21
Als Cheelo gerade dazu ansetzte, das Gewehr herumzureißen, um auf den Angreifer zu zielen, drückte er versehentlich den Abzug durch. Mit lautem Knall spie die Waffe einen schmalen, hochgradig gebündelten Schallstrahl aus. Ungläubig starrte Hapec an sich hinunter, auf das kleine, aber tödliche Loch, das der Schallstrahl ihm durch Magen und Wirbelsäule geschlagen hatte. Selbst als er beide Hände über die Wunde legte, sprudelte ihm das Blut zwischen den Fingern hervor. Mit den Lippen formte der überraschte Wilderer ein lautloses »Oh«, während er zwei Schritte auf die beiden Kämpfenden zuwankte, dann sank er auf die Knie und fiel bäuchlings auf den Garagenboden wie ein brauner Eisberg, der von einem Gletscher abbricht.
Maruco schaffte es, den Gewehrlauf zu packen, ehe Cheelo ihn ganz auf ihn richten und einen zweiten Schuss abgeben konnte. Wild und völlig lautlos rangen sie miteinander um die Waffe - bis ein zweiter Schuss die winzigen Spiegelfenster vibrieren ließ, die alle Wände des Gebäudes säumten.
Desvendapurs Thorax hob und senkte sich unter seinem heftigen Atem, während Des sich an den Transporter drückte, um das sich ihm bietende blutige Panorama zu betrachten. Zwei Menschen lagen tot auf dem Boden, ihre Körperflüssigkeiten sickerten aus ihren geplatzten Kreislaufsystemen. Nur ein Mensch hielt sich noch auf den Beinen, die Waffe locker mit einer Hand gepackt und zu Boden gesenkt. Mit pochendem Herzen und außer Atem stand Cheelo da und starrte auf Marucos Leiche hinab, der ihm wie eine kaputte Puppe zu Füßen lag.
Desvendapur hatte natürlich schon von solchen Gewaltakten gelesen, und durch seine eigene Familiengeschichte wusste er, welche Auswirkungen sie hatten. Hier sah er nun ein Beispiel für die Art von Gewalt, die damals auch die AAnn bei ihrem Angriff auf Paszex angewandt hatten, bei dem Desvendapurs Vorfahren ums Leben gekommen waren. Erst vor wenigen Minuten hatte er noch selbst die Waffe in Händen gehalten, doch hatte er nicht damit gerechnet, sie benutzen zu müssen. Zum ersten Mal in seinem Leben war er Zeuge einer solchen Grausamkeit geworden. »Das ... das ist barbarisch! Entsetzlich!« Schon fügten sich wundervolle neue Verse ungebeten in seinem Kopf zu einem Ganzen, drängten sich ihm regelrecht auf.
Cheelo atmete tief durch. »Tatsache! Jetzt finden wir den Aktivierungscode des Transporters nie heraus. Wir sitzen fest.«
Der Dichter richtete die Facettenaugen auf den einzigen noch lebenden Zweifüßer. »Das meine ich nicht. Ich meine, dass zwei intelligente lebendige Wesen jetzt tot sind!«
Cheelo schob die Unterlippe vor. »Daran ist nichts entsetzlich. Nicht, soweit es mich betrifft.« Etwas lauter fügte er hinzu: »He, glaubst du etwa, ich wollte sie erschießen?« Desvendapur zog sich vorsichtig einen Schritt zurück, auf den Verbindungsgang zu. »Beruhig dich! Unser Gespräch ist ein bisschen ausgeartet, und sie haben versucht, mich zu übertölpeln.« Als der Außerirdische nichts erwiderte, wurde Cheelo zornig. »Hör mal, ich sag dir die Wahrheit! Die haben geglaubt, dass ich sie erschießen würde, sobald sie den Transporter für mich aktiviert hätten. Das hatte ich aber nicht vor. Klar, der Gedanken wäre verlockend gewesen, aber ich hätte sie leben lassen. Ich wollte nur hier weg, damit ich meine Verabredung einhalten kann. Und bevor du komplett ausrastest, denk bitte daran, dass sie sich alles zusammengereimt hatten - dass du aus einer Kolonie kommst und so! Hätte ich sie hier zurückgelassen, hätten sie diese Information noch immer verkaufen können. Betrachte es mal so: Ich musste sie erschießen, um dein Volk unten im Reservat zu schützen!«
»Sie hätten vielleicht andere dazu überredet, unseren Stock zu suchen, aber ohne genaue Koordinaten hätten sie ihn nie gefunden. Niemals.« Anklagend schaute Desvendapur den Zweifüßer an - zumindest empfand Cheelo seinen Blick als anklagend.
»Das spielt keine Rolle«, erklärte Cheelo schließlich knapp. »Sie sind tot und wir nicht. Glaub mir, für meine Spezies ist das kein Verlust.«
»Der Tod jedes intelligenten Wesens ist ein Verlust.«
Sein Menschengefährte stieß einige besonders heftig betonte Worte aus, deren Bedeutung Des nicht kannte. »Ich weiß nicht, wie's im Großen und Ganzen mit meiner Spezies ausschaut, aber sicherlich sind manche von uns nicht so wertvoll wie andere.« Mit der Mündung stieß er grob die Leiche zu seinen Füßen an. Maruco der Wilderer regte sich nicht und würde auch nie wieder wildern.
Cheelo ging zum Werkzeugregal, steckte das Gewehr in eine leere Ladestation, drehte sich um und betrachtete nachdenklich den Transporter. »Ich kann versuchen, diesen Bastard in Gang zu bekommen, aber falls diese Burschen da keine komplette Idioten waren oder keine Angst davor hatten, dass ihnen hier oben der Transporter geklaut wird, haben sie einen Aktivierungscode einprogrammiert. Und für den gibt's vermutlich rund zwei Millionen Möglichkeiten.« Er sah zu einem der Spiegelfenster hinauf. »Du hast die Gegend da draußen auf dem Hinflug gesehen. Dieses Haus hier liegt völlig isoliert. Hier gibt's nichts in der Nähe außer einigen automatisierten Farmen. Wir können versuchen, eine davon zu erreichen.«
»Das würde ich nicht tun«, riet Desvendapur ihm.
