14
Die richtigen Worte zu finden hatte noch nie zu Cheelo Montoyas Stärken gehört. Auch jetzt, tief im Regenwald, wusste er nicht, was er auf die überraschende Bitte seines Gegenübers erwidern sollte. Angestrengt suchte er nach einer passenden Antwort.
Das Letzte, was er wollte, war Gesellschaft. Wenn er allein unterwegs war, standen seine Chancen weit besser, den örtlichen Behörden zu entgehen. Er sah keinen Nutzen darin, sich von einem neugierigen Künstler regelrecht beschatten zu lassen, ganz gleich ob Mensch oder Außerirdischer.
Da ihm keine Pauschalantwort einfallen wollte, hielt er den Thranx hin. »Wieso sollte ich dich mitnehmen wollen?«
»Ich bin ... ich interessiere mich schon für Ihre Spezies, seit ich von dem Pionierprojekt auf Willow-Wane gehört habe, welches das gegenseitige Verständnis und die Kommunikation zwischen unseren Spezies fördern soll. Schon vor langer Zeit habe ich beschlossen, dass ich, nur mit meinem Wissen und meinen Fähigkeiten gerüstet, euch Menschen persönlich kennen lernen will. Ich glaube, mir hier eine völlig neue Inspirationsquelle erschließen zu können, die für meine Brüder bisher tabu war.«
Cheelo konnte sich ein höhnisches Schnauben nicht verkneifen. »Wenn du Inspiration suchst, wirst du sie in meiner Gesellschaft nicht finden.«
»Erlauben Sie mir, das selbst herauszufinden.«
Was für ein förmliches Insekt, dachte Cheelo. Ob die alle
so sind? »Ich reise immer allein.« Er deutete auf den umliegenden Regenwald. »Bietet dir das nicht genug Inspiration? Eine völlig neue Welt, die du erforschen kannst?«
»Sie ist wundervoll«, pflichtete Desvendapur ihm bei, »aber ich will nicht nur mit meinen, sondern lieber mit Ihren Augen sehen - so sonderbar sie auch sind. Verstehen Sie? In Ihrer Gesellschaft erlebe ich alles doppelt: So, wie ich es wahrnehme, und so, wie Sie es sehen.«
»Tja, dann du wirst diese Welt hier wohl mit deinen eigenen Sinnen erforschen müssen! Ich hab nicht gern Gesellschaft.« Zum zweiten Mal wandte er sich ab.
»Wenn Sie mich nicht mitnehmen wollen, werde ich Sie den hiesigen Menschenbehörden melden«, drohte der Dichter schnell.
Diesmal grinste Cheelo wölfisch. »Nein, das wirst du nicht tun! Weil du nämlich auch nicht hier sein darfst. Deine kleine Forschungsexpedition hat ihre Antennen weit, weit über das Areal hinausgestreckt, in dem sich außerirdische Besucher offiziell aufhalten dürfen. Das weiß sogar ich. Du darfst dich hier nicht herumtreiben. Eigentlich müsste ich dir drohen, dich zu melden!«
Desvendapur dachte nach. »Warum tun Sie es dann nicht?«
»Das weißt du schon. Weil ich mich dann selbst verraten würde. Ich darf mich hier nicht aufhalten und du auch nicht. Also kann keiner von uns riskieren, den anderen zu melden. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich dir erlaube, mir zu folgen!«
»Mir wäre es lieber, wenn Sie kooperieren würden.« Die Fühler des Thranx kamen nie ganz zur Ruhe, wie Cheelo bemerkte. »Aber notfalls folge ich Ihnen und beobachte von weitem, wie Sie sich hier im Wald verhalten.«
»Nein, das wirst du nicht tun.« Der große Mensch tätschelte sein Holster. »Denn wenn du das machst, verspritze ich deine Insekteninnereien im ganzen Regenwald.«
Der Außerirdische neigte den herzförmigen Kopf und sah die Waffe an. »Das ist aber ein sehr aggressives Verhalten für jemanden mit naturwissenschaftlicher Profession!«
»Wir alle haben unsere Charakterschwächen.« Cheelo presste die Lippen zusammen, sodass sie wie ein schmaler Strich wirkten.
Der bedrohliche Gesichtsausdruck des Menschen beeindruckte den nachdenklichen Desvendapur nicht im Mindesten, die Worte des Zweifüßers hingegen schon. Ob dem Menschen bewusst war, wie Recht er mit seiner letzten Bemerkung hatte? Des bezweifelte es.
