20
Während der Wilderer namens Hapec das Lager abbrach und dabei sorgfältig alle Spuren beseitigte, bewachte sein Kumpan, der Maruco hieß, die beiden Gefangenen. Den nervösen Cheelo behielt er besonders gut im Auge; dem Thranx hingegen erlaubte er, sich frei auf dem Lagerplatz zu bewegen. Immer, wenn es so aussah, als würde der Thranx sich zu weit entfernen, befahl Maruco seinem menschlichen Gefangenen, den Außerirdischen zurückzurufen - genauer gesagt: zurückzugestikulieren. Das tat Cheelo dann auch mit sinnlos fuchtelnden Händen und wedelnden Fingern. Desvendapur spielte seine Rolle gut, wartete immer erst ab, bis Cheelo mit seiner Scharade fertig war, und gehorchte dann - nicht Cheelos wirren Gesten, sondern dem Befehl des Wilderers, den er natürlich einwandfrei verstanden hatte.
Auf diese Weise machte er die Wilderer weiterhin glauben, dass er kein Wort von dem verstand, was sie sagten. Hätte Des eine Waffe besessen, hätte er die beiden einfach erschießen können. Doch der einzige waffenähnliche Gegenstand, den er in seinem Survival-Kit bei sich trug, war das kleine Schneidewerkzeug. Sicherlich wäre bei seinem Angriff das Überraschungsmoment auf seiner Seite, und vielleicht hätte er sogar eines der beiden asozialen Individuen enthaupten können, aber nicht beide. Dazu waren sie zu kräftig, zu aufmerksam und zu sehr an das Leben in ständiger Gefahr gewöhnt. Und auch wenn sie sich ihm gegenüber nicht allzu misstrauisch gaben, fühlten sie sich in seiner Gegenwart nicht besonders wohl. Sobald Des sich ihnen bis auf wenige Meter näherte, wurden sie stets unruhig.
Einer von Des' Versuchen, sich Maruco zu nähern, endete prompt damit, dass dieser zeterte: »Sag dem Käfer, er soll mir vom Leib bleiben, Mann! Junge, ist der hässlich! Aber er riecht gut. Und du, mein Freund, dich halt ich echt für hinterfotzig, Mann, aber du hast völlig Recht: Irgendeiner wird 'ne ordentliche Summe für den da blechen.« Er zuckte die Achseln, das Gewehr lässig gepackt - aber leider nicht lässig genug. »Ich würd nie 'n andres Wesen, das denken kann, in Gefangenschaft halten. Ich hab die Leute noch nie verstanden, die sich Tiere anschaffen. Hapec und ich, wir halten uns noch nich mal Affen.«
»Warum wildert ihr Burschen dann?«, fragte Cheelo mit aufrichtiger Neugier. Er sah sich auf dem Lagerplatz um, ohne das Gewehr des Wilderers aus den Augen zu lassen. Sobald sich ihm eine halbwegs gute Gelegenheit böte, würde er versuchen, ihm die Waffe aus den Händen zu reißen. Bis jetzt hatte sich ihm keine geboten. »Im ganzen Reservat muss es von Rangern und Überwachungssonden nur so wimmeln! Ist es denn so profitabel, mit ein paar Häuten und Federn zu handeln?«
»Hapec und ich kommen ganz gut zurecht. Aber wir machen das nicht nur wegen der Kohle. Unsere Vorfahren haben hier früher in Freiheit gelebt, konnten nach Herzenslust fischen und jagen. Sie konnten sich nehmen, was sie gebraucht haben. Dann ist das Gebiet zum Naturreservat erklärt worden mit festgelegten Grenzen und so, und alle, die hier gelebt haben, haben sie verjagt, mussten sich auf der anderen Seite der Reservatsgrenze 'ne neue Heimat suchen. Und das alles nur, um einen lausigen Haufen Pflanzen und Tiere zu schützen und um einen natürlichen CO2-Tauscher für die Atmosphäre zu haben. Als ob dem Planeten der Sauerstoff ausgehen würd!« Sein Ton klang verbittert. »Mit der Wilderei holen Hapec und ich uns etwas von dem zurück, was uns zusteht - das war schließlich früher das Land unserer Vorfahren!«
Cheelo nickte düster. »Das kann ich verstehen.« Insgeheim hielt er Marucos Erklärung für oberflächlichen, anmaßenden Scheißdreck. Die beiden Wilderer drangen nicht immer wieder in den Regenwald ein, um ihre Vorfahren zu ehren, sondern weil sie gut und bequem davon leben konnten, und das war der einzige Grund. Sich für einen längst vergessenen Urgroßvater zu rächen, hatte nichts damit zu tun. Cheelo kannte solche Schmalspurganoven wie Hapec und Maruco schon sein ganzes Leben lang; er war mit solchen Leuten aufgewachsen. Vielleicht fühlten die beiden Wilderer sich ein bisschen besser, wenn sie ihre armseligen, selbstsüchtigen Verbrechen damit begründeten, dass ihnen und ihren Leuten früher Unrecht widerfahren sei. Aber Cheelo kaufte ihnen kein Wort davon ab. Was sein insektenähnlicher Gefährte von ihnen hielt, konnte er sich allerdings nicht ausmalen. Und momentan konnte er es auch nicht herausfinden, und auch nicht in absehbarer Zeit. Wenn Cheelo am Leben bleiben wollte, musste der Thranx sich weiterhin stumm stellen.