»Wieso nicht?« Inzwischen war Cheelo wieder zu Atem gekommen. Er starrte den Thranx an.
»Während du mit unseren Peinigern gekämpft hast, habe ich Stimmen aus ihrem Kommunikator gehört. Jemand mit einer besonders autoritären Stimme wollte den Menschen namens Maruco sprechen. Als er keine Antwort erhielt, unterbrach er die Verbindung mit den Worten ›Bis bald, du kleiner Scheißkerl‹. Wenn ich diese Bemerkung richtig interpretiere, wollte der Sprecher damit zwar nicht ausdrücken, dass er in Kürze hier sein wird, wohl aber in absehbarer Zeit.«
»Du hast Recht. Verdammt!« Cheelo dachte wütend nach. »Ich habe ihre Kunden ganz vergessen. Wir sollten von hier verschwinden, ehe sie aufkreuzen.« Mit einem angewiderten Gesichtsausdruck sah er stumm auf den menschlichen Abfall am Boden hinab. »Hilf mir mit den beiden!« Er ging zur Wand mit dem Rolltor und suchte nach dem manuellen Öffnungsmechanismus, der hier irgendwo sein musste.
»Was werden wir jetzt tun? Halten wir ein formelles Bestattungsritual ab?« Obwohl Desvendapur das Blutbad noch immer nicht fassen konnte, wollte er sich nicht davon abhalten lassen, das vermutlich höchst faszinierende Menschenritual mit seinem Sch'reiber festzuhalten.
»Eher ein formloses.« Cheelo entdeckte eine Kontrolltafel, strich über Berührungsfelder, schaltete Lampen an, aktivierte verschiedene Servosysteme und eine automatische Waschanlage, ehe er schließlich den Knopf fand, der das Garagentor öffnete. Kalte, äußerst trockene Luft wehte von draußen herein, als das Tor sich ratternd aufrollte.
Gemeinsam schleppten sie die Leichen der beiden Wilderer zur nächstbesten Schlucht des Felsplateaus und stießen sie hinab. Sie sahen zu, wie die beiden schlaffen Körper sich überschlagend in die von Wolken umwallte Vergessenheit purzelten. Desvendapur war enttäuscht, dass die Bestattung so unzeremoniell verlaufen war; er hatte mit einer Reihe fremdartiger Gesänge und Tänze gerechnet. Stattdessen hatte der Zweifüßer, der zu seinem Gefährten geworden war, nur einige Worte gemurmelt, die - so kam es dem Dichter vor - die Toten weder ehrten noch ihnen Respekt zollten.
Nachdem diese lästige Pflicht erfüllt war, kehrten sie in die Garage zurück, wo Desvendapur dem Menschen bestmöglich dabei half, das Blut vom Boden aufzuwischen. Als Cheelo zufrieden war, trat er zurück, wischte sich den Schweiß von der Stirn und nahm ihr Werk in Augenschein. Obwohl Des schon im Regenwald beobachtet hatte, dass der Körper des Zweifüßers eine klare Flüssigkeit absonderte, um sich abzukühlen, fesselte der Anblick ihn nach wie vor.
»Geschafft!«, seufzte Cheelo müde. »Wenn ihre Kunden ankommen, finden sie nicht heraus, wohin ihre Lieblingswilderer verschwunden sind. Sie werden den Transporter sehen - das können wir nicht ändern -, aber das führt sie ja nicht gleich zu dem Schluss, dass den beiden etwas zugestoßen ist. Sie werden nach ihnen suchen, aber ohne Eile. Wenn sie die Leichen finden, nein: falls sie sie finden und auf den Gedanken kommen, dass sie vielleicht nach jemandem wie uns - oder eher einem wie mir - suchen sollten, sind wir längst unten im Reservat und in Sicherheit. Ich weiß, dass ich, wenn ich dem Fluss folge, nach Sintuya komme. Dort kann ich einen Flug nach Lima buchen. Ich hab noch immer genug Zeit, um es rechtzeitig nach Golfito zu schaffen.« Er ging wieder zu dem Werkzeugregal und zog das Schallgewehr aus der Ladestation.
»Teures kleines Spielzeug.« Er drehte und untersuchte die Waffe. »Na, dann war unser Abstecher hierher wenigstens nicht ganz umsonst. Lass uns den Vorratsschrank plündern und von hier verschwinden, ehe das Kindermädchen kommt!«
»Ich kann nicht weg.«
Cheelo blinzelte den Außerirdischen an. »Wie meinst du das, du kannst nicht? Du kannst auf gar keinen Fall hier bleiben!« Er deutete zum Fenster, das einen Ausblick auf das kahle Felsplateau bot. »Wer auch immer hier nach diesen zwei ninlocos sucht, zögert keine Sekunde, dich in einen Käfig zu sperren.« Und jetzt muss noch nicht mal mehr Geld für ihn berappt werden, dachte er.
»Ich werde ihnen alles erklären, ihnen sagen, dass ich sie studieren will.« Seine Antennen wippten auf und ab. »Vielleicht kann ich mich mit ihnen einigen.«
»Du kannst dir deine beschissenen Studien in den ...!« Cheelo unterbrach sich, als ihm einfiel, dass der sichtlich zurückschreckende Thranx empfindlich auf das Gebrüll eines Menschen reagierte. »Das verstehst du nicht, Des. Diese Leute, die hierher kommen, werden nervös sein, weil sie ihre beiden Handelspartner nicht mehr über Funk erreichen. Sie werden schnell und leise hier aufkreuzen.
Und wenn das Erste, was sie hier sehen, ein großer Käfer mit riesigen Augen ist, der frei rumläuft, anstatt in einem Käfig zu sitzen, werden sie sicher nicht nur an den Rosen riechen - oder an dem Außerirdischen, der wie eine duftet. Sie schießen dich wahrscheinlich in Stücke, ehe du die Gelegenheit dazu bekommst, ›ihnen alles zu erklären‹.«
»Vielleicht schießen sie aber auch nicht sofort«, wandte Desvendapur ein.