»Sie werden mich nicht erschießen. Wenn ich mich nicht in bestimmten Abständen bei meinen Stockgefährten melde, werden sie mich suchen kommen. Wenn sie sehen, wie ich ums Leben gekommen bin, machen sie Jagd auf Sie!«
»Das Risiko gehe ich ein.« Cheelos Finger zuckten zum Holster. »Wenn deine Kumpels deine Überreste identifizieren können, nachdem die Kaimane und Piranhas mit dir fertig sind, sind sie die besten Pathologen, von denen ich je gehört hab.«
Desvendapur musste ihn nicht erst bitten, ihm diese Bemerkung näher zu erklären. Er kannte die beiden heimischen Raubtierarten, die der Mensch erwähnt hatte, aus seinen Studien. »Woher wollen Sie wissen, dass Ihre einheimischen Fleischfresser meinen Körper schmackhaft finden? Sie werden mich ignorieren. Meine Leiche wird auf dem Wasser treiben, bis jemand sie findet. Dann werden meine Gefährten mich schonungslos und grausam rächen.«
Das stimmte nicht, wie Desvendapur genau wusste. Seine Gefährten würden sich nur um eines kümmern: seine Leiche zu beseitigen, damit keine anderen Menschen sie fänden und unangenehme Fragen stellten. Doch das wusste der Zweifüßer nicht. Ich nehme an, er weiß nicht mehr über uns Thranx, als ich ihm verrate, dachte Des.
Mensch und Thranx musterten einander, beide außerstande, die wahren Absichten des anderen zu durchschauen - ein Problem, das auch zwischen ihren Spezies im Allgemeinen bestand. Beide waren sie nicht zur interspeziären Kontaktaufnahme ausgebildet worden. Sie handelten rein emotional und instinktiv und machten ihr mangelndes Wissen über den anderen wieder wett, indem sie Erfahrung sammelten, immer mehr über den anderen lernten.
»Also schön.« Cheelo nahm widerwillig die Hand von der Waffe. »Vielleicht erschieße ich dich nicht. Aber trotzdem bin ich nicht damit einverstanden, dass du mir folgst!«
»Wieso nicht? Wenn Sie es mir gestatten, werde ich Sie nicht stören. Sie können Ihre Forschungen fortsetzen und so tun, als wäre ich gar nicht da. Ich will Sie nur beobachten, Aufzeichnungen machen und dichten.«
Meine Forschung fortsetzen, dachte Cheelo. Das Einzige, wonach er forschte, war, wie er der Polizei immer einen Schritt voraus sein konnte. Ein achtbeiniges Insekt würde ihm dabei keine Hilfe sein.
Doch obwohl der hart gepanzerte Dichter von einer anderen Welt stammte, schien er recht viel über den Regenwald zu wissen. Er hatte erwähnt, dass er die Gegend studiert habe. Und auch wenn das kein Vorteil war, wäre es zumindest nicht hinderlich. Jetzt, wo Cheelo darüber nachdachte, kam ihm ein interessanter Gedanke: Falls die Polizei ihn doch aufspüren sollte, könnte er behaupten, dass er einen geheimen Vorposten der Außerirdischen entdeckt habe - natürlich erst, nachdem er das Insekt erschossen hätte, damit es seine Geschichte nicht dementieren konnte. Wenn er den Thranx weder mit Drohungen noch mit seiner Überredungskunst loswerden konnte, musste er wenigstens eine Möglichkeit finden, einen Vorteil daraus zu ziehen. Das war etwas, worin Cheelo Montoya schon immer gut gewesen war.
»Da hast du wohl Recht«, brummte er deshalb letztendlich. »Ich kann dich nicht davon abhalten, mir zu folgen. Und obwohl ich dein Geschwafel von deinen Insektenfreunden, die dich rächen werden, nicht so ganz glaube, will ich es nicht riskieren, dich umzulegen. Jedenfalls nicht jetzt gleich. Komm mir einfach nicht in die Quere und mach deine Aufzeichnungen oder Gedichte oder was auch immer so lautlos wie möglich, klar!«
»Ich werde mich praktisch in nichts auflösen«, versicherte Desvendapur ihm erfreut und sehr erleichtert.