Cheelo hörte ein Rascheln im dichteren Unterholz am Lichtungsrand. Er musterte die Stelle. »Und wo liegt sie nun, eure kleine versteckte Zuflucht, zu der ihr uns bringt?«
»Das erfährst du schon noch früh genug.« Während Maruco mit Cheelo sprach, nahm Hapec die teilweise getrockneten Jaguar- und Margay-Felle von den Spanngestellen und faltete sie zusammen. Als er damit fertig war, machte er sich wieder daran, das Lager abzubauen, legte alles zu einem Haufen aus Holzstücken, Ranken und organischen Abfällen zusammen. Anschließend warf er alles ins Unterholz, wo es verrotten und zerfallen sollte, zusammen mit jedem Hinweis darauf, dass auf der Lichtung je Leute campiert hatten.
»Muss ganz schön hart sein.« Cheelo gab sich zwar nicht der Illusion hin, sich durch seine Unterhaltung mit Maruco bei ihm einschmeicheln zu können, doch da ihm keine andere Möglichkeit blieb, musste er sich wohl damit begnügen. »Ihr müsst jedes Mal das Lager abreißen und ein neues aufbauen, wenn ihr ins Reservat kommt.«
Maruco erwiderte abschätzig: »Wird immer leichter, je mehr Übung man hat. Man lernt, mit welchem Holz man die besten Spanngestelle bauen kann, welche Ranken besonders biegsam und leicht zu verarbeiten sind. Wieso interessiert dich das überhaupt?« Er grinste gehässig. »Spielst du mit dem Gedanken, uns Konkurrenz zu machen?«
»Ich doch nicht!« Cheelo schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Stadtmensch.«
»Hab ich mir schon gedacht. Du verdienst dein Geld mit anderen krummen Geschäften.«
Als alles im Transporter verstaut war, brachten die Wilderer Cheelo und Des an Bord. Cheelo fand das Fahrzeug nicht sonderlich außergewöhnlich. Desvendapur hingegen war davon fasziniert. Zum ersten Mal sah er mit eigenen Augen ein Beispiel der komplexen menschlichen Technologie; alles war neu für ihn, jedes Detail: der Entwurf, die Instrumente, die klimatisierte Passagierkabine. Es gab natürlich nirgends einen Ruhesattel für ihn. Für einen Thranx war der Boden eine bessere Sitzgelegenheit als die Sitze, die für Menschen ausgelegt waren. Er beschloss, stehen zu bleiben und nahm mit allen sechs Beinen einen sicheren Stand ein, als die Wilderer den schallisolierten Motor des Transporters anließen und von ihrem verborgenen Landeplatz ins Blätterdach des Dschungels hinaufstiegen.
