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Die beiden Touristen sahen aus wie ein wohlhabendes Ehepaar. Bereits zu lange verheiratet, um noch romantisch zu sein, gingen sie nebeneinander her, ohne einander zu berühren oder sich bei den Händen zu halten. Vermutlich machten sie einen Spaziergang im tropischen Platzregen, nur um später den Freunden zu Hause davon erzählen zu können. Jeder Mensch mit einem Hauch Vernunft wäre in seinem netten, trockenen Hotel geblieben, bis die Wolken sich aufgelöst hätten. Das taten jedenfalls die Anwohner von San Jose. Und auch die meisten Touristen.
Aber nicht diese zwei. Da sie einen entsprechenden elektrostatischen Regenabweiser bei sich trugen, wurden nur ihre Köpfe nass, und das auch nur, wenn sie unter den großen, anpassungsfähigen Schutzfeldern hervorlugten. Das laue Wasser traf auf die unsichtbaren Kraftfelder und prallte von ihnen ab, wodurch die Spaziergänger und ihre teure Kleidung behaglich trocken blieben.
Montoya folgte dem Paar in unauffälliger Entfernung. Es waren noch einige Leute im starken Regen unterwegs, manche schlenderten, manche rannten. Hier im historischen Stadtkern, wo sich an den den Hügeln folgenden Straßen und Sträßchen Geschäft an Geschäft reihte, lieferte immer jemand Waren ab oder nahm sie in Empfang. Außer dem Paar, das Montoya sich ausgesucht hatte, waren noch viele andere Touristen unterwegs, doch hatten sie sich vernünftigerweise in Souvenirläden, Restaurants oder Hotellobbys zurückgezogen und warteten ab, bis der Sturm sich seiner Regenlast entledigt haben würde.
Bewaffneter Raubüberfall war nicht Cheelos bevorzugter Methode, zu Geld zu kommen. Er mochte keine Konfrontationen. Er hielt Raubüberfälle ebenso wie den Konsum von Rauschmitteln für eine schlechte Angewohnheit, die nur allzu leicht zur Sucht ausarten konnte. Er hatte schon miterlebt, wie einige in seiner Umgebung dieser Sucht verfallen waren. Natürlich hätte er dies auch bei seinen Freunden beobachten können - wenn er denn welche gehabt hätte. Hätte er die Wahl gehabt, hätte er lieber ein oder zwei Hotelzimmer durchwühlt, sich eine Handtasche geschnappt oder eine Geldbörse gefischt. Doch seit Tagen schon hatte sich ihm dazu keine Gelegenheit geboten. Nun wurde er allmählich nervös.
Noch einen guten Fang, nur noch einen einzigen, und er hätte die Geldsumme zusammen, die er Ehrenhardt zum Beweis seiner Zuverlässigkeit und zur Sicherung seiner Lizenz vorlegen sollte. Und noch dazu weit vor der gesetzten Zahlungsfrist. Ehrenhardt und seine Leute würden angemessen überrascht sein - und genau das wollte Montoya auch.
Das hier würde nicht sein erster Raubüberfall werden. Im Gegensatz allerdings zu so manchem jüngeren Gauner empfand er dabei keine freudige Erregung; er bekam keinen Adrenalinstoß beim Anblick der Angst auf den Gesichtern seiner Opfer. Für ihn war es nur ein Geschäft, nach Tradition der professionellen Straßenräuber in früheren Zeiten. Um sich seinen Wunschtraum erfüllen zu können, brauchte er nur noch ein paar hundert Kredits. Diese unachtsamen Reisenden dort drüben würden sie ihm geben.
Er verfolgte das Paar weiter, blieb immer stehen, wenn sie stehen blieben, wandte sich ab und schaute in ein Ladenfenster, wann immer sie zufällig in seine Richtung blickten. Die meiste Zeit über blieb er unsichtbar, ein weiterer Tourist wie sie, der an diesem Nachmittag, an dem die Zeit nur sehr langsam zu vergehen schien, einen Spaziergang im Regen machte. Doch im Gegensatz zu dem Pärchen vor ihm konnte er sich keinen teuren Regenabweiser leisten. Er war schon ganz nass und fühlte sich unwohl in seinem altmodischen Dschungel-Regenmantel.
In gewisser Weise war er tatsächlich ein Tourist, schließlich war er eigens von Golfito hergereist, um das für die Lizenz nötige Geld aufzubringen. Schon früh in seinem Leben hatte er gelernt, dass es besser war, Arbeitsplatz und Zuhause zu trennen. Den Behörden aus dem Weg zu gehen war schon schwer genug, wenn man nicht in der gleichen Stadt lebte wie die Leute, die überaus daran interessiert waren, ihn aufzuspüren. Davon abgesehen, boten sich ihm im geschäftigen San Jose viel mehr Gelegenheiten, das nötige Geld zu beschaffen, als in der kleineren, schläfrigeren Küstenstadt, die er seine Heimat nannte.