Zu dumm, dass du das nicht wirklich machst!, schoss es Cheelo durch den Kopf. Vielleicht würde der Außerirdische in einem Fluss ertrinken oder sich ein paar Beine brechen und zurückfallen. Dafür könnte man Cheelo nicht verantwortlich machen. Vielleicht böte sich ihm ja schon bald die Gelegenheit, einen solchen ›Unfall‹ herbeizuführen. Falls nicht, nun, hatte das Insekt nicht gesagt, dass es nur einen Monat Zeit hatte, um seine Arbeit zu erledigen? Cheelo müsste den Regenwald ohnehin schon früher verlassen und die Rückreise nach Golfito antreten.
Wie schnell konnte ein Thranx laufen? Wie ausdauernd war er? Wenn der vielgliedrige Poet erst versucht haben würde, dem flinken, hartgesottenen Dieb ein oder zwei Tage lang zu folgen und mit ihm Schritt zu halten, würde er vielleicht beschließen, sich seine Inspiration auf weniger ermüdende Weise zu suchen. Cheelo würde ein ordentliches Tempo vorlegen, jawohl!
»Na, dann komm mal mit!« Er drehte sich um, machte eine Handbewegung - und erstarrte mitten in der Bewegung. Als er den Kopf wandte, war ihm die Unsicherheit vom Gesicht abzulesen; prüfend sog der Mensch die Luft ein. Er schnüffelte! Für Desvendapur, der Gerüche mit seinen Antennen wahrnahm, war das ein faszinierender Anblick, dem er einige originelle und höchst bizarre Strophen widmen würde.
»Was ist los? Was tun Sie da?«
»Ich riech was. Ist doch wohl klar, oder?« Als Cheelo weder im Gesicht des Außerirdischen noch sonst wo auf dessen Körper etwas entdeckte, das wie Nasenlöcher aussah, fügte er knapp hinzu: »Nein, das ist dir wohl nicht klar. Ich atme die Luft ein, um Gerüche wahrzunehmen. Genauer gesagt, hab ich gerade einen ganz bestimmten Geruch in der Nase.«
Desvendapur sträubte die Federn, mit denen seine Antennen besetzt waren, damit so viel Luft wie möglich zwischen ihnen hindurchströmen konnte. »Und was riechen Sie?«
Als Cheelo sich umdrehte, stellte er fest, dass die Geruchsspur zu dem fremdartigen Außerirdischen mit dem Ektoskelett führte. Es bestand kein Zweifel mehr, woher der schwache, anregende Geruch kam. »Ich rieche dich.«
Der Thranx musterte den großen Zweifüßer misstrauisch. »Und woran erinnert mein Geruch Sie?«
Als Cheelo schnüffelte, sah Desvendapur, wie sich die beiden Öffnungen im Gesicht des Menschen widerlich ausdehnten und wieder zusammenzogen.
»An Rosen. Oder vielleicht Gardenien. Weiß nicht genau. Könnte auch Jasminblüte sein. Oder Bougainvillea.«
»Was sind diese Dinge?« Des war bei seinen Studien auf keinen der Namen gestoßen, die der Mensch genannt hatte.
»Blumen. Du riechst nach Blumen. Ein starker Duft, aber nicht aufdringlich. Das ... das hatte ich nicht erwartet.«
Desvendapur blieb auf der Hut. »Ist das etwas Gutes?«
»Ja.« Der Mensch lächelte - unfreiwillig, wie man ihm deutlich ansah. »Das ist etwas Gutes. Falls ich überrascht wirke, liegt das daran, dass ich wirklich überrascht bin. Insekten riechen normalerweise nicht nach Blumen. Sie stinken.«
»Ich bin kein ›Insekt‹! Wenn ich mich recht erinnere, ist das doch der Oberbegriff, mit dem ihr Menschen die Tierklasse der Arthropoden bezeichnet. Aber Thranx und irdische Insekten sind ein Beispiel für konvergente Evolution. Nun gut, wir haben viel gemeinsam mit euren Insekten, aber es gibt auch signifikante Unterschiede zwischen uns! Lebensformen, die auf Kohlenstoff basieren und sich auf Planeten mit ähnlich hoher Schwerkraft und unter stabilen atmosphärischen und klimatischen Bedingungen entwickelt haben, weisen häufig einen ähnlichen Körperbau auf. Aber verwechseln Sie nie Körperform mit Artverwandtschaft!«
Cheelo kniff die Augen ein wenig zusammen. »Weißt du, für einen Hilfskoch, oder was immer du genau bist, scheinst du ziemlich gebildet.«
Zum Glück konnte Desvendapur nicht verblüfft das Gesicht verziehen - und glücklicherweise verstand der Mensch die thranxische Handgestik nicht. »Die Position, die ich innehabe, erfordert mehr Intelligenz, als Sie vielleicht glauben. Alle Mitglieder meiner Expedition sind Elitespezialisten auf ihrem jeweiligen Fachgebiet, deshalb wurden sie für die Expedition ausgewählt.«
»Na klar.« Cheelo glaubte ihm nicht. Er war dem Außerirdischen zwar gerade erst begegnet, doch wenn sich die Thranx in ihrem Wesen nicht allzu sehr von den Menschen unterschieden (eine Möglichkeit, die man nicht abtun durfte), verheimlichte das Insekt ihm irgendetwas, da war er sich ziemlich sicher.