»Ja, kann sein. Vielleicht nicht.« Er drängte sich am Thranx vorbei und schritt zum Gang, der ins Wohnhaus führte. »Ich werde jetzt packen. Wenn du hier bleiben und dein Leben in die Hände von einem Haufen alter ninlocos legen willst, die nicht gerade viel Erfahrung damit haben, wie man sich bei einer unerwarteten Begegnung mit Außerirdischen verhält - schön, nur zu! Ich, ich vertrau lieber den Affen. Ich geh in den Regenwald zurück.«
Desvendapur blieb allein in der Garage zurück, dachte kurz über seine begrenzten Optionen nach. Dann wandte er sich rasch um und folgte dem Zweifüßer ins Haus.
»Du verstehst nicht ganz, Cheelo Montoya. Es ist nicht so, als wollte ich hier oben bleiben. Tatsache ist, ich habe kaum eine andere Wahl.«
Cheelo, der sich soeben mehrere Hand voll an Konzentraten aus dem Vorratsschrank in den Rucksack stopfte, sah nicht zu ihm hinüber. »Ach ja? Und wieso?«
»Hast du denn nicht gemerkt, dass ich dir kaum dabei helfen konnte, die beiden Kadaver nach draußen zu schaffen und in den Abgrund zu werfen? Das lag nicht daran, dass sie übermäßig schwer gewesen wären. Es lag an der Luft, die hier oben viel zu trocken für uns Thranx ist. Aber noch schlimmer ist die Temperatur. Sie ist so niedrig, dass meine Glieder vor Kälte steif werden könnten.«
Cheelo hörte auf, den Vorratsschrank zu plündern und wandte sich dem Außerirdischen zu. »In Ordnung, ich sehe ein, dass das ein Problem sein könnte. Aber von hier bis zum Reservat geht es nur bergab. Je weiter wir hinabsteigen, desto heißer und feuchter wird es. Du wirst dich schnell wieder halbwegs wohl fühlen.
Langsam nickte Desvendapur mit dem herzförmigen Kopf, während er zustimmend mit Echthänden und Antennen gestikulierte. »Ich weiß, dass das so ist. Die schwierige und kritische Frage lautet aber: Wird es schnell genug heiß und feucht werden?«
»Das kann ich dir nicht sagen«, erwiderte der Mensch in ruhigem Ton. »Ich weiß nicht, was du so verkraftest.«
»Das weiß ich selbst nicht. Aber ich habe Angst, es auszuprobieren. Bei den Flügeln, die nicht länger fliegen können, ich fürchte mich wirklich davor!«
Aus verborgenen, lange nicht angerührten Tiefen stieg alles Mitleid in Cheelo auf, zu dem er noch fähig war. »Vielleicht können wir dir so eine Art Kaltwetterkleidung zusammennähen. Ich bin zwar kein Schneider und sehe hier auch nirgends einen Nähautomaten, aber ich glaube, wir könnten ein paar Decken zurechtschneiden oder so. Ansonsten bleibt dir nichts anderes übrig, als hier zu warten und zu hoffen, dass du schneller reden kannst als die Leute schießen, die auf dem Weg hierher sind. Oder du suchst dir auf der Hochebene ein Versteck, das so weit von hier weg ist, dass sie dort nicht nach dir suchen.«
Der Thranx machte eine verneinende Geste. »Wenn ich schon dieses Haus verlasse, dann begebe ich mich lieber in ein angenehmeres Klima, anstatt mich irgendwo zu verstecken, wo mir das Klima ganz sicher schadet.« Er drehte sich um deutete auf die Landschaft jenseits des Fensters. »Ich könnte nicht einmal das erste Tal durchqueren, ohne dass mir die Glieder vor Kälte erstarren. Und vergiss nicht: Ich hab ein verletztes Bein.«
»Und fünf gesunde. Tja, denk drüber nach!« Cheelo begab sich wieder auf Proviantsuche. »Wie du dich auch entscheidest, ich helfe dir, wenn ich kann - vorausgesetzt, ich verliere dadurch nicht noch mehr Zeit.«
Desvendapur dachte nach und kam letztlich zu dem Schluss, dass er die Menschensprache - auch wenn er sie immer besser beherrschte - letztlich vielleicht nicht gut genug beherrschte, um eine Begegnung mit den Kunden der toten Wilderer riskieren zu können. Er hatte eben erst erlebt, wie unbesonnen Menschen reagierten, wenn sie in eine unerwartete Situation gerieten. Wer auch immer hierher unterwegs war, wusste nicht, was ihn erwartete, und wunderte sich darüber, warum die Wilderer sich nicht mehr meldeten. Wenn dem tatsächlich so ist, ist es gut möglich, dass er äußerst gewalttätig reagiert und mich tötet, ehe ich mich ihm erklären kann, überlegte sich Des.
Welche Strafe man Desvendapur auch immer nach seiner Rückkehr in die Kolonie auferlegen würde - man würde ihn gewiss nicht standrechtlich exekutieren. Die entscheidende Frage war: Würde er die weite Strecke bis hinunter ins angenehme Tiefland des Regenwalds schaffen? Anscheinend blieb ihm keine andere Wahl, als es zu versuchen. Der Zweifüßer war jedenfalls davon überzeugt. Nachdem Desvendapur seine Entscheidung gefällt hatte, machte er sich ebenfalls daran, Proviant aus den Schränken der Wilderer zusammenzuklauben; dabei half ihm der Mensch, indem er ihm erklärte, welche Nahrung sich in den verwirrend vielen Lebensmittelverpackungen verbarg.
Als sie genug Vorräte gesammelt hatten, wandten sie sich der Frage zu, wie man ein Lebewesen vor Kälte schützen sollte, das nicht einmal entfernt einem aufrecht gehenden Säugetier glich. Wie sich herausstellte, kam die Kleidung der Wilderer nicht für Des in Frage: Kein einziges Kleidungsstück passte über seinen Kopf oder um seinen Körper. Schließlich einigten sie sich darauf, seinen Thorax und seinen Abdomen in die leichten Decken zu hüllen, die sie auf den Betten fanden. Bedauerlicherweise handelte es sich dabei um Heizdecken, die speziell für den Einsatz in Höhenlagen gefertigt waren und nur dann ihre Heizwirkung entfalteten, wenn sie elektromagnetische Wellen von der Sendespule im Boden des Schlafraums empfingen. Allerdings empfingen die kalorischen Gewebefäden, die in die Decken eingearbeitet waren, diese Wellen außerhalb des Gebäudes nicht mehr, sodass sie im Prinzip nutzlos waren.