Maruco flog größtenteils unter dem Blätterdach dahin und steuerte sein Ziel nicht in gerader Linie an, auch wenn er es auf diese Weise viermal schneller erreicht hätte. So oft wie möglich nutzte er das Blätterdach als Deckung und stieg nur dann über die Baumkronen auf, wenn der Dschungel zu dicht und die Gefahr zu groß wurde, dass der Transporter eine deutliche Spur in Form abgebrochener Äste und abgerissener Lianen hinterlassen würde. Von Zeit zu Zeit wich der wuchernde Wald gewundenen Flüssen und Lagunen, die es Maruco ermöglichten, mit hoher Geschwindigkeit und im Tiefflug voranzukommen, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Als die ersten Ausläufer der Berge im Nebel und in den tief hängenden Wolken auftauchten, stutzte Cheelo. »Ihr habt doch gesagt, euer Versteck läge gleich vor dem Reservat?«
»Das stimmt auch«, antwortete Maruco, ohne sich zu ihm umzudrehen. Hapec bewachte Cheelo mit vorgehaltenem Gewehr. »Wenn du dich hier in der Gegend auskennen würdest, wüsstest du, dass das Reservat im Westen an die Anden grenzt.«
Durch die Frontscheibe sah Cheelo, dass die Gebirgsausläufer rasch steilen, grünen Hängen wichen. »Das weiß ich. Ich hab nur angenommen, euer Versteck sei noch irgendwo im Tiefland, im Wald verborgen.«
Maruco lächelte wissend, während er den Transporter in eine Schlucht steuerte, die stetig aufwärts führte. »Das nehmen alle Ranger an, die im Regenwald patrouillieren. Daher verstecken wir uns nicht im Wald, sondern oben in der dürren und kalten Berglandschaft. Welcher chingon wäre schon so dämlich, sich auf einem baumlosen Gebirgskamm zu verstecken, wo jeder ihn sehen kann? Bestimmt keiner, der im Dschungel wildert, stimmt's?«
»Wir hatten noch nie Ärger«, bestätigte Hapec die Ausführungen seines Kumpans nicht ohne Stolz. »Keiner überprüft uns oder unser kleines Haus.« Als er grinste, entblößte er seine blitzenden Keramikzähne. Offenbar lagen golden getönte Zähne momentan im Trend. »Wenn einer fragt, sagen wir, dass wir eine private Vogelbeobachtungsstation betreiben.«
»Das ist nicht ganz gelogen«, bemerkte Maruco vergnügt. »Wir beobachten ja wirklich Vögel. Und wenn sie selten genug sind, fangen wir sie und verkaufen sie dann!«
Als der Transporter in das Gebiet flog, in dem der Nebelwald begann, der die Hänge mit seinen ewigen, schwermütigen Nebelschwaden überzog, schaltete der Wilderer von manueller auf automatische Steuerung um. Der Luftentfeuchter hatte sich schon vor einer Weile deaktiviert, und die automatische Klimaanlage des Fahrzeugs hatte von ›Kühlen‹ auf ›Heizen‹ umgeschaltet. Cheelo unterhielt sich weiterhin oberflächlich mit den Wilderern, obwohl er wusste, dass er die beiden nicht würde täuschen können. Wenn er sie provozierte, würden sie ihn skrupellos über den Haufen schießen. Das war ihm klar, und sicher wussten auch die Wilderer, dass ihm das klar war. Doch sich mit ihnen zu unterhalten war immer noch besser, als zu schweigen oder sich gegenseitig zu beleidigen. Und vielleicht würde er dabei ja etwas Nützliches in Erfahrung bringen.
Desvendapur jedenfalls lernte viel Nützliches. Er empfand nicht nur den Flug, sondern auch die nervöse Unterhaltung der drei Menschen als anregend und stimulierend: ein nicht abreißen wollender Strom der Inspiration. Er wollte seinen Sch'reiber nicht benutzen, weil er fürchtete, dass die beiden Männer ihm das Gerät wegnehmen würden, deshalb beschränkte er sich darauf, alles zu beobachten und sich so viel wie möglich zu merken. Nervöse Anspannung und unverhohlene Aufregung waren zwei artspezifische Emotionen, die seine Spezies schon vor hunderten von Jahren, um ein höfliches Zusammenleben zu garantieren, aufgegeben hatte. In einer akribisch organisierten Gesellschaft, die schließlich größtenteils unterirdisch und auf engem Raum lebte, waren Höflichkeit und Freundlichkeit nicht nur erwünscht, sondern zwingend erforderlich.
Menschen stritten sich offenbar schon bei der kleinsten Provokation. Es war atemberaubend und höchst faszinierend, wie viel Energie sie in ihr ständiges Gezänk steckten - auch wenn diese Energie vergeudet war. Anscheinend hatten sie zu viel davon. Selbst der aufbrausendste Thranx verhielt sich umsichtiger und konservativer. Dass die Wilderer Des in eine Art von Gefangenschaft verkaufen wollten, erregte ihn nicht so sehr wie ihre ständige Streiterei. Falls er in Gefangenschaft geriete, wäre das gar nicht so schlimm. Dann könnte er die Menschheit weiterhin aus nächster Nähe studieren. Allerdings bezweifelte er, dass sein besorgter Menschengefährte ähnlich darüber dachte.