Erneut sog er prüfend die Luft ein. Diesmal roch der Thranx nach Orchideen - oder war es Hibiskus? Es schien, als verströme der glänzende, blaugrüne Körper nicht einen einzigen Duft, sondern ein komplexes, sich stetig veränderndes Bouquet verschiedener Aromen. Cheelo wunderte sich, dass der Thranx nicht von den Nektar fressenden Waldbewohnern umschwärmt wurde, angefangen bei Kolibris bis hin zu Bienen. Andererseits mochte er zwar einen starken, natürlichen Duftstoff verströmen, sah jedoch nicht gerade wie ein Blumenbeet aus. Und da der Geruchssinn von Vögeln und Bienen weit besser ausgebildet war als beim Menschen, war es wahrscheinlich, dass sie geringe fremdartige Nuancen im Körpergeruch des Thranx wahrnahmen, die Cheelos unempfindlicherem Geruchssinn entgingen.
Welche Überraschungen das Insekt wohl sonst noch auf Lager hatte? »Und ich?«, fragte er neugierig. »Wie rieche ich für dich? Du kannst doch riechen, oder?«
Desvendapur neigte die Antennen vor, doch nicht, bevor er die zahlreichen empfindlichen Federn aneinander legte, damit sie so wenig wie möglich vom Geruch des Zweifüßers wahrnehmen konnten. »Ich kann riechen. Sie ... verströmen einen beißenden Geruch.«
»›Beißend‹«, wiederholte Cheelo. »Klar, okay.« Er drehte sich um und kletterte wieder auf den Baum, um seinen Rucksack zu holen. Desvendapur beobachtete ihn gebannt ... und dichtete eifrig dabei. Nicht einmal der gelenkigste Thranx konnte es in puncto Beweglichkeit mit dem menschlichen Körper und dessen Gliedern aufnehmen. Das will auch keiner von uns können, dachte Des. Seine Reaktion auf den Anblick war in etwa mit der Reaktion eines Menschen zu vergleichen, der einen Oktopus dabei beobachtet, wie dieser den Deckel eines Gurkenglases aufschraubt, um an die darin befindliche Nahrung zu gelangen.
Cheelo wollte den Rucksack gerade zu Boden fallen lassen, als ihm ein Gedanke kam. Er rief: »Hier, mach dich nützlich! Fang das!« Er streckte den Arm aus, den leichten, strapazierfähigen Rucksack in der Hand.
Der Rucksack würde nicht besonders tief fallen, doch Desvendapur wusste nicht, wie schwer er war. Aber nach allem, was er über die menschliche Physiologie gelesen hatte, konnte der Rucksack nicht so schwer sein, dass Verletzungsgefahr für Des bestand. Gehorsam trat er unter den Ast, streckte beide Fußhände aus und legte die kleineren, zierlicheren Echthände schützend an den Körper, damit sie nicht verletzt würden.
»Fertig? Fang!« Cheelo ließ den Rucksack fallen.