»Besser kriegen wir's nicht hin«, versicherte Cheelo ungeduldig seinem gepanzerten Gefährten. »Wir finden hier nichts, womit wir dich besser isolieren können. Die haben hier nur High-Tech-Zeugs. Eigentlich einleuchtend, dass sie nur das Nötigste hergeschafft haben. Altmodische, dickere Decken würden wir vermutlich nur ein einer Stadt finden.« Er nickte knapp zum Fenster. »Keine Ahnung, wie weit es bis zum nächsten Dorf ist. Bei unserem Flug hierher hab ich ganz sicher keins gesehen.«
»Ich ebenfalls nicht«, gestand Desvendapur ein. In die Decken gehüllt, die der Mensch ihm unbeholfen mit einer Schnur um den Körper gebunden hatte, wusste der Thranx, dass er einen höchst absurden Anblick bot. Während er sich in einer merkwürdigen Spiegelfläche an der Wand betrachtete, nahm er seinen Sch'reiber aus der ThoraxTasche, die nun unter der Decke verborgen war, und begann zu dichten.
Cheelo sah ihm entrüstet zu, während er eine Schnalle an seinem Rucksack festzog. »Musst du eigentlich ständig dichten?«
Der Thranx vollendete eine höchst emotionale Strophe und drückte dann die Pausentaste seines Sch'reibers. »Wenn ein Dichter aufhört zu dichten, ist das für ihn so, als würde er im Sterben liegen.«
Der Mensch schnaubte - einer seiner eher primitiven Laute - und aktivierte den Öffnungsmechanismus des Garagentores, das sich langsam aufrollte. Die Wärme entwich aus dem wärmeisolierten Gebäude, und kalte, furchtbar trockene Luft rauschte hungrig hinein. Mit vernehmlichem Klacken schloss Desvendapur die Mundwerkzeuge, damit die tödliche Kälte nicht durch den Mund in seinen Körper gelangte. In Situationen wie dieser war es sehr praktisch, nicht mit dem Mund atmen zu müssen. Der Zweifüßer hatte zwei lange, schmale Schlitze in die Decke geschnitten, die er dem Dichter um den Thorax gebunden hatte, damit er ungehindert durch seine Stigmen atmen konnte. Desvendapurs Lungen zogen sich zusammen, als sie sich mit der kalten Luft füllten. Er unterdrückte einen Schauder und trat zögerlich einen Schritt vor, hinaus ins Freie.
»Lass uns gehen! Je eher wir hinabstiegen, desto schneller wird die Luft wieder warm und feucht.«
Cheelo nickte nur knapp, und folgte dem Thranx aus der Garage.
Sie fanden eine Art Trampelpfad - welche Tiere ihn ausgetreten hatten, wusste Cheelo nicht. Der Pfad war gerade breit genug, dass sie beide hintereinander darauf gehen konnten. Vermutlich hatten die Wilderer ihn regelmäßig als Zugang zum Regenwald benutzt, wenn sie die seltenen Tiere jagten, die in dem wenig besuchten Ökosystem zwischen Felsplateau und Dschungel lebten. Vermutlich war der Pfad ursprünglich nicht von Lamas ausgetreten worden, sondern eher von weit umherstreifenden Fleischfressern wie Jaguaren oder Brillenbären, die seit Generationen immer wieder auf dem gleichen Weg auf Beutezug gingen.
Normalerweise wäre Cheelo, der sich in der kühlen Bergluft weit wohler fühlte als sein Gefährte, sicher deutlich schneller vorangekommen als der Thranx, doch fand Desvendapur dank seiner sechs Beine viel besser Halt auf dem schmalen Pfad. Während der Dieb gezwungen war, besonders steile Gefälle oder Hänge mit äußerster Vorsicht zu überqueren, konnte Desvendapur problemlos und unbeschwert weiterlaufen, sodass der Abstand zwischen ihnen nie allzu groß wurde.
Gegen Mittag machten sie an einem kleinen Wasserfall Rast. Große Schmetterlinge mit metallisch glänzenden Flügeln flatterten am Rand der Gischt, während Moskitos unter den saftigen Farnen am Wasserrand tanzten. Cheelo war bester Stimmung. Seinem vielbeinigen Gefährten hingegen war deutlich anzusehen, dass es ihm nicht annähernd so gut ging.
»Komm schon, lass die Fühler nicht so hängen!«, versuchte er den Thranx aufzumuntern. »Wir kommen gut voran.« Cheelo, der ein Stück rehydriertes Fleisch kaute, deutete mit dem Kopf auf die Wolken, die schwermütig im Tal unter ihnen dahinzogen. »Ehe du dich's versiehst, sind wir wieder da unten, wo es sengend heiß und stickig ist.«
»Genau davor fürchte ich mich ja.« Desvendapur kauerte sich so gut er konnte unter den dünnen Decken zusammen, die seinen Panzer viel zu locker umhüllten. »Dass ich unten ankomme, ehe ich's mich versehe.«
»Sind alle Thranx so pessimistisch?«, neckte Cheelo ihn.
Recht erfolglos versuchte der Dichter, seine ungeschützten Gliedmaßen enger an den Körper zu ziehen. »Im Gegensatz zu euch Menschen haben wir leider nicht die Fähigkeit, uns an extreme Klimaschwankungen anzupassen. Ich kann es kaum glauben, dass du dich in dieser Umgebung wohl fühlst.«
»Oh, es ist schon ein bisschen frisch, vertu dich da mal nicht. Aber jetzt, wo wir die Hochebene hinter uns haben und im Nebelwald sind, müsste die Luft eigentlich feucht genug für dich sein.«
»Das stimmt, die Luft wird allmählich schwerer«, räumte Desvendapur ein. »Aber es ist immer noch kalt, so kalt!«
»Iss dein Gemüse!«, riet er dem Thranx. Wie oft hatte Cheelos Mutter das früher zu ihm gesagt? Er lächelte, als er an sie zurückdachte. Doch das Lächeln war nur von kurzer Dauer. Solche Dinge hatte sie ihm gesagt, wenn sie ihn gerade mal nicht verprügelt oder einen anderen »Onkel« mit nach Hause gebracht hatte, jede Woche einen anderen. Cheelos Miene verfinsterte sich, und er stand auf.