Die beiden gemeinschaftsuntauglichen Menschen wollten ihn, Desvendapur, nicht Cheelo Montoya. Auf den selbst erklärten Dieb war Des nicht mehr angewiesen. Mehr als einmal war Des versucht, etwas zu sagen, den beiden Wilderern zu offenbaren, dass er ihre Sprache flüssig beherrschte. Nur aus einem einzigen Grund hielt er sich zurück: Er wusste, dass das für seinen Gefährten das Todesurteil bedeutete. Eingedenk dessen, was er über Cheelo wusste, wäre das zwar ein geringer Verlust für die Menschheit gewesen, verstieße aber gegen sämtliche Höflichkeitsregeln der Thranx. Abtrünniger hin oder her, Desvendapur war keinesfalls dazu bereit, in solchem Ausmaß gegen die thranxische Tradition und gegen die Regeln zivilisierten Zusammenlebens zu verstoßen. Zumindest noch nicht. Momentan fand er es überaus amüsant, das Spiel mitzuspielen und sich anzuhören, welche Kommentare die ahnungslosen Menschen über ihn machten.
Nach einer Weile stieg der Transporter über die Wolken ins Sonnenlicht auf, das so hell war, dass es ihn in den Augen schmerzte. Die Luft war klar, der Himmel blau, und in der Ferne erhoben sich Berge, die gut und gerne fünftausend Meter hoch waren. Direkt vor ihnen erstreckte sich eine steinige, von grünen Flecken durchsetzte Ebene nach Westen: eine Hügellandschaft mitten im Gebirge. Nur einige vereinzelt stehende Bauernhöfe und lange, heliotropische Folien, die über Tomaten- und andere Gemüsefelder gespannt waren, zeugten davon, dass hier oben jemand lebte.
Am östlichen Rand eines hohen Bergkamms stand eine bescheidene, unauffällige Hütte, von der aus ein kleiner, rundum geschlossener Verbindungsgang zu einem etwas größeren Fertighaus führte. Als der Transporter sich näherte, öffnete sich das Rolltor der Hütte - offenbar eine Garage. Maruco steuerte den Transporter manuell hinein. Er hätte auch das automatische Landesystem benutzen können, doch war ihm das zu riskant: Womöglich hätte ein neugieriger Ranger die schwachen, aber wahrnehmbaren Peilsignale des Systems empfangen und Verdacht geschöpft. Als auf der Instrumententafel eine Kontrollleuchte grün aufblinkte, bremste Maruco den Transporter ab, der nun genau in der Garagenmitte schwebte. Der Wilderer legte einen Hebel um, und das Fahrzeug senkte sich sanft auf den glatten, fest gestampften Boden. Lautstark schloss sich das Rolltor hinter ihnen, und die Heizanlage der Garage erwachte brüllend zum Leben.
Die Wilderer nahmen die Gefangenen in ihre Mitte und führten sie durch den Verbindungsgang zum größeren Gebäude, das spärlich, aber gemütlich eingerichtet war. Im Haus angekommen, sah Hapec den Außerirdischen stirnrunzelnd an.
Er deutete mit dem Kopf auf den Thranx. »Was hat er?«
Cheelo, der kaum auf den Thranx geachtet hatte, weil er sich jedes Detail ihres Gefängnisses einzuprägen versuchte, wandte sich um und sah, dass der Außerirdische zitterte. Er musste nicht lange überlegen, um zu begreifen, was los war.
»Ihm ist kalt.«
»Kalt?« Maruco blickte auf eine Anzeige an der Wand und stieß ein ungläubiges Schnauben aus. »Wir haben hier drinnen dreiundzwanzig Grad.«
»Das ist zu kalt für einen Thranx. Er hat mir erzählt, dass er das Regenwaldklima als kühl empfindet. Und hier drinnen ist die Luft viel zu trocken. Er braucht eine Luftfeuchtigkeit von mindestens neunzig Prozent und eher dreiunddreißig, dreiundvierzig Grad, um sich wohl zu fühlen.«
»Scheiße!«, murmelte Hapec. »Das wird dann aber mich glatt umbringen!«
»Nein, sicher nicht. Ihr müsst das Klima anpassen.«
Maruco brummte etwas Unverständliches, trat an die Schalttafel der Hausklimaanlage und stellte die von Cheelo angegebenen Minimalwerte ein, bei denen ein Thranx sich wohl fühlte.