Mühelos fing der Thranx ihn mit beiden Fußhänden auf und setzte ihn dann unter Zuhilfenahme der beiden Echthände sanft auf den Boden. Zufrieden rollte Cheelo seine Decke auf und warf sie dem Thranx zu, dann kletterte er wieder zu seinem wenig glaubwürdigen Begleiter hinab. Desvendapur sah schweigend zu, wie der Mensch seine Ausrüstung zusammenschnürte, sich aufrichtete und sie sich auf den Rücken hing. Es war ihm unbegreiflich, warum der Zweifüßer trotz des zusätzlichen Gewichts nicht nach hinten kippte. Obwohl ein ausgewachsener Thranx kleiner und leichter war als ein Mensch und das Gewicht seines schlanken Körpers auf mindestens vier, maximal sechs Beine verteilen konnte, vermochte er deutlich schwerere Lasten zu tragen als selbst ein sehr starker Mensch. Da Desvendapur dies wusste, bot er dem Menschen an: »Soll ich das für Sie ... für dich tragen?« Wieso soll ich ihn siezen?, dachte Des. Schließlich siezt er mich auch nicht. »So, wie du den Sack trägst, drückt sein Gewicht sicher schmerzhaft auf deinen Oberkörper.«
Cheelo beäugte das kleinere Wesen überrascht. »Was soll das denn? Hast du nicht schon selbst genug Gepäck?«
»Ich kann das zusätzliche Gewicht mühelos tragen. Wenn wir zusammenbleiben, sollten wir unsere angeborenen Stärken nutzen. Ich könnte nicht ohne Hilfe auf diesen Baum da klettern, wie du es getan hast, aber ich kann beträchtliche Lasten schleppen. Deinen Rucksack zu tragen ist für mich kein Problem.«
Cheelo grinste. »Das ist wirklich nett von dir.« Er griff an die Trageriemen, um den Rucksack abzustreifen. Plötzlich verschwand sein Lächeln. »Nein, wenn ich's mir genau überlege, behalt ich meine Sachen lieber noch 'ne Weile. Aber danke fürs Angebot.«
Desvendapur antwortete ihm automatisch mit einer angemessenen Geste. Die schnellen Hand- und Fingerbewegungen sagten dem Menschen nichts. »Wie du willst.«
Vielleicht ist sein Angebot aufrichtig gemeint, dachte Cheelo, als er sich umwandte und in den Regenwald schritt. Aber was wusste er schon über die Absichten von Außerirdischen? Angenommen, der Thranx handelte aus niederen Beweggründen. In einem günstigen Moment könnte er auf den Gedanken kommen, mit einem netten Rucksack voller terrestrischer Souvenirs abzuhauen, die ihm ein gutgläubiger, blöder Cheelo Montoya großzügigerweise überlassen hatte. Er wusste so gut wie nichts über die großen Insekten, auch nicht, wie schnell sie rennen konnten. Der Thranx hatte ihm zwar eingestanden, ein erbärmlicher Kletterer zu sein, doch wirkte er überhaupt nicht unbeholfen oder schwerfällig. Cheelo würde jede Wette darauf eingehen, dass der Thranx ein ordentliches Tempo vorlegen konnte, wenn er alle sechs Beine zum Laufen einsetzte.
Der Gedanke, jemand anderem zu erlauben, sein Gepäck durch den heißen, dunstigen Regenwald zu schleppen, war verlockend. Cheelos Rücken und Beine hätten das Angebot sofort dankend angenommen, doch sein Verstand hatte gleich protestiert. Es war auch so schon schwer genug, im großen Regenwald zu überleben. Wenn er jetzt auch noch seine Decke, den elektrischen Insektenabweiser, die Vorräte, den Wasseraufbereiter und die anderen Sachen verlöre, wäre das Überleben nahezu unmöglich. Daher würde er wohl weiterleiden müssen. Er hatte noch genug Zeit, um herauszufinden, ob er einem Wesen mit acht Gliedern, Augen, die wie zerbrochene Spiegel aussahen, und zwei Antennen trauen konnte.
Auf jeden Fall roch dieses Wesen gut.
An diesem Abend konnte Cheelo nicht nur beobachten, wie ein Thranx aß, sondern auch, wie er schlief. Während der Außerirdische eine Flüssigkeit aus einem Gefäß mit schmalem Schnabel saugte und feste Nahrung mit seinen vier einander gegenüberliegenden Mundwerkzeugen zerkaute, fragte Cheelo sich, was das Wesen wohl von seinen Tischmanieren hielt. Die Tatsache, dass es in gebührendem Abstand zu ihm aß, ließ schon so manchen Schluss zu. Cheelo nahm eine Portion von dem Fisch, den er am Vortag gefangen hatte, aus dem Rucksack. Mit augenscheinlichem Interesse sah der Thranx zu, wie Cheelo den Fisch verspeiste, und plapperte und pfiff dabei ohne Unterlass in sein Aufnahmegerät.