Cheelos Anspannung wuchs ein wenig, als er sich gedanklich und körperlich auf den Überfall vorbereitete. Er beschleunigte den Schritt und schloss ein wenig zu dem Touristenpaar auf. Sie waren in eine der malerischen Straßen der Stadt abgebogen, in eine schmale Gasse mit Gehwegen, deren Pflastersteine von Regen und Schuhwerk abgenutzt waren.
Cheelo griff in seinen Mantel, als das Paar unerwartet einen Laden betrat, dessen Inhaber sich auf Holzarbeiten spezialisiert hatte - ein Markenzeichen San Joses. Zum Weitergehen gezwungen, blickte er verstohlen auf die Handarbeiten aus Padouk- und Rosenholz im Schaufenster. Der nächste Laden hatte geschlossen. Ein Weg für Warenanlieferung, gerade breit genug für eine Person, führte zwischen den alten Gebäuden tiefer in den Straßenblock hinein. Er bog in diesen Weg ab, um ein wenig Schutz vor dem Regen zu finden.
Dort wartete Cheelo auf den rechten Augenblick, beugte sich gelegentlich vor und schaute die aufwärts führende Gasse entlang. Niemand benutzte die nassen Steine, die verlassen dalagen. Regen prasselte auf das Pflaster, floh in kleinen Strömen in den nächsten Rinnstein. Falls das Paar wieder auf dem gleichen Weg zurückginge, bliebe ihm nichts anderes übrig, als ihnen wieder zu folgen - wie ein Kaiman, der einem vorsichtigen am Flussufer grasenden Tapir folgt.
Ehe er sich's versah, hörte er gedämpfte Stimmen: drei Stimmen - die des Paars und des Ladenbesitzers. Dann vernahm er Schritte auf dem nassen Gehweg. Sie wurden lauter anstatt leiser. Er ließ die Hand in den Mantel gleiten und schloss die Finger um den Griff seiner winzigen Pistole.
Er wartete den richtigen Zeitpunkt ab, dann trat er unmittelbar vor den beiden aus der schmalen Liefergasse und versuchte, größer auszusehen, als er in Wirklichkeit war. Die beiden Touristen sahen ihn völlig überrascht an.
Jetzt aber schnell, dachte er. Ehe sie nachdenken oder reagieren können! Er streckte die freie Hand aus, die Handfläche nach oben gedreht.
»Brieftasche«, stieß er knapp hervor. Als der große Mann, trotz seines Alters anscheinend gut in Form, zögerte, bellte Cheelo so bedrohlich wie möglich: »Sofort - oder ich leg euch um und nehm sie mir!«
»Martin, gib sie ihm!«, flehte die Frau ihren Mann an. »Wir sind doch versichert!«
Ah, Reiseversicherung, dachte Cheelo, der beste Freund des Gelegenheitsdiebs. »Langsam, damit ich sehen kann, wie du sie rausziehst!« Er stieß die Warnung so Furcht einflößend aus, wie er nur konnte. Der gut gekleidete Fußgänger griff in den Mantel, zog eine Geldbörse aus weichem Kunststoff hervor und reichte sie ihm. Cheelo nahm sie begierig entgegen, ohne den Mann aus den Augen zu lassen. Als er die Beute in die Innentasche seines Hemdes gleiten ließ, richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Frau. Die Gasse war nach wie vor menschenleer. Einige Fahrzeuge brummten oben auf der Hauptstraße vorüber, ihre Insassen achteten nicht auf das Mitleid erregende Drama, das sich vor ihren Wagenfenstern abspielte.
»Geldbörse her!«, befahl er der Frau. »Und den Schmuck!«
Mit zitternden Fingern reichte die Frau ihm zunächst ihre Handtasche aus Metallgewebe, dann einen Ring und zwei Armreife. Nervös sah Cheelo zu dem Laden, den die beiden eben verlassen hatten, dann deutete er herrisch auf die linke Hand der Frau. »Los, los - auch den da!«
Die Frau bedeckte den letzten Ring, den sie trug, mit der Hand. Ihre Miene und ihr Tonfall waren flehend. »Bitte - das ist mein Ehering! Ich habe Ihnen alles andere gegeben!« Cheelo wusste, dass die Tropfen, die ihr nun über die Wangen rannen, Tränen waren, denn das Gesicht der Frau wurde nicht nur durch das Kraftfeld, sondern auch durch die breite Krempe ihres modischen, Wasser abweisenden Huts vor dem Regen geschützt.
Cheelo zögerte. Er hatte lange genug hier draußen auf der Straße gestanden und zwei Brieftaschen sowie etwas Schmuck erbeutet. Der gequälte Gesichtsausdruck der Frau wirkte echt. Er hatte schon oft gesehen, wie seine Opfer diesen Gesichtsausdruck imitierten, um wertvolle, aber unpersönliche Habseligkeiten zu schützen. Cheelo, der noch immer die gefühlskalte Miene aufgesetzt hatte, mit der er aus dem schmalen Weg getreten war, wandte sich halb von ihnen ab.
»Klar, warum nicht? Hören Sie, das hier tut mir Leid, aber ich habe ein großes Geschäft abzuschließen - die Chance meines Lebens - und mir fehlen nur noch ein paar Kredits, deshalb ...«
In diesem Moment sprang der Ehemann ihn an.
