Nützliches und Neues.
»Morgen früh muss ich mich melden und meine Papiere vorlegen, deshalb werde ich später in der Küche erscheinen«, erklärte er Ulu, als sie Vorkehrungen trafen, sich zur Ruhe zu legen. »Ich möchte mich schon einmal bei dir für alles bedanken, was du für mich getan hast, und für deine Gastfreundschaft.«
»Ich bin froh, helfen zu können«, erwiderte der Zubereiter arglos. »In der Küche ist jeder Helfer sehr willkommen. Du machst deine Arbeit gut!«
»Ich hatte eine exzellente Ausbildung.« Mittlerweile glaubte Desvendapur das schon selbst. Momentan war er nicht nur ein Amateurdichter, sondern ein professioneller Nahrungszubereiter, einer, der sich auf fremdweltlerische Küche spezialisiert hatte, jemand, der schon von jeher in großen, professionellen Küchen zu Hause war.
Als er am folgenden Morgen vom Tod Melnibicons erfuhr, drohte dies seine Entschlossenheit ebenso zu erschüttern wie seine Zuversicht.
Er hatte ihren Tod nicht gewollt, sondern nur ihre Rückkehr um einen Tag verzögern wollen, um tiefer in die Geheimnisse von Geswixt vordringen zu können. Doch er war gezwungen, das Schuldgefühl, das ihn zu überwältigen drohte, zu unterdrücken, um darüber nachzudenken, welche verworrenen Folgen der Absturz des Gleiters für ihn hatte.
Offiziell würde man sicher annehmen, dass das Unglück nicht nur Melnibicons Leben gefordert hätte, sondern auch das eines gewissen Desvendapur, Dichter und Besänftiger, den die Pilotin unerlaubt für einen Nachmittag nach Geswixt mitgenommen hatte. Dennoch hatte man natürlich keine weitere Leiche aus dem verbrannten Wrack bergen können.
Des war von einem Moment zum anderen zu einer nicht existierenden Person geworden. Desvendapur der Besänftiger lebte nicht mehr. Seine Familie und sein Clan würden trauern. Ebenso wie Heul, für kurze Zeit. Dann würden sie alle ihr Leben weiterleben. Was Des selbst betraf, so hatte er nun die Chance, noch einmal von vorn zu beginnen - als einfacher, hart arbeitender, niederer Nahrungszubereiter für Menschen.
Doch zunächst musste er sich eine Unterkunft beschaffen, ganz zu schweigen von einer Identität.
Es gab eine Reihe von leer stehenden Wohnkabinen im Stock. Er bezog eine, die so weit wie möglich von der nächsten bewohnten Unterkunft entfernt lag. Dass er keinerlei Habseligkeiten hatte, die er darin verstauen könnte, würde einen etwaigen Besucher verwirren, doch er rechnete eigentlich nicht damit, sonderlich viel Besuch zu bekommen.
Da sein persönliches Guthaben gemeinsam mit seiner früheren Identität verschwunden war, würde er sich ein neues bei den Finanzeinrichtungen von Geswixt aufbauen müssen.
Einen persönlichen Ausweis zu fälschen war ein schweres Verbrechen, doch solche ethischen Überlegungen belasteten Des nicht mehr. Nicht nachdem er jemanden getötet hatte, wie wenig das auch immer seine Absicht gewesen war. Künstler sterben für ihre Kunst, und Melnibicon ist für meine Kunst gestorben, versuchte er sich einzureden. Er würde ein angemessenes Gedicht zu ihrem Andenken verfassen, in Tanzversen. Das wäre eine größere Ehre, als jemandem wie ihr normalerweise zuteil werden würde. Dafür durfte sie dankbar sein. Gewiss wären ihr Clan und ihre Familie dankbar. Doch bis er dieses Werk in Angriff nehmen konnte, hatte er noch wichtigere Dinge zu tun, als den Tod eines Individuums zu betrauern, das ihm praktisch völlig fremd und von unbestreitbar geringer Bedeutung gewesen war.