Schließlich hielt Cheelo es nicht länger aus. »Ich esse gerade zu Abend. Das ist nichts Besonderes. Daraus kann man doch kein Gedicht machen!«
»Alles, was du tust, ist einen Vers wert, weil es fremd für mich ist. Momentan fesselt mich der Gegensatz zwischen deinem ausgesprochen zivilisierten Verhalten und deinem latenten Barbarismus.«
»Wie bitte?« Cheelo zupfte mit den Fingern ein Stück von dem Fisch ab und entschuppte es mit den Fingernägeln, ehe er davon abbiss. Er kaute langsam.
»Du benutzt zwar die Hilfsmittel und das Wissen einer fortschrittlichen Zivilisation, isst aber das Fleisch eines anderen Lebewesens.«
»Ja, das stimmt. Seid ihr Thranx alle Vegetarier?« Er streckte dem Außerirdischen das Stück scharf riechenden Fischs entgegen. »Das ist bloß ein Fisch.«
»Ein Tier, das im Wasser lebt. Es hat ein Herz, Lungen, ein Nervensystem. Ein Gehirn.«
Cheelo blinzelte in der zunehmenden Dunkelheit. »Was willst du mir damit sagen? Dass ein Fisch denken kann?«
»Wenn er ein Gehirn hat, kann er denken.«
»Nein, nicht besonders viel.« Cheelo kicherte, dann biss er noch ein Stück ab.
»Allein der Gedanke zählt, nicht seine Komplexität. Das ist eine Frage der Moral.«
Der Mensch deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Was hältst du davon, wenn du dir deine Inspiration woanders suchst? Wenn du mich für unmoralisch hältst.«
»Nicht gemessen an menschlichen Standards. Ich würde es mir nicht herausnehmen, einen Vertreter einer anderen Spezies an Standards zu messen, die für meine Spezies gelten.«
»Kluger Bursche!« Cheelo führte das restliche Fischstück zum Mund, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne. »Was für 'ne Art von dichterischer Inspiration kriegst du eigentlich, wenn du mir dabei zusiehst, wie ich einen Fisch esse?«
»Die Inspiration ist barbarisch. Packend. Fremdartig.« Der Thranx plapperte wieder in seinen Sch'reiber.
»Schockierend?«, hakte Cheelo nachdenklich nach.
»Das will ich hoffen. Ich bin nicht den ganzen Weg hierher gereist, unter vielen Entbehrungen, nur um widerliche, kindliche Inspiration zu finden. Ich suche etwas Radikales und Extremes, etwas Gefährliches und Unsicheres. Sogar etwas Hässliches.«
»Und all das findest du, indem du einem Kerl beim Fischessen zusiehst?«, brummte Cheelo. »Ich halte nicht viel von Poesie, hätte aber nichts dagegen, wenn du mir ein paar deiner Werke vortragen würdest. Als deine Inspirationsquelle darf ich das wohl verlangen, glaub ich.«
»Ich würde dir gern etwas vortragen, aber ich fürchte, dass viele Feinheiten und Nuancen bei der Übersetzung verloren gehen. Du verstehst die kulturellen Anspielungen und Bezüge nicht, und manche Gedanken lassen sich schlicht und ergreifend nicht in deine Sprache übertragen. Um sie zu verstehen, müsstest du ein Thranx sein.«
»Ach ja?« Cheelo nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Wasseraufbereiter, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baum, die Knie vor sich gespreizt, und bedachte den übergroßen Arthropoden mit einer gebieterischen Geste. »Stell mich auf die Probe!«
»Dich auf die Probe stellen?«, fragte der Thranx verwirrt.
»Damit meine ich: Trag mir vor, was du verfasst hast!«, erläuterte Cheelo ungeduldig.
»Also schön. Ich trage zwar nur ungern etwas vor, ohne es zuvor geprobt zu haben, aber da du ohnehin nicht viel davon verstehen wirst, spielt es wohl keine Rolle. Wenn ich mein Gedicht in deine Sprache übersetze, kann ich es nicht flüssig vortragen, aber ich hoffe, dass du ein Gefühl dafür bekommst, welche Wirkung ich erzielen will.«
»Warte! Warte mal kurz!« Cheelo durchwühlte seinen Rucksack und holte eine kleine Taschenlampe hervor. Ein Blick zum Blätterdach verriet ihm, dass ihr Lagerplatz aus der Luft kaum zu entdecken war. Keine tief fliegende Sonde versperrte die Aussicht auf die wenigen Sterne, die man durch die Blätter sah, und die Wolken würden sie vor den Blicken aller schützen, die in größerer Höhe unterwegs waren. Cheelo schaltete die Taschenlampe an und legte sie so auf den Boden, dass der matte Lichtkegel den Thranx erfasste. In der Dunkelheit wirkten die steifen Gliedmaßen des Außerirdischen, seine wippenden Antennen und die blitzenden Facettenaugen, als gehörten sie einem atavistischen Monster, das einem Albtraum entsprungen war - doch war es schwer, sich vor etwas zu fürchten, das so roch wie eine Pariser Parfümboutique.