Das war ein dummer, ein närrischer Schachzug - genau jene Art von Verhalten, wie es Männer mittleren Alters an den Tag legen, die ernsthaft glauben, ein wenig regelmäßiger Sport und der lebenslange Konsum von Action-Holos seien die beste Vorbereitung, um kräftige Profidiebe übertölpeln zu können. Der Mann war ein gutes Stück größer als Cheelo, was ihm zusätzlichen Mut verlieh, und auch weit stärker, was ihn wiederum übermäßig selbstbewusst machte. In der Tat war er Cheelo im Kampf in jeder Hinsicht überlegen, ihm fehlte nur die entscheidende Emotion: Verzweiflung.
Als der Mann Cheelos zurückzuckenden Arm mit einem Handkantenschlag traf, löste sich ein Schuss aus der Waffe, ohne dass Cheelo bewusst den Abzug durchgedrückt hätte. Lautlos spie die kompakte Pistole einen blauen Blitz aus. Sogleich unterbrach der Energiestoß den Fluss der elektrischen Impulse, die die Millionen von Neuronen im Körper des Mannes durchliefen. Mit schockiertem Gesichtsausdruck sackte er auf dem Gehweg zusammen, kippte zur Seite und schlug zunächst mit der Schulter und dann mit dem Kopf auf den Pflastersteinen auf. Sein Schädel prallte einmal vom Boden ab und schlug erneut auf. Cheelo stand über ihm, die Pistole in der Hand, und war nicht minder entsetzt als die Frau, die sich sogleich neben ihren Idioten von Gatten kniete. Sie hatte die Augen weit aufgerissen.
Als der Schuss sich gelöst hatte, war die Mündung direkt auf den Brustkorb des Mannes gerichtet gewesen. Der Energiestoß hatte sein Herz kurzzeitig gelähmt. Das musste nicht zwangsläufig tödlich enden - doch war das Herz des Mannes nicht das gesündeste. Das Problem bestand weniger darin, dass es aussetzte, als vielmehr darin, dass es nicht wieder zu schlagen anfing. Cheelo hatte schon öfters Tote gesehen, doch war er bislang nicht die Ursache für deren Tod gewesen. Auf diese Weise mit dem Tod konfrontiert, begaffte Cheelo das starre Gesicht des Mannes, der rücklings auf den Pflastersteinen lag, während sein offener Mund sich mit Regen füllte.
Ohne den bewaffneten Räuber zu beachten, begann die Frau zu schreien. Cheelo hob die Pistole, dann senkte er sie wieder. Er hatte nicht auf den dummen, hochmütigen Bastard schießen wollen. Und erst recht hatte er ihn nicht töten wollen. Cheelo bezweifelte, dass dieses Eingeständnis für die Behörden eine Rolle spielen würde. Er drückte die Geldbörse unter dem Regenmantel dicht an sich, wandte sich um und rannte los, wobei er die Waffe wieder in die Innentasche steckte. Hinter ihm erstickte der sintflutartige Regen die Schreie der Frau. Für den Regen war Cheelo dankbarer denn je. Er würde zumindest eine Weile verhindern, dass der Ladenbesitzer das Jammern der Frau hörte.
Außer Atem sprang er auf das erstbeste öffentliche Verkehrsmittel. Umgeben von beschäftigten, gleichgültigen Männern und Frauen, schlug er den Kragen seines Regenmantels hoch und drückte ihn sich enger an Hals und Kopf, um so wenig wie möglich von seinem Gesicht zu zeigen. Was zum Teufel sollte er jetzt tun? Selbstverteidigung war eine schlechte Ausrede für einen bekannten Straßenräuber wie ihn. Letzten Endes würde man ihn zu einer selektiven Gedächtnislöschung verurteilen, deren Umfang von der Toleranz des zuständigen Gerichts abhinge. Die Wahrheitsmaschine würde seine Behauptung, dass er den Mann nicht habe töten wollen, vermutlich belegen, doch würde sie seinen Geisteszustand zur Tatzeit auf dem Bildschirm vielleicht als grauen Bereich darstellen.
Das spielte keine Rolle. Er hatte nicht vor, ins Gefängnis zu wandern oder sich von den Behörden auch nur eine einzige Erinnerung löschen zu lassen.
Cheelo kehrte nicht zu dem billigen Hotelzimmer zurück, in dem er stets wohnte, wenn er sich in San Jose aufhielt. Stattdessen fuhr er mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die entgegengesetzte Richtung. Als er am Flughafen ankam, hatte der Regen nachgelassen, und der Himmel wirkte nicht mehr so bekümmert wie zuvor, sondern nur noch sentimental.
Das nächste Shuttleterminal, an dem er einen interplanetaren Flug buchen könnte, lag in Chiapas. Selbst wenn er es irgendwie bis dorthin schaffte, ohne festgenommen zu werden, konnte er sich nicht sicher sein, dass seine ›Bemü- hungen‹ des vergangenen Monats ihm genug Kredits eingebracht hatten, um die Flugkosten abzudecken. Nicht, dass das noch eine Rolle spielen würde.