Mithilfe der elektronischen Geräte in seiner Wohnkammer war es überraschend leicht, sich eine neue Identität zu verschaffen - zumal er sein neues Ich nicht als Spezialisten für Militärwaffen klassifizierte oder als Kommunikationsexperten oder Finanzverwalter. Wer würde schon vermuten, dass ein Nahrungszubereiter niedersten Ranges die eigene Identität gefälscht hatte? Mit einigen wenigen virtuellen Handgriffen änderte er seinen Namen in Desvenbapur - eine Änderung, die ihn hinreichend von dem toten Dichter abhob, aber nicht so radikal war, dass er seinen alten Identitätsbrief komplett fälschen musste.
Er wartete gespannt, während das Stocknetz seine Anmeldung verarbeitete. Weil er nun in Geswixt eine Anstellung hatte und sich darauf verlassen konnte, dass die anderen sein neues Ich bestätigen würden, akzeptierte der Computer seine Anmeldung und zeigte ein Kreditsaldo von null an. Nachdem das System seine Anmeldung bestätigt hatte, dachte niemand mehr daran, seine Anwesenheit in Frage zu stellen. Mit jedem Tag, den er intensiv mit einer Arbeit verbrachte, für die er stark überqualifiziert war, wurde er immer geschickter darin.
Schließlich kam der Tag, an dem ein neuer Hygienetechniker samt Gepäck eintraf und Desvendapurs vormals unbelegte Wohnkabine für sich beanspruchte. Als der Techniker feststellte, dass bereits jemand darin wohnte, meldeten sich beide Thranx bei der für die Vergabe der Unterkünfte zuständigen Beamtin. Die Beamte, mit wichtigeren Angelegenheiten beschäftigt, bestätigte, dass es sich eindeutig um ein Versehen handeln müsse. Da sich Ulunegjeprok und andere Mitarbeiter für den freundlichen Des verbürgten, wies sie dem Hygienetechniker einfach eine andere Wohnkabine zu und trug den Dichter in der Stockdatenbank als offiziellen Bewohner der Unterkunft ein, die er sich illegal angeeignet hatte.
Da er nun eine offizielle Unterkunft besaß, gewährte man ihm auch eine Kreditlinie für das Konto, auf das sein jahreszeitliches Einkommen von nun an überwiesen würde (nachdem Des' Freunde den zuständigen Finanzbeamten des Stocks davon in Kenntnis gesetzt hatten, dass ihr Freund nicht bezahlt wurde, wurde das Versehen eilig korrigiert). Mit seiner offiziellen Anstellung war Desvendapurs Wandel zu Desvenbapur komplett. Zwar war es nach wie vor möglich, dass man ihm auf die Schliche kommen würde, doch mit jedem verstreichenden Tag wurde das immer unwahrscheinlicher. Mit einem überaus tüchtigen und arbeitswilligen Helfer gesegnet, der praktisch aus dem Nichts aufgetaucht war, freute sich der Leiter der Nahrungszubereitung sehr über die zusätzliche, in jeder Hinsicht legale Hilfskraft. Des' Name gelangte standardmäßig in die offiziellen Datenbanken, in denen die Daten über das tägliche Leben im Stockkomplex gespeichert wurden. Desvenbapur der Nahrungszubereiter wurde im Zuge der herkömmlichen bürokratischen Osmose zu einer real existierenden Person.
Er erfuhr, dass die Stock-Obrigkeit jeden Angestellten, ganz gleich welcher Tätigkeit, dazu ermutigte, sich über die Menschen zu informieren. Des zögerte nicht lange, diese kostenlose Bildungsmöglichkeit zu nutzen. In seiner dienstfreien Zeit befasste er sich mit der Geschichte des Kontakts zwischen Thranx und Menschheit, den offiziellen Aufzeichnungen über das laufende Projekt auf Hivehom und den zögerlichen, aber fortlaufenden Versuchen, die Beziehungen zwischen den beiden von Grund auf verschiedenen, vorsichtig agierenden Spezies zu vertiefen. In den offiziellen Datenbanken ließ sich nichts über ein weiteres Projekt auf Geswixt finden. Der öffentlich zugänglichen Geschichte zufolge existierte der Komplex gar nicht.