»Ich glaube, der Titel meines neuesten Werkes ist unübersetzbar.«
»Das ist schon in Ordnung.« Cheelo winkte gönnerhaft.
»Ich stell mir einfach vor, dass es ›Fisch essender Mensch‹ heißt.« Cheelo verschlang den restlichen Fisch und leckte sich sodann das Fischfett und winzige weiße Fleischreste von den Fingern. Desvendapur unterdrückte seinen Ekel und begann mit dem Vortrag.
In der tropischen Nacht vermengten sich die Worte des Dichters mit seinen schneidenden, leisen Pfiffen und mit seinen Klicklauten, die sowohl im Klang als auch in der Lautstärke variierten: angefangen bei kaum hörbarem Klopfen bis hin zu rhythmischem Hämmern, das an gedämpfte Trommeln erinnerte. Der Thranx untermalte den imposanten Vortrag mit komplizierten, tänzerischen Gesten und ausholenden Bewegungen, die er mit den vier Vordergliedern und allen sechzehn Fingern vollzog. Seine Antennen zuckten und wanden sich, neigten sich vor und wippten auf und ab, während er den Körper hin und her schwang und verdrehte.
Zuerst fand Cheelo den Anblick ein bisschen beängstigend, doch je mehr er sich an das Aussehen des Thranx gewöhnte, desto weniger betrachtete er ihn als Rieseninsekt, sondern vielmehr als empfindsamen Besucher aus einem fernen Sternensystem. Der Duft frischer Blumen, der dem hart gepanzerten Körper entströmte, beeinflusste Cheelos Bild von dem Thranx gewiss enorm - ganz zu schweigen von Cheelos Haltung ihm gegenüber. Was den Vortrag anbelangte, behielt Desvendapur Recht: Cheelo verstand kaum etwas, doch begriff er immerhin, dass es sich bei dem Vortrag unbestreitbar um eine Art von komplexer, hoch entwickelter Kunst handelte. Sogar um echte Poesie. Während er kein Wort des Dichters verstand, erkannte er in dem Zusammenspiel von Worten, Geräuschen und Bewegungen eine Anmut und Eleganz, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte.
In Armut aufgewachsen, stets am Rande der Gesellschaft, hatte Cheelo Montoya nie viel Gelegenheit gehabt, etwas anderes als die primitivsten aller Kunstformen kennen zu lernen: brutale 3-D-Filme, wilde Popmusik, naive Pornografie, billige Aufputschmittel und schwach dosierte Halluzinogene. Er war sich bewusst, dass das, was er gerade hörte und sah - so fremdartig es auch sein mochte -, ein Kunstwerk von weit höherer Ordnung war. Hatte Cheelo anfangs mit amüsierter Geringschätzung zugesehen, wurde sein Gesichtsausdruck zusehends ernster, je komplizierter die verwobenen Bewegungen und je länger die untermalenden Laute des Thranx wurden. Als der innerlich triumphierende Desvendapur schließlich seinen Vortrag beendete, war die Sonne ganz untergegangen.
»Nun«, fragte er, als der stille Mensch keine Reaktion zeigte, »was hältst du davon? Konntest du dem Vortrag etwas abgewinnen oder war er für dich nichts anderes als bizarres Gemurmel und irre Zuckungen?«
Cheelo schluckte - schwer. Etwas kroch ihm über die linke Hand, ohne ihn zu beißen, und er ignorierte es. In der beinahe völligen Dunkelheit glänzte das blaugrüne Außenskelett des Thranx im hellen Licht der Taschenlampe.
»Ich ... ich hab zwar kein einziges Wort verstanden, aber ich glaube, das war so ziemlich das Schönste, was ich je gesehen und gehört habe.«
Desvendapur war sprachlos. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Mit einer netten, höflichen Geste vielleicht oder mit einer gemurmelten Bemerkung, mit der der Mensch seine verhaltene Wertschätzung ausdrückte, aber nicht mit echtem Lob. Nicht von einem Menschen.