Das Erste, was die Behörden tun würden, wäre, einen Bericht über den Raubüberfall zu erstellen. Diesen Bericht würden sie an sämtliche Polizeistationen der Region übermitteln, einschließlich eines dreidimensionalen Phantombilds, erstellt von einem Polizeicomputer auf Grundlage der Zeugenaussage der Frau. Sobald Cheelo auf einer der Centaurus-Kolonien von Bord des Shuttles ginge, würde ihn bereits ein grimmig dreinblickendes Empfangskomitee erwarten. Davon abgesehen, hegte er nicht die Absicht, den Planeten zu verlassen. Nicht, wenn er auf diesem hier ein wichtiges Geschäft abzuschließen hatte.
Was er jetzt tun musste, war so schnell und weit wie möglich von hier fortzukommen - aber nicht so weit, dass er nicht vor Fristablauf zu Ehrenhardt zurückkehren könnte, um vor dessen Augen die Geldsumme zu überweisen. Zumindest für den Moment stand es aber außer Frage, nach Golfito zurückzufliegen. Ehrenhardt wäre alles andere als erbaut darüber, wenn ihm ein wegen Mordes gesuchter Krimineller persönlich einen Besuch abstattete. Da Cheelo ein aktenkundiger Gesellschaftsfeind war, würde man seine Wohnung und seine Geschäfte überwachen.
Am Flughafen schloss Cheelo sich in einen Duschraum ein, den er mit seiner eigenen Kredkarte bezahlte, und nahm sich dann die Karte des unglücklichen Ehemanns vor. Mithilfe des öffentlichen Terminals schaffte er es innerhalb von Minuten, das Guthaben des Mannes auf seine eigene Karte zu transferieren. Er empfand grimmige Dankbarkeit, als er sah, dass er dank des erbeuteten, nicht zurückverfolgbaren Geldes nun problemlos den Flug bezahlen könnte, ohne die für Ehrenhardt bestimmte Summe anrühren zu müssen. Seinen Besuch bei Ehrenhardt musste er einfach noch eine Weile verschieben. Er hatte keinen Grund, in Panik auszubrechen. Ihm blieb genug Zeit bis zur Zahlungsfrist.
Die Frau des Toten würde sich an Cheelos Kleidung erinnern. Äußerst widerwillig zog Cheelo seinen Regenmantel aus und stopfte ihn in einen Müllschlucker, der den Mantel, so hoffte er, komprimieren und dann verbrennen würde. Nun trug er nur noch Kleidung am Leib, die schlicht, aber sauber und auch sonst in Ordnung war. Er bemühte sich nach Kräften, wie ein Geschäftsmann zu wirken, als er an einen Ticketautomaten trat und sich einloggte.
»Wohin wollen Sie heute fliegen, Sir?« Die künstliche Frauenstimme des Automaten klang forsch. Möglichst unauffällig vermied er es, in die Kamera des Automaten zu blicken, sah zur Seite, nach hinten, an sich herab - überall hin, nur nicht zum Automaten. Ab und an fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht, als wische er sich den Regen von den Augenlidern. Er führte seine illegal aufgeladene Kredkarte in den Einzugsschlitz und senkte seine Stimme bis an die Grenze der Hörbarkeit: »So weit, wie ich mit dem nächstbesten Flug komme, es müssen nur zwanzigtausend auf dem Konto übrig bleiben. Nein, besser zweiundzwanzigtausend.« Falls er sich verschätzt hätte, könnte er den Buchungsprozess noch immer unterbrechen und von vorne beginnen.
»Könnten Sie das bitte ein wenig genauer formulieren, Sir? Spontan ins Blaue zu fliegen ist ein vergnügliches Abenteuer, aber es wäre hilfreich für mich, wenn Sie zumindest eine Richtung angeben könnten.«
»Süden«, murmelte er, ohne nachzudenken. Seine Wahl fiel ihm leicht. Würde er Richtung Westen oder Osten fliegen, müsste er einen der beiden Ozeane überfliegen. Und im Norden war es sehr, sehr kalt.
Der Automat summte leise. Sekunden später fuhr ein kleiner Plastikstreifen aus dem Schlitz. Cheelo war darauf gefasst, sofort loszurennen, falls der interne Alarm des Geräts losschrillen würde, doch einen Moment später fuhr auch seine Kredkarte neben dem Ticket aus. Er nahm das Ticket und drückte es auf seine Kredkarte, an der es sogleich haften blieb.
»Danke für Ihre Buchung, Sir«, sagte der Automat. Cheelo wandte sich zum Gehen, blieb dann aber noch einmal stehen und fragte den Automaten, ohne in dessen Kamera zu blicken: »Wohin fliege ich?«
»Nach Lima, Sir. Via Suborbitalflug, Flugsteig zweiundzwanzig. Genießen Sie den Flug!«
Ohne ein Wort des Dankes zu vergeuden, schritt Cheelo entschlossen in Richtung des genannten Flugsteigs. Ein Blick auf einen Monitor verriet ihm, dass er sich beeilen musste, wenn er den Flug noch erwischen wollte. Sein Ausdruck entspannte sich; er war zufrieden. Das Letzte, was er jetzt wollte, war sich längere Zeit in der Nähe eines Flughafens aufzuhalten.