Desvendapur fürchtete sich davor, befördert zu werden, doch obwohl er sich bemühte, es zu vermeiden, verfassten seine Vorgesetzten Empfehlungsschreiben. Die Alternative wäre gewesen, seine Arbeit nicht so gewissenhaft zu erledigen, schlechtere Leistungen zu zeigen, doch das hätte womöglich sogar noch mehr Aufmerksamkeit nach sich gezogen, und zwar jene Art von Aufmerksamkeit, auf die Des gern verzichten wollte. Daher bemühte er sich nach wie vor um die Gunst seiner Mitarbeiter, tat aber nicht mehr, als von ihm verlangt wurde; er suchte Sicherheit in der Anonymität.
Des wusste bereits mehr über menschliche Nahrungsaufnahme als alle anderen (außer den Biochemikern und den anderen Spezialisten), und er absorbierte alles, was er über die Zweifüßer in Erfahrung bringen konnte, angefangen bei ihrem Aussehen, über ihren Kunstgeschmack bis hin zu ihren Freizeitbeschäftigungen und Paarungsgewohnheiten. Dass viele Informationen über die Menschen in der Datenbank als unbekannt vermerkt waren, überraschte ihn nicht. Obgleich man Fortschritte machte, entwickelten sich die Beziehungen zwischen beiden Spezies noch immer geprägt von äußerster Vorsicht und folgten keinem festen Zeitplan - offiziell schritten sie nur in Form des einzigen anerkannten Projekts auf Hivehom voran.
Der Grund für den geheimen Komplex in Geswixt lag auf der Hand: Beide Seiten wollten die Verbesserung der Beziehungen beschleunigen, mehr Möglichkeiten dazu schaffen, die gegenseitigen Ansichten und Standpunkte auszutauschen und voneinander zu lernen. Doch das musste auf eine Weise geschehen, die die allgemeine Bevölkerung nicht beunruhigte. Selbst nach gut vierzehn Jahren waren beide Seiten noch weit davon entfernt, einander vorbehaltlos zu vertrauen. Die Thranx hatten mehr Erfahrung mit doppelzüngigen, betrügerischen Intelligenzen, als ihnen lieb war - vor allem mit den AAnn. Gewiss, diese weichhäutigen Menschen schienen recht umgänglich zu sein, aber was wäre, wenn das nur ein Trick war, ein Täuschungsmanöver, der Versuch, die Stöcke in fataler Sicherheit zu wiegen, um sie übertölpeln zu können? Niemand wollte ein weiteres Paszex auf Hivehom erleben ... oder irgendwo anders.
Die Menschen hegten ebenfalls solche, wenn nicht sogar noch größere Sorgen. Da Insekten in der Evolutionsgeschichte die Erbfeinde der Menschheit waren, konnten sich viele Menschen nur schwer an den Gedanken gewöhnen, sich mit den Thranx, den riesigen, wenngleich entfernten Verwandten dieser Erbfeinde, eng anzufreunden. Einwände und Bedenken wurden weniger aus intellektuellen als vielmehr aus emotionalen Gründen erhoben.
Daher machten sich beide Spezies ein immer besseres Bild voneinander, studierten und lernten, und während sie das taten, behielten sie die Aktivitäten der AAnn und der anderen bekannten intelligenten Spezies genau im Auge. Der geheime Komplex nördlich von Geswixt war der Versuch der Thranx, die Beziehungen zur Menschheit schneller voranzutreiben.