»Komm, auf geht's! Wir laufen durch, bis du dich besser fühlst.« Dankbar kämpfte der Dichter sich auf die sechs Beine, wobei er darauf achtete, dass ihm die unzulänglichen Decken nicht zu sehr verrutschten und er sein geschientes Mittelbein nicht zu stark belastete.
Sie gingen weiter, doch der Zustand des Thranx besserte sich nicht. Cheelo fasste es nicht, wie schnell die Kondition des Außerirdischen nachließ. Schon kurz nach ihrer Rast fiel dem Dichter das Laufen immer schwerer.
»Mir ... mir geht's gut«, antwortete Desvendapur, als Cheelo sich nach seinem Wohlbefinden erkundigte. »Ich muss mich nur für einen Zeitteil ausruhen.«
»Nein«, entgegnete Cheelo unerbittlich. »Keine Rast. Nicht hier.« Als der Thranx auf den Abdomen sank, packte Cheelo ihn an einem Arm und zog ihn wieder auf die Beine. Der glatte, unnachgiebige Chiton des Oberarms fühlte sich erschreckend kalt an. »Scheiße, du bist so kalt wie diese Steine da!«
Desvendapur sah ihn mit seinen goldfarbenen Komplexaugen an. »Mein Körper konzentriert sich darauf, die Temperatur in meinem Inneren aufrechtzuerhalten, um meine lebenswichtigen Organe zu schützen. Ich kann noch immer laufen. Ich muss mich nur kurz ausruhen, um Kraft zu sammeln.«
Cheelo erwiderte grimmig: »Wenn du dich zu lange ausruhst, brauchst du dir bald nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, wie du wieder zu Kräften kommst!« Wieso machte er sich nur solche Sorgen um den Thranx? Was scherte es ihn, wenn das Insektenvieh starb? Er könnte seine Leiche in die Schlucht neben dem schmalen Pfad stoßen, wo die reichen Freunde der toten ninlocos diese niemals finden würden. Wenn er allein weiterliefe, käme er schneller voran. Bis zum Fluss war es nicht mehr weit, und von dort aus wäre er rasch am nächsten Außenposten der Zivilisation, der Stadt Sintuya. Klimatisierte Hotelzimmer, richtiges Essen, Insektengitter und ein schneller Flug nach Lima oder Iquitos und schließlich weiter nach Golfito, zu seiner Verabredung mit Ehrenhardt. Dann eine kleine Überweisung, und schon hätte er seine eigene Lizenz. Geld, Ansehen, gute Kleidung, Schlehdornschnaps und leichte Mädchen. Und Respekt für Cheelo Montoya.
Das alles hatte Ehrenhardt ihm versprochen, Cheelo musste es sich nur nehmen. Das alles erwartete ihn - wie konnte er sich da nur wegen eines Insektenviehs verausgaben, selbst wenn es ein übergroßes, intelligentes Insekt war? Der Thranx hatte ihm nichts als Ärger eingebracht. Oh, sicher, er hatte Cheelo oben auf dem Plateau das Leben gerettet, aber wenn Cheelo ihm nie begegnet wäre, dann wäre er auch niemals in diese lebensbedrohliche Situation geraten. Und als wäre das nicht schon Grund genug, war der Außerirdische auch noch ein Krimineller, galt in seinem Volk als asoziales Element! Es war ja nicht so, als würde Cheelo sich bemühen, einen außerirdischen Heiligen oder wichtigen Diplomaten zu retten.
Desvendapur zog die Gliedmaßen an den Leib, sank zu Boden und kauerte sich unter den Decken zusammen. Selbst die Antennen rollte er fest zu kleinen Spiralen zusammen, damit sie möglichst wenig Körperwärme abstrahlten. Cheelo starrte ihn an. Der Weg vor ihm lockte: ein schmaler, zerfurchter Trampelpfad, der Cheelo zu einer Straße führen würde, die mit Gold gepflastert war. Mit ein wenig Glück - und wenn der Pfad nicht plötzlich im wuchernden Dschungel endete - wäre er schon vor Sonnenuntergang am Fluss und am folgenden Abend in Sintuya.
Er fühlte sich gut, und je weiter er abstieg, desto mehr beflügelte ihn die immer sauerstoffreichere Luft.
Er machte einige Schritte den Pfad hinab und sah dann über die Schulter zurück. »Komm schon! Wir können hier nicht rasten, wenn wir vor Einbruch der Nacht aus den Bergen raus sein wollen.«
»Nur einen Moment, einen Moment«, bat der Thranx. Seine Stimme klang sogar noch wispernder als sonst.
Cheelo Montoya wartete gereizt, während er in die undurchdringlichen, ewigen Wolken blickte, die über die grünen Hänge krochen. »Ach, zum Teufel!« Er drehte sich um und ging zu dem erbärmlichen Häufchen aus blaugrünem Chitin und geknickten Beinen. Er streifte sich den Rucksack ab und hängte ihn sich vor die Brust, dann drehte er dem Dichter den Rücken zu, ging in die Hocke und beugte sich vor.
»Komm! Steh auf und lauf! Es geht bergab. Komm in die Hufe!«
»In die Hufe?« Die kaum sichtbare Nickhaut des Thranx zitterte. »Ich weiß nicht, was du damit meinst.«
»Beeil dich!« Verärgert, ungeduldig und auf sich selbst wütend, wollte Cheelo keine Zeit mit dummen Fragen vergeuden. »Leg deine Vordergliedmaßen über meine Schultern, hier!« Er klopfte sich auf die betreffende Stelle. »Halt dich fest! Ich trag dich eine Weile. Es wird schnell wärmer, während wir absteigen, und bald kannst du schon wieder selbst laufen. Du wirst schon sehen.«
»Du ... du willst mich tragen?«
»Nicht, wenn du noch länger klackernd und zischend da hocken bleibst! Steh auf, verdammt, bevor mir klar wird, wie dämlich mein Vorschlag ist und ich meine Meinung ändere!«
Die harten, kühlen Gliedmaßen des Thranx fühlten sich irgendwie unheimlich auf Cheelos Schultern an, als ob ihm eine riesige Krabbe auf den Rücken kroch. Mit den vier Vordergliedern hielt Des sich sicher am oberen Teil des Torsos seines menschlichen Reisegefährten fest. Cheelo senkte den Blick und sah, dass der Außerirdische die Arme unter die Trageriemen des Rucksacks geschoben und die Finger vor Cheelos Brust verschränkt hatte. Alle sechzehn. Die Umklammerung bot ihm sicheren Halt, ohne Cheelos Brustkorb allzu sehr zusammenzudrücken. Der Thranx war kräftig gebaut, aber nicht unerträglich schwer. Cheelo glaubte, ihn mühelos eine Zeit lang tragen zu können, zumal es die ganze Zeit bergab ging. Zusammenbrechen würde er unter dem mäßigen Gewicht wohl nicht, doch müsste er darauf achten, nicht auszurutschen oder zu stolpern.