Niemand stellte sich ihm entgegen, als er sich dem Flugsteig näherte. Der Ticketprüfautomat behielt seine Karte nicht ein, sondern gab sie ihm ordnungsgemäß auf der anderen Seite des Zugangs wieder aus. Der Mann und die Frau, die im Flugzeug neben ihm saßen, ignorierten ihn, während sie über Belanglosigkeiten plauderten.
Er gestattete sich nicht, auch nur einen Blick mit ihnen zu wechseln, bis das Flugzeug schließlich in der Luft war, über die tropische Wetterzone aufstieg und dann rasch auf Überschallgeschwindigkeit ging. Er musste versuchen, sich zu entspannen. Er hatte noch einige Stunden Zeit bis zur nächsten kritischen Situation: der Landung. Es wäre sinnlos, sich jetzt den Kopf zu zermartern. Falls die Polizei seine Spur bis ins Flugzeug verfolgt hätte, würde sie ihn schon erwarten, wenn er aus dem Flugzeug stieg. Dann könnte er nirgendwohin rennen. Man würde ihn sofort wieder in ein Flugzeug nach San Jose setzten und dort den Behörden ausliefern.
Als er sich im Sitz zurücklehnte, erinnerte er sich an das Gesicht des angreifenden Ehemannes und an den stechenden Schmerz, der ihm nach dem Handkantenschlag des Mannes durch den Arm gerast war. Er entsann sich nicht einmal mehr, den Abzug betätigt zu haben. Dann war der Mann zusammengebrochen, das Leben in ihm zusammengesackt wie eine Schlammwand unter dem Druck des tropischen Regengusses. Seine Frau war neben ihm auf die Knie gefallen, und ihre Fassungslosigkeit hatte die Kontrolle über ihre Kehle und ihre Stimmbänder übernommen.
Cheelo erschauerte leicht. Obwohl er schon oft Prügel hatte austeilen müssen, hatte er noch nie jemanden getötet. Er schämte sich noch immer. Die Pistole hatte den Mann umgebracht, nicht er. Der Mann hatte den Schuss selbst ausgelöst, infolge seines idiotischen Angriffs. Wieso war er nicht einfach noch ein paar lausige Minuten lang auf der Stelle stehen geblieben? Warum hatte er nicht einfach seine Rolle als Opfer gespielt? Jetzt nützte ihm seine Versicherung nichts mehr.
Lima. Cheelo war noch nie in Lima gewesen. Tatsächlich war er sogar noch nie weiter nach Süden gereist als bis nach Balboa. Wann immer er ein wenig Geld beisammenhatte, ging er für gewöhnlich für eine Weile nach Cancun oder Kingston, bis er wieder pleite war. Er versuchte sich an das Wenige zu erinnern, was er über die Topografie des Planeten wusste. Lima lag in der Nähe der Anden ... oder lag es doch in den Anden? Er besaß nur die Kleidung, die für das subtropische Klima San Joses geeignet war, nicht für Aufenthalte im Hochgebirge.
Nun, das würde er bei der Landung herausfinden müssen. Wenn der Ticketautomat sich an seine Anweisung gehalten hatte, und wenn der Geldtransfer vom Konto des toten Mannes nicht aufgefallen war, würde er neben der Summe für die Lizenz auch noch das nötige Kleingeld für neue Kleidung, seine Verköstigung und eine Unterkunft übrig haben. Und für die Reise. Er konnte es sich nicht leisten, lange in Lima zu bleiben - und auch in keiner anderen großen Stadt, wo moderne Polizeitechnologie eingesetzt wurde. Was sein zufällig ausgewähltes Reiseziel anging, hatte er allmählich ein besseres Gefühl. Berge waren ein gutes Versteck. Er wusste zwar nichts über die Region, würde aber schnell alles Nötige herausfinden. Gleich nach der Landung würde er einen oder zwei Reiseführer-Chips kaufen und sie in seine Karte überspielen, damit er bei Bedarf alle Informationen abrufen könnte.
Irgendwie würde er schon untertauchen. Das hatte er schon früher getan, wenn auch nicht unter solch zwingenden Bedingungen. Eine neue Identität, ein neues Aussehen, und er würde in Sicherheit sein. Von den fünfunddreißig Jahren, die er nun schon lebte, hatte er sich die letzten zwanzig mit Hilfe seines Verstandes und mit der Verübung von Straftaten über Wasser gehalten. Er wollte sich nicht einmal eine partielle Gedächtnislöschung einhandeln! Zum Teufel, nein! Nicht wenn die Erfüllung all seiner Träume praktisch in Reichweite lag.
Ich will bloß ungehindert aus diesem Flugzeug steigen und in die Stadt fahren können, dachte er angespannt. Nur dieser eine Moment der Freiheit, und von da an werde ich still und sicher weiterleben können.