»Aber du sagst doch, dass du nichts verstanden hast.«
Desvendapur trat aus dem Lichtkegel der Taschenlampe in die Dunkelheit und näherte sich dem Menschen - was nicht unriskant war, schließlich wusste er noch nicht, inwieweit der Mensch ihm traute und wie er Des' Annäherung deuten würde.
Cheelo schreckte nicht vor ihm zurück. Zwar konnte er den Thranx nicht mehr sehen, doch wurde der Geruch frisch gepflückter Blumen immer stärker. Mit seinen absurd kleinen, aber nichtsdestoweniger scharfen Augen begegnete er in der Dunkelheit dem Blick des Thranx. »Nicht deine Worte, nein. Kein einziges davon. Aber die Geräusche, die du gemacht hast - wie Musik! - und die Art, wie du deine vier Hände und deinen Körper dazu bewegt hast - das war wunderschön.« Er schüttelte den Kopf hin und her, und Desvendapur bemühte sich, die Bedeutung dieser Geste zu verstehen.
»Ich weiß natürlich nichts über Poesie«, fuhr Cheelo fort, »aber ich hab den Eindruck, dass du dein Hobby sehr gut beherrschst. Andere Leute - Menschen - würden dafür bezahlen, das sehen zu dürfen.«
»Glaubst du wirklich? Wie ich schon sagte, ich bin nur ein Amateur.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie dafür zahlen würden. Ich hab vielleicht nicht viel Ahnung von so was, aber um das einzuschätzen, reicht's. Ich ... würde dafür bezahlen. Und wenn du es irgendwie hinbekämst, deine Sprache ins Terranglo zu übertragen, ohne dass etwas von der Darbietung, von deiner Choreografie verloren geht ... Na, das würde sicher dazu führen, dass sich unsere Spezies besser verstehen und die gegenseitigen Beziehungen verbessern. Gibt denn niemand solche Darbietungen auf dem Projektgelände deiner Heimatwelt zum besten - wie heißt sie doch gleich?«
»Willow-Wane«, murmelte Desvendapur leise. »Ich glaube schon, weiß es aber nicht genau. Über das, was auf dem Projektgelände vor sich geht, weiß ich nur, was der Große Rat der Öffentlichkeit preisgibt. Vielleicht gibt es Besänftiger dort, vielleicht aber auch nicht.«
»Nennt man die Vortragsart so? Besänftigung?« Im spärlichen Licht nickte Cheelo nachdenklich. »Hör mal, ich weiß, ich bin nicht gerade ein Vorzeigepublikum. Ich versteh von solcher Kunst nichts und kann dir nicht mit konstruktiver Kritik dienen, aber wenn du wieder ein Gedicht fertig gestellt hast und den Vortrag üben willst, würde es mich sehr freuen, ihn mir anzusehen.«
»Es hat dir tatsächlich gefallen, stimmt's?« Desvendapur starrte den Zweifüßer an.
»Allerdings. Ich mach dir 'nen Vorschlag. Morgen Abend ess ich was andres, damit du neu inspiriert wirst. Vielleicht versuche ich einen Aguti zu erlegen oder so.«
Desvendapur würgte, und seine Antennen zuckten unkontrolliert. »Bitte verspeise meinetwegen kein Lebewesen!«
»Ich dachte, du willst radikal und extrem stimuliert werden?«
»Mein Geist will das. Bei meinem Verdauungssystem sieht das anders aus.«
Cheelo kreuzte die Beine und grinste. »Gut. Wir werden die Stärke deiner Inspiration schrittweise erhöhen.« Er nahm sich einen Stimulansriegel aus dem Rucksack und riss die Vakuumverpackung von dessen Spitze. Als der Riegel mit der Luft in Kontakt kam, glühte er auf.
Desvendapur beobachtete, wie sich der Mensch das andere Ende des glühenden Riegels zwischen die Lippen steckte und tief inhalierte. Das war mehr, als er hatte hoffen dürfen. Jeder Moment, den er in Gesellschaft des Zweifüßers verbrachte, war ein Quell ungeahnter Erleuchtung. Welches wunderliche Vergnügen es dem Menschen bereitete, sich brennendes organisches Material in den Mund zu stecken, konnte der Thranx sich zwar nicht vorstellen, doch dieses unergründliche Verhalten bescherte ihm genug Einfälle für nicht weniger als zwei vollständige, atmosphärisch dichte Kompositionen, ehe der Abend in die Nacht hinüberglitt und sie sich zur Ruhe begeben mussten.