Als er hinter sich blickte, sah er, dass der Außerirdische seine vier Beinglieder schlaff herabhängen ließ, zwei an jeder Seite. Der angenehme Körperduft des Wesens stieg ihm in die Nase. In eine Parfümwolke gehüllt, setzte er den Abstieg fort.
»Halt dich einfach fest!«, fuhr er seine reglose Last gereizt an. »Du fühlst dich besser, sobald es wärmer wird.«
»Ja.«
Cheelo spürte, wie sich die vier Mundwerkzeuge des Thranx an seiner Schulter rieben, und unterdrückte einen Schauder.
»Sobald es wärmer ist. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«
Der Außerirdische redete fast direkt in Cheelos Ohr, ein unheimliches Gefühl. »Versuch, für 'ne Weile den Mund zu halten!«, schlug sein menschlicher Träger vor. Der Dichter verstummte gehorsam.
Je mehr sich Cheelo unter dem zusätzlichen Gewicht entspannte, desto schneller kam er voran. Bis zum Nachmittag hatte er schon ein gutes Stück zurückgelegt. Der Thranx hielt sein Wort und hüllte sich die ganze Zeit über in gnädiges Schweigen; er bat noch nicht einmal darum, eine Rast einzulegen, um etwas essen zu können. Dass er so bereitwillig schwieg, war Cheelo nur recht.
Als schließlich die Sonne gewohnt rasch hinter den Anden versunken war, auf der Suche nach dem fernen Pazifik, schätzte Cheelo, dass sie bereits die halbe Strecke bis hinab zum Regenwald zurückgelegt hatten. Am nächsten Tag würden sie gegen Mittag ins Tiefland gelangen, wo die Temperatur und Luftfeuchte Werte erreichten, die zwar für Cheelo unangenehm, aber für den Thranx bekömmlich waren.
»Zeit, abzusteigen«, teilte er seinem Passagier mit.
Langsam und vorsichtig löste der Thranx die Vorderglieder vom Torso des Menschen und ließ sich auf den Boden sinken. »Ohne deine Hilfe hätte ich es nie so weit geschafft.« Mit beiden Echt- und Fußhänden zog er die Decken an sich und suchte sich einen umgekippten Baumstamm aus, auf dem er die kommende Nacht verbringen wollte. Unter Schmerzen spreizte er die vier steifen Echtbeine und schob den Abdomen auf den Stamm. Das tote Holz fühlte sich feucht und kalt auf seinem ungepanzerten Unterleib an.
»He, es müsste dir eigentlich besser gehen.« Ohne zu wissen warum, versuchte Cheelo seinen Gefährten aufzuheitern. »Hier ist es wärmer, deshalb müsstest du dich wohler fühlen.«
»Es ist wärmer«, stimmte der Thranx ihm zu. »Aber nicht so warm, dass ich mich wohl fühle.«
»Morgen«, versprach Cheelo ihm. Er kniete sich neben seinen Rucksack, durchwühlte ihn und holte einen der vielen Zündstäbe hervor, die er aus dem Haus der Wilderer mitgenommen hatte. Der rauchlos verbrennende Stab war eigentlich als Zündhilfe für Lagerfeuer gedacht, doch da Cheelo in der Umgebung kein trockenes Holz finden würde, beschloss er, einfach aus den Zündstäben ein Lagerfeuer zu machen. Auf dem Boden eines Regenwalds trockenes Holz zu finden ist ungefähr so wahrscheinlich, wie Orchideen in der Tundra anzutreffen.
Während Cheelo sich eine einfache Mahlzeit zubereitete, bemerkte er, dass der Thranx sich nicht regte. »Willst du denn nichts essen?«
»Keinen Hunger. Zu kalt.« Er streckte die aufgerollten Antennen aus, aber nur zur Hälfte.
Cheelo schüttelte den Kopf, erhob sich, ging zu dem Tragesack des Thranx und durchsuchte ihn. »Für eine raumfahrende Spezies seid ihr nicht gerade anpassungsfähig.«
»Meine Spezies hat sich im Laufe der Evolutionsgeschichte auf ein Leben unter der Erde spezialisiert, und noch heute leben wir bevorzugt unterirdisch.« Selbst die gewohnt eleganten, anmutigen Gesten des Thranx wirkten träge. »Es ist schwer, sich an extreme Klimaschwankungen anzupassen, wenn es auf der eigenen Welt solche Schwankungen nie gegeben hat.«
Cheelo zuckte die Achseln und warf eine Hand voll Trockenfrüchte in einen kleinen Topf, den er mit Wasser gefüllt hatte. Wenigstens fand man im Regenwald jederzeit problemlos Wasser, wenn man Lebensmittel rehydrieren wollte. Je kühler es im Laufe des Abends wurde, desto klammer wurden Cheelos Haut und Kleidung. Decken hin oder her - der Thranx und er mussten sich auf mindestens eine kalte, feuchte Nacht auf dem steilen Berghang gefasst machen. Mit warmem Essen und heißen Getränken würden sie der Kälte halbwegs trotzen können.
Obwohl der Thranx offensichtlich keinen Appetit hatte, aß er etwas, wenn auch langsam und zaghaft. Während Cheelo seine Mahlzeit verschlang, beobachtete er den Außerirdischen genau.