Er zitterte, als das Flugzeug vor dem Flugsteig zum Stillstand kam. Als eine der Stewardessen ihn auf seine augenscheinliche Nervosität ansprach, erwiderte er mit ruhiger und ungekünstelter Stimme, ihm sei nur ein wenig kalt, und bedankte sich sogar bei ihr für ihre Aufmerksamkeit. Er schlenderte aus dem Flugzeug, den Blick starr geradeaus gerichtet. Als die Gruppe der Passagiere sich rings um ihn herum aufzulösen begann - Geschäftsleute, die zu ihren Anschlussflügen oder zur Gepäckausgabe gingen, Familien, die sich freudig um die Hälse fielen - ging er einfach weiter, ohne bestimmtes Ziel. Als er den Flugsteig halb durchschritten hatte und ihn offenbar keine Polizisten erwarteten, um ihn abzufangen und festzunehmen, schritt er rascher aus.
Die Verkehrsanbindung vom Flughafen zur Stadt war sehr gut. Er mied die preisgünstigeren Massentransporter und die teureren Privatfahrzeuge mit menschlichen Fahrern und entschied sich stattdessen für einen Robotransport. Der Autopilot gab Cheelo ebenso bereitwillig Auskunft wie ein menschlicher Fahrer und stellte keine überflüssigen Fragen.
Als er schließlich in der Stadt ankam, fühlte er sich gleich besser. Neue Kleidung, eine Mahlzeit, der Kauf eines Reiseführer-Chips und eine Dosis Enthaarungsmittel, mit der er sich seines schönen, aber zu auffälligen Barts entledigen wollte, verbesserten seine Aussichten beträchtlich. Er musste nichts weiter tun, als für eine Weile unterzutauchen. Der Überfall lag noch nicht lange genug zurück, als dass er schon einen plastischen Chirurgen hätte aufsuchen können, um sich das Gesicht verändern zu lassen. Sobald die Meldung über den Tod des Mannes von den Titelseiten der Polizeischirme verschwunden wäre, könnte er nach Golfito zurückkehren und die Transaktion mit Ehrenhardt abschließen.
Lima lag nicht in den Anden, wie er feststellte. Zu dieser Jahreszeit herrschte in Peru dichter Nebel, ein Umstand, der ihn erfreute. Je unsichtbarer er blieb, desto besser. Doch wie jede große Metropole konnte sich die Stadt einer unaufdringlichen, aber technisch voll ausgestatteten Polizeizentrale und einer entsprechenden Anzahl an festinstallierten Überwachungsgeräten rühmen. Er hatte noch genug gestohlenes Geld übrig, um die Stadt mit all ihren öffentlichen Scannern verlassen zu können, ohne die für Ehrenhardt bestimmten zwanzigtausend Kredits anbrechen zu müssen. Die einzige Frage, die sich ihm stellte, war, wohin er fahren sollte. Er musste sich ein Ziel mit möglichst geringer Polizeipräsenz aussuchen, einen Ort, wo er sich frei bewegen konnte, ohne ständig darauf achten zu müssen, das Gesicht von den öffentlichen Scannern abzuwenden.
Der Reiseführer schlug mehrere Möglichkeiten vor. Im Norden lag eine größtenteils unbewohnte Region mit hohen Bergen und flachen Ebenen. Doch gab es in dieser Gegend viele wichtige archäologische Ausgrabungsstätten, die regelmäßig von Touristenschwärmen besucht wurden. Daher war der Norden für ihn nicht geeignet. Die Berge boten ihm zwar eine hinreichend abgelegene Zuflucht, in den bewohnten Tälern jedoch gab es lauter Gemüse- und Viehfarmen, in denen die Hufschläge von Alpaka, Lama und Rindern widerhallten - allesamt Tiere, die gentechnisch manipuliert waren, um in dieser extremen Höhenlage leben und sich vermehren zu können. Die Gegenden, die in noch größerer Höhe lagen, waren so unwirtlich, dass es dort keine Siedlungen mehr gab. Außerdem schreckten Cheelo schon allein die niedrigen Temperaturen und die dünne Luft ab.
Da war der Wüstenstreifen an der Südküste schon vielversprechender. Hinter den Stränden mit den vielen Urlaubsklubs und Entsalzungsanlagen lebte kaum jemand, der nicht in einer der zahlreichen Minen arbeitete, die man in die dürre Landschaft getrieben hatte. Dort konnte man zwar untertauchen - aber nicht so, wie es Cheelo vorschwebte: Er wollte nahezu unaufspürbar sein.
Also blieb nur noch das gewaltige Amazonasreservat.
Man hatte die letzten einheimischen Bewohner der biologisch vielseitigsten Regenwaldwildnis, die noch auf dem Planeten erhalten war, vor mehr als einem Jahrhundert umgesiedelt. Seitdem war das Gebiet mit der reichen Vegetation und den großen Wildbeständen unberührt, nur ab und an hielten sich Wissenschaftler und Touristengruppen dort auf. Das dichte Blätterdach würde ihn vor suchenden Augen am Himmel verbergen, und die vielen dort lebenden Tiere würden seine Körperwärmesignatur kaschieren, sodass die patrouillierenden Suchdrohnen ihn nicht würden aufspüren können.