Desvendapur durchrieselte jedes Mal ein herrlicher Schauder instinktiven Abscheus, wenn er in seiner Wohnkabine die dreidimensionale Projektion eines Menschen aufrief, und er linderte seinen Ekel, indem er einige neue Sonette verfasste, inklusive der zugehörigen Choreografie. Diese Daten verschlüsselte er und sicherte sie äußerst sorgfältig, damit niemand zufällig darüber stolperte und sich über die außergewöhnlich ästhetische Ausdrucksweise eines einfachen Nahrungszubereiters wunderte. Die Zeilen, die er ersann, klangen elegant, seine Neuschöpfungen raffiniert, doch mangelte es ihnen an dem Feuer, das er so verzweifelt suchte. Wo war die Explosion der Genialität, die sein Werk unverkennbar machen würde? Wie sollte er lyrische Sätze von solcher Pracht formulieren, dass sie seine Zuhörer überwältigen würden? In seiner Freizeit stürzte er sich in das Studium der menschlichen Hauptsprache - obwohl er die Information, dass sich die Menschen noch immer dutzender Sprachen bedienten, für einen subtilen Witz hielt. Eine absurde Vorstellung, selbst wenn es um so fremdartige Wesen wie die Menschen ging. Verschiedene Dialekte mochten durchaus existieren, aber verschiedene Sprachen? Dutzende davon? Wie sollte sich aus einem derart kontraproduktiven Geplapper eine Zivilisation erheben? Desvendapur kam zu dem Schluss, dass sich die ersten Linguisten, die mit den Menschen in Kontakt getreten waren, gewiss einen kleinen Scherz auf Kosten derer geleistet hatten, die nach ihnen kamen; er ignorierte die Behauptung, dass die Zweifüßer so viele Sprachen benutzten, und konzentrierte sich auf die Sprache, derer sich die Menschen beim Erstkontakt mit den Thranx bedient hatten.
Bei der Artikulation verwandten die Menschen vorwiegend scheußliche gutturale Laute, die Nieder-Thranx wie einen klaren Strom klingen ließen, der über vom Wasser glatt polierte Steine fließt. Die Laute waren zwar nicht unaussprechlich, aber doch schwierig zu artikulieren. Wo waren die Pfeif- und Klicklaute, die einer zivilisierten Sprache so viel Farbe und Vielfalt verliehen? Ganz zu schweigen von den modulierten Stridulationen, die die Menschen anscheinend nicht einmal ansatzweise nachahmen konnten. Obwohl es schwer zu glauben war, deuteten einige Aufzeichnungen darauf hin, dass es menschliche Linguisten gab, die sowohl Hoch- als auch Nieder-Thranx zumindest teilweise beherrschten. Darüber hinaus hatten sie wie die AAnn die Fähigkeit, durch ihre Münder zu atmen anstatt durch speziell dafür entwickelte Atmungsöffnungen, wie die Thranx und andere Spezies sie hatten. Ähnlich wie bei den AAnn saßen ihre Atemöffnungen in ihren Gesichtern - und wie bei den reptilienähnlichen Wesen ballten sich auch im menschlichen Gesicht mehrere wichtige Sinnesorgane. Und die Zweifüßer hatten nur zwei Atemöffnungen! Die Thranx hatten gleich acht, vier auf jeder Seite des Thorax. Angesichts eines derart nachteiligen Körperbaus hielt Des es für ein kleines Wunder, dass die Menschen genug Luft einatmen konnten, um ihr Blut mit genügend Sauerstoff anzureichern.
Da er niemanden hatte, mit dem er üben konnte, lernte er in der Einsamkeit seiner Wohnkabine einige Phrasen der Menschensprache, indem er sie ständig wiederholte. Während er lernte, dichtete er und wartete darauf, dass ihn Inspiration wie ein Blitzschlag treffen würde. Er wusste, was ihn inspirieren würde, und wünschte es sich mehr als alles andere: einem der Menschen leibhaftig zu begegnen. Er kannte ihre Nahrung, oder zumindest die Thranx-Nahrung, die sie verdauen konnten. Jetzt wollte er sie selbst kennen lernen.
Er lebte schon seit über einem Jahr im Geswixt- Komplex, lange genug, um erste Verzweiflung zu empfinden. Doch schließlich bot sich ihm eine Gelegenheit.