»Fühlst du dich besser?«, fragte er, als beide aufgegessen hatten. Wie immer war es faszinierend, wie der Thranx sich die Mundwerkzeuge mit den Echthänden säuberte. Der Anblick erinnerte Cheelo an eine Gottesanbeterin, die sich die letzten Reste ihre Beute von den spitzen Kiefern pflückt.
»Ja, ich fühle mich besser.« Mit einer Fußhand vollzog er eine besonnene Geste, während er sich weiterhin mit den Echthänden die Mundwerkzeuge reinigte.
Vielleicht doch gar nicht so unpraktisch, vier Hände zu haben, dachte Cheelo.
»Die Geste, die ich gerade gemacht habe, bedeutet ›mehr als nur ein wenig Dank‹.«
»Wie macht man sie? So?« Unbeholfen ahmte Cheelo mit Arm und Hand die Thranx-Geste nach.
Der Außerirdische lachte nicht über den ungeschickten Versuch, sondern korrigierte Cheelo einfach: »Deine Hand hast du richtig bewegt, aber den Arm musst du so führen.« Desvendapur machte ihm die Geste erneut vor. Cheelo versuchte noch einmal, die vergleichsweise schlichte Geste nachzuahmen.
»Schon besser«, lobte Desvendapur ihn. »Versuch's noch mal!«
»Ich geb mir schon größte Mühe«, murmelte Cheelo, während er seine Armbewegung korrigierte. »Ich habe zwischen Schulter und Handgelenk nur drei Gelenke. Du hast vier.«
»Das machst du schon recht gut.« Des streckte die Fußhand aus und zog sie in einem speziellen Winkel wieder zurück. »Das ist die Geste für Zustimmung.«
»Also soll ich jetzt lernen, wie ich mit meinem Arm nicken kann, ja?« Cheelo lächelte dünn.
Die Unterrichtsstunde in Thranx-Gestik gefiel Cheelo besser als jedes Scharade-Spiel. Allerdings musste Desvendapur seine Unterweisung recht schlicht halten. Nicht, weil Cheelo zu unbeweglich gewesen wäre, um die Gesten zu imitieren, sondern weil es ihm einfach an Armen mangelte: Die Thranx drückten komplexere Emotionen mit allen vier Armen aus. Obwohl Cheelo eifrig bei der Sache war, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, eine Geste zu machen, bei der er auf dem Rücken liegen und mit allen Gliedmaßen zappelte wie ein Käfer, der sich verzweifelt auf die Beine zu drehen versucht. Desvendapur brachte ihm so lange Gesten bei, bis es völlig dunkel geworden war.
Schließlich brach der Morgen an, nebelverhangen und frisch. Gähnend drehte Cheelo sich unter der Decke um. Die Nacht war zwar feucht und kühl gewesen, aber nicht unerträglich - immer noch deutlich wärmer, als oben auf dem Felsplateau.
Cheelo setzte sich auf und reckte sich, ließ sich die Decke von der Brust bis zur Taille gleiten. Er schaute nach rechts. Sein außerirdischer Gefährte schlief noch, zusammengekauert unter seinem behelfsmäßigen Kaltwetterschutz und alle acht Gliedmaßen eng an Thorax und Abdomen gezogen.
»Zeit zum Aufbruch«, verkündete er erbarmungslos. Er stand auf und kratzte sich. »Komm schon! Wenn wir einen guten Start haben, sind wir bis zum Abend im Regenwald. Ich rehydriere dir ein bisschen Brokkoli oder was von dem anderen Grünzeugs.« Wie sich herausgestellt hatte, mochte der Thranx von allen irdischen Früchten und Gemüsesorten, die er sich aus dem Versteck der Wilderer mitgenommen hatte, Brokkoli besonders gern. Soweit es Cheelo betraf, würde diese Vorliebe die Annäherung zwischen Menschen und Thranx nur verlangsamen.
Als sein Gefährte nicht reagierte, weder verbal noch mit einer der inzwischen vertrauten Gesten, ging Cheelo zu ihm hinüber und stieß ihn mit dem Fuß an. »Raus aus den Federn, Des! Na ja, nicht, dass deine Decke mit Federn gefüllt wäre.«
Nichts an dem Thranx sah in irgendeiner Form ungewöhnlich aus: Sein Panzer glänzte im gewohnten metallischen Blaugrün, von den Flügeldecken über die Gliedmaßen bis hin zum Kopf. Die vielen Cornealinsen seiner Augen, jede so groß wie die Faust eines Menschen, schimmerten im frühen Morgenlicht wie goldbraune Bernsteine. Aber irgendetwas stimmte nicht. Cheelo brauchte eine Weile, bis er es schließlich erkannte.
Er roch nichts.
Genauer gesagt: Er roch den Thranx nicht mehr. Der Außerirdische verströmte nicht mehr den für ihn typischen milden Blumenduft. Cheelo beugte sich vor und schnüffelte an ihm, roch jedoch nichts als frische Bergluft. Dann erkannte er, dass noch etwas anderes nicht stimmte. Er bückte sich und stieß den Thranx unsicher mit beiden Händen an.
Wie steif gefroren kippte der Außerirdische auf die Seite, wobei die Decken kurz flatterten wie dunkle Flügel. Sie waren zu Leichentüchern geworden. Die starren Beine und Arme des Thranx blieben exakt in der Position, in der er auf dem Stamm geruht hatte, angewinkelt und dicht an den Körper gezogen.
»Des? Komm schon, ich hab keine Zeit, um Krabbeltiere zu verhätscheln. Steh auf!« Cheelo hockte sich hin und zog sanft an einer Echthand. Das Armglied ließ sich nicht bewegen, und der Thranx zeigte keine Reaktion. Cheelo packte mit beiden Händen zu und zog fester.
Ein durchdringendes Knacken zerriss die Luft. Cheelo hielt das oberste Armgelenk samt Echthand in den Händen. Dunkelrotes, mit grünen Schlieren durchsetztes Blut sickerte aus dem abgerissenen Glied. Entsetzt richtete Cheelo sich auf und schleuderte es von sich. Noch immer zeigte der Thranx keinerlei Reaktion. Benommen begriff Cheelo, dass Desvendapur dazu auch nicht mehr fähig war.