Dem Reiseführer auf seiner Karte zufolge umgab der unberührteste und isolierteste Teil des Parks die östlichen Andenausläufer. Dort, wo der Nebelwald auf den Regenwald des Tiefwaldes traf, war es nie erforderlich gewesen, Einheimische umzusiedeln, weil dort nie welche gelebt hatten. Die Vegetation in dieser Region war so unwirtlich wie üppig. Dort lebten einige der seltensten Tiere nach wie vor in Freiheit. Doch sogar dort fanden sich abgelegene Touristeneinrichtungen, gebaut für besonders abenteuerlustige Menschen, die noch eine echte Wildniserfahrung suchten.
Cheelo hatte selbst einige Zeit in der Wildnis verbracht, wo er sich eher an Touristen als an tropischen Früchten bedient und eine gewisse Vertrautheit mit der rauen Umgebung entwickelt hatte. Plötzlich kamen ihm wieder die elenden Monate in den Sinn, die er betrunken und krank in Amistad verbracht hatte. Im Dschungel würde es nicht sehr angenehm sein - die ganze Zeit über würde er schwitzen, und überall würde es vor Insekten nur so wimmeln -, doch ebendiese unangenehmen Bedingungen würden auch die Gesetzeshüter davon abhalten, gründlich nach ihm zu suchen. Falls man ihn anhielte und befragte, könnte er sich als Tourist ausgeben. Und falls jemand auf den Gedanken käme, ihn genauer zu überprüfen, könnte er in der schier endlos scheinenden Waldwildnis verschwinden, noch während die Polizei seine Vorgeschichte unter die Lupe nähme.
In Lima konnte er sich nicht zu seiner Zufriedenheit ausstatten, doch in Cuzco gab es eine Reihe von Läden, in denen er alles Nötige fand. Der leichte, reißfeste Rucksack, den er erstand, füllte sich rasch mit einem guten Vorrat an Notfallkonzentraten und Vitaminen, einem Wasserfilter, einem Wasseraufbereiter, einem Schlafsack und einem Zelt (beides insektensicher), einem Brennstoffzellen-Kocher und mit Kartensoftware für seine Kredkarte. Der lebhafte Verkäufer versicherte ihm, dass ihm seine neue Kleidung alles Unangenehme vom Leib halten würde, ob Heere von Ameisen oder das Wasser der Regenzeit.
So ausgerüstet, buchte er einen Flug auf einem langsamen Gleiter nach Sintuya, der einzigen Gemeinde, die innerhalb der Grenzen des südwestlichen Reservatabschnittes geduldet wurde. Sie diente allein dem Zweck, die Bedürfnisse der Touristen und Forscher zu befriedigen. Da er sich wohl kaum glaubhaft als Forscher würde ausgeben können, beschloss er, den Touristen zu spielen. Mit seinen Mitreisenden sprach er so wenig wie möglich. Er tat alles, um möglichst höflich zu wirken und ihnen zugleich nicht lange im Gedächtnis zu bleiben.
Der Flug von Cuzco über die Anden war spektakulär. Cheelo hatte einen bemerkenswerten Ausblick auf die uralten, inzwischen von Maschinen instand gehaltenen InkaTerrassen, auf bewässerte Bauernhöfe und winzige wunderliche Ketschua-Gemeinden, die gut von ihrem Handwerk und den Touristen leben konnten. Dann wichen die Berggipfel dem in Nebel gehüllten Regenwald. Der langsame Gleiter sank hinab, folgte dem Verlauf der steilen Hänge im Osten, wobei er gelegentlich Nebel und Wolken beiseite wirbelte und den Passagieren einen flüchtigen Blick auf die dichte Vegetation unter ihnen ermöglichte. Einmal kam kurz eine Brillenbären-Familie in Sicht; sogleich surrten die Rekorder los, als die Reisenden den Moment festhielten, um ihn zu Hause in London oder Kairo, Delhi oder Surabaya noch einmal erleben zu können.
Cheelo Montoya machte keine Bilder, obwohl er sich mit lautem Oh und Ah ebenso eifrig für den Anblick begeisterte wie seine Mitreisenden ringsum. Ein Tourist, der sich nicht für Sehenswürdigkeiten interessierte, würde den anderen Reisenden im Gedächtnis bleiben - und das wollte er unbedingt vermeiden. Dass er keinen Rekorder dabeihatte, musste er nicht erklären. Nicht jeder verbrachte seinen Urlaub damit, unentwegt in einen Farbbildrekorder zu starren.
Sintuya war sogar noch kleiner, als er erwartet hatte. Einige Restaurants hatten Gerichte aus exotischen Regenwaldprodukten auf der Speisekarte, alles Mögliche, angefangen von Sternfruchtmousse bis hin zu Kaimankrapfen. Da Cheelo sich bewusst war, dass er hier die vermutlich letzte Mahlzeit bekäme, die er sich nicht selbst zubereiten musste, bestellte er sich ein teures Ragout aus Aguti- Fleisch, Yucca, verschiedenen Gemüsesorten und blanchierten brasilianischen Nüssen. Der Rest der Stadt bestand aus einigen Herbergen, den üblichen Touristikzentren, einigen Läden, die Souvenirs und Handarbeiten führten, und einem abseits gelegenen Forschungskomplex. Obwohl die klimatisierten, trockenen Herbergen Cheelo lockten, ignorierte er die Reize ihrer Zivilisiertheit. Abgesehen von der Bezahlung seiner Mahlzeit, wollte er in der abgelegenen Gemeinde keine elektronischen Spuren hinterlassen.
Den Rest des Tages verbummelte Cheelo mit den wenigen Unterhaltungsmöglichkeiten, die die Ortschaft bot, während er auf den Einbruch der Nacht wartete. Als die Sonne schließlich untergegangen war, stahl er ein kleines, leises Touristenboot, das für bis zu vier Personen Platz bot. Fünf weitere schnittige Boote tanzten auf dem Wasser, am Dock vertäut. Er band sie allesamt los, stieß sie aufs Wasser hinaus und sah zu, wie sie von der Strömung erfasst wurden und flussabwärts trieben. Wenn nur ein einziges Boot fehlte, könnte der Verdacht entstehen, es sei gestohlen worden. Fehlten aber alle sechs, würde man das als Unglück, Vandalismus oder einen fehlgeschlagenen Kinderstreich auslegen. Falls man nur fünf der fehlenden Boote wiederfände, würde man annehmen, dass das letzte gesunken oder von der Strömung irgendwo an einer überwachsenen Flussbiegung ans Ufer getrieben worden war.
Der leise Motor brachte ihn mit hoher Geschwindigkeit flussaufwärts, und die bordeigenen Sensoren vermieden automatisch jedes Hindernis im Wasser. Mit einem Flugwagen wäre er noch schneller und flexibler gewesen, doch dann hätte er dicht über dem Blätterdach fliegen müssen, was genauso unsinnig gewesen wäre, wie mit einem Bodenfahrzeug zu fahren. Zudem wären die Energiereserven des Flugwagens nach wenigen Tagen zur Neige gegangen. Im Gegensatz dazu würde die Energiezelle des Bootes mindestens einige Wochen lang vorhalten. Indem er sich auf dem Hauptfluss hielt, dicht am üppig bewachsenen Ufer und an den überwucherten Bänken, standen seine Chancen gut, unentdeckt tief ins Reservat vorzudringen. Sobald er in einen Nebenfluss abböge, könnte er sich sicher sein, dass ihn niemand mehr verfolgen würde. Boote, die sich losrissen, schwammen nicht gegen die Strömung.
Er würde sich einen guten Lagerplatz suchen, vielleicht einen alten, verlassenen Beobachtungsstand, auf denen früher Touristen die wilden Tiere beobachtet hatten; dort würde er bleiben, bis ihm die Vorräte ausgingen. Wenn er seine Vorräte mit allem Essbaren aufstocken würde, was ihm seine Umgebung bot, würde er einige Monate halbwegs erträglich, wenn auch nicht sonderlich komfortabel in der Wildnis durchhalten können. Bis dahin hätte der Tod des unglücklichen Touristen im fernen San Jose bei den Ermittlungsbeamten eine weit niedrigere Priorität, und Cheelo blieben noch immer mehrere Wochen, bis er sich mit Ehrenhardt treffen müsste. Sobald Cheelo den Regenwald verließe, würde er sein Guthaben sichern, sich das Gesicht von einem Chirurgen verändern lassen und mit einer lukrativen, halb legalen Lizenz in der Tasche von vorn beginnen. Dann wäre er endlich jemand, zu dem man aufschaute, hätte endlich etwas Großes getan.
Er programmierte einen Kurs in das Navigationssystem des Bootes ein und schaltete auf Autosteuerung, dann lehnte er sich im Schlafsack zurück und beobachtete, wie die Sterne am unberührten, nicht mit Smog verhangenen Himmel vorüberzogen. Ein typischer Krimineller hätte sich irgendwo in den Tiefen einer Großstadt versteckt. Genau dort suchten ihn vermutlich die Behörden in diesem Moment - mit Scannern, elektronischen Flugblättern und durch Befragung von Informanten. Er war sich recht sicher, dass sein Abflug von San Jose unbemerkt geblieben war; seiner Ankunft in Lima war sogar mit noch höherer Wahrscheinlichkeit keine Aufmerksamkeit geschenkt worden, und beim Transit nach Cuzco hatte man ihn ganz sicher nicht gescannt. Sollten sie ihn doch in Golfito jagen und seine kleine Einzimmerwohnung durchwühlen! Hier draußen, in den Tiefen des großen Naturparks würde nichts und niemand Notiz von ihm nehmen. Selbst die Ranger, die das Reservat überwachten, konzentrierten sich auf die Gebiete mit dem höchsten Touristenaufkommen. Er hatte sich bewusst für eine Gegend entschieden, die bekannt war für ihre vielen quälenden Insekten. Zum Ausgleich für seine Anonymität würde er gern ein wenig Haut und Blut opfern.
Recht stolz auf sich und seinen Einfallsreichtum, rollte er sich auf die Seite und ließ sich vom beinahe lautlosen Summen des Bootsmotors in den Schlaf wiegen.