Fassungslos ließ Cheelo sich aufs Hinterteil plumpsen; er scherte sich nicht um die feuchten Pflanzen und den kalten Boden, sondern starrte den Thranx nur ungläubig an. Das Insektenvieh war tot. Nein, korrigierte er sich. Nein. Der Dichter ist tot. Desmelper ... Dreshenwn ... Verdammt!
Er konnte den Namen des Außerirdischen noch immer nicht aussprechen. Jetzt würde er es vermutlich nie lernen, weil der Träger dieses Namens ihm nicht mehr die Feinheiten der thranxischen Ausdrucksweise beibringen konnte. Cheelo ertappte sich bei dem Wunsch, dem Außerirdischen aufmerksamer zugehört zu haben, als dieser ihm von sich erzählt hatte. Er wünschte sich, noch auf viel mehr Dinge geachtet zu haben.
Nun, zu dumm, aber das war nicht seine Schuld. Das unvorhersehbare Schicksal war der Kopilot eines jeden empfindungsfähigen Lebewesens. Nur weil dieses Schicksal nun den Thranx hier auf einem kalten, nassen Berghang mitten in den Anden ereilt hatte, bedeutete das nicht, dass Cheelo Montoyas Schicksal ebenfalls besiegelt war. Sein Schicksal lag in der Zukunft, in Golfito und später in den einträglichen Goldgruben Monterreys. Er hatte ein reines Gewissen.
Was das Insekt betraf, so schuldete Cheelo ihm gar nichts. Zum Teufel, der Außerirdische gehörte ja noch nicht einmal auf diese Welt! Das, was ihm widerfahren war, hatte er sich selbst zuzuschreiben. Niemand hatte ihn dazu gezwungen, auf Abenteuerreise zu gehen. Für seinen Tod traf weder Cheelo noch sonst jemanden irgendeine Schuld. Der Thranx war tot; die Dinge waren nicht so gut für ihn gelaufen, wie er es sich ausgemalt hatte; und Cheelo sah ein solch tragisches Ende nicht zum ersten Mal - auch wenn er es bislang nur bei seinen Mitmenschen beobachtet hatte. Keine große Sache. Nein. Nichts Besonderes.
Aber warum fühlte er sich dann so verdammt miserabel?
Das ist lächerlich!, dachte er. Er hatte dem Außerirdischen nach Kräften geholfen, genau, wie der Thranx ihm geholfen hatte. Keiner von ihnen hatte sich irgendetwas vorzuwerfen. Wenn sie vor Gericht hätten aussagen müssen, hätten sie beide beschwören können, dass sie während ihrer gemeinsamen Reise nie ein Geheimnis um ihre wahren Beweggründe gemacht hätten. Davon abgesehen: Wenn er, Cheelo Montoya, jetzt anstelle des Thranx tot und reglos im Unterholz liegen würde, was hätte der Außerirdische getan? Bestimmt wäre er zu seinen Leuten zurückgekehrt und hätte Cheelo einsam und vergessen auf der nassen Erde verrotten lassen.
Das bedeutete natürlich nicht, dass Cheelo das ebenfalls tun konnte.
Doch Cheelo zögerte. Niemand konnte ihn zwingen, kein anklagendes Gesicht starrte ihn aus den Tiefen des Regenwalds an. Der Drang, den er spürte, kam allein aus seinem Inneren, doch woher genau, hätte Cheelo nicht sagen können. Er hielt sich eigentlich für einen überaus vernünftigen Mann, wieso plagte ihn jetzt dieses seltsame Gefühl? Alles, was ihn zu Cheelo Montoya machte, brüllte danach, seine Sachen zu nehmen und sich aus dem Staub zu machen. Hinunter in den Regenwald, immer weiter, nur fort vom Lagerplatz, den er jetzt nicht mehr brauchte. Er wollte sich ein gemütliches Zimmer im lockenden Sintuya mieten, seinen Flug buchen und die Lizenz übernehmen, die Ehrenhardt ihm versprochen hatte. Sein Leben war eine einzige Litanei aus Elend und Versagen gewesen. Bis jetzt.
Er biss die Zähne zusammen und rollte die Leiche mitsamt Decken und Thorax-Tasche in das dichte, dunkelgrüne Gebüsch. Dort würde sie allmählich von den Tieren des Waldes beseitigt werden und wäre vom Himmel aus nicht zu entdecken. Nicht dass die ewigen Wolken nicht schon genug dazu beigetragen hätten, dass man am Boden nur schwer konkrete Objekte erkennen konnte.
Ungeduldig, hastig hob Cheelo seinen Rucksack auf, überprüfte, ob alle Riemen festgezurrt waren, hängte ihn sich um und lief entschlossen den Pfad hinab. Nach wenigen Schritten stolperte er über etwas Unnachgiebiges. Er murmelte einen Fluch und wollte den abgebrochenen Ast schon beiseite treten, als er erkannte, dass das unnachgiebige Objekt nicht aus Holz bestand. Es war die Echthand, die er dem Thranx unversehens abgerissen hatte.
Wie sie so vor ihm lag, vom Rest des Armglieds abgetrennt, wirkte sie irgendwie künstlich, nicht wie ein Körperteil. Sicher hatte jemand diese steifen, zarten Finger einer Kalkstatue abgerissen und keinem Lebewesen. Erhaben geformt, schlank und funktionell, nutzten sie ihrem früheren Besitzer nichts mehr - und Cheelo erst recht nicht. Er bückte sich, hob die Echthand auf und musterte sie genau, ehe er sie schließlich gleichgültig über die Schulter warf und seinen Abstieg fortsetzte.
Nach wenigen Metern blieb er stehen. Die Bäume des Regenwalds blühten das ganze Jahr über, wenn auch nie alle Arten gleichzeitig Blüten trugen. Vor ihm stand ein Baum, der sich besonders deutlich vom dahinter liegenden Fels abhob; er trug eine prächtige Krone aus leuchtend roten Blüten. Kolibris schlürften den süßen Nektar, während riesige, blau glänzende Morpho-Schmetterlinge zwischen den Ästen umherflatterten wie vom Himmel rieselnde hellblaue Fischschuppen. Cheelo ließ den überwältigenden Anblick lange Zeit auf sich wirken. Dann, ohne genau zu wissen, warum, drehte er sich um und ging zurück.