»Maruco!«, protestierte sein Kumpan, als sowohl Luftfeuchtigkeit wie Temperatur anstiegen.
»Hör auf zu jammern!«, fuhr der kleinere Wilderer seinen Partner an. »Das ist nur vorübergehend. In ein paar Tagen ist der Deal über die Bühne. Länger brauchen wir nicht dafür - nicht mit so einer besonderen Ware!« Er lächelte Desvendapur einfältig an. »Du wirst uns reich machen, du ekliger Haufen Beine und Fühler! Also sollst du dich ruhig eine Weile wohl fühlen. Wir verkraften die Hitze schon.«
Der Dichter sah den gesellschaftsfeindlichen Menschen ausdruckslos, aber alles andere als verständnislos an.
»Und jetzt«, wandte sich der Wilderer in kaltem Ton an seinen anderen Gefangenen, »werden wir dich fesseln.«
»Das könnt ihr doch nicht machen!«, begehrte Cheelo auf. »Das ... das wird den Außerirdischen aufregen. Er ist davon überzeugt, dass ihr zwei uns freundlich gesinnt seid. Wenn ihr mich fesselt, regt er sich auf!«
»Soll er doch! Notfalls fesseln wir auch ihn.« Hapec nahm bereits einige Handriemen aus Plastik aus einer Schublade.
»Dann verliert ihr ihn vielleicht. Wenn er sich zu befreien versucht, könnte er sich verletzen oder sich die Luft abschnüren und ersticken!«
»Das Risiko gehen wir ein.« Beide Wilderer näherten sich dem wachsamen Cheelo. Noch immer hielt Maruco sein Gewehr auf ihn gerichtet. »Wenn er sich beschwert, können wir dich immer noch losbinden. Mach's uns und dir selbst nicht unnötig schwer!«
»Genau. Du kannst dich nämlich glücklich schätzen«, grinste Hapec. »Normalerweise würden jetzt die Ameisen schon die Reste deiner Augäpfel fressen.«
Cheelo blieb nichts anderes übrig, als sich die Kunststofffesseln um die Handgelenke und Fußknöchel legen zu lassen. Als die Wilderer den Eindruck hatten, dass sie eng genug anlagen, zogen sie die Sicherheitslaschen ab, und der weiche Kunststoff der vormals beweglichen Fesseln erstarrte. Hapec warf einen Blick hinter sich und sah, dass der Außerirdische keinerlei Reaktion zeigte.
»Sieht nicht so aus, als würde dein Käferfreund sich aufregen. Mach's dir nicht selbst schwer! Sag ihm, das hier gehört zu einem komischen Begrüßungsritual!«
»Sag's ihm doch selbst!«, spie Cheelo, der vor Zorn unvorsichtig wurde.
Hapec holte zum Schlag aus, doch sein Kumpan hielt ihn zurück. »Lass dich doch nicht von dem provozieren! Und außerdem wollen wir nicht unsere kostbare Ware aufregen, wenn's sich vermeiden lässt.« Maruco beugte sich dich zu dem gefesselten Cheelo und sah ihm bedrohlich in die Augen. »Allerdings hab ich nichts dagegen, dich aufzuregen. Benimm dich, und wir spendieren dir schon bald einen netten, kostenlosen Suborbitalflug in einem Privatgleiter! Aber wenn du uns Ärger machst, müssen wir den Käfer wohl ohne Übersetzer verkaufen.« Er richtete sich auf und schaute zu dem Thranx, der soeben eingehend die Kücheneinrichtung inspizierte.
»Was frisst er? Hat er Hunger?«
Unterdrückt und unglücklich, murmelte Cheelo: »Er ernährt sich streng vegetarisch: hasst den Anblick von Fleisch. Er kann viele irdische Pflanzen verdauen. Ich weiß nicht, welche für ihn am nahrhaftesten sind. Ich muss ihn fragen.« Er hob die gefesselten Arme. »Natürlich kann ich so nicht mit ihm reden.«
Maruco entglitten die Gesichtszüge. Offenbar hatte keiner der beiden Wilderer daran gedacht, als sie Cheelo fesselten. Mit einem Messer zerschnitt Maruco die Handfesseln. »Also schön, aber sobald du die Antworten hast, die wir wollen, fesseln wir dich wieder. Und keine Tricks.«
Cheelo breitete die Hände aus. »Was sollte ich schon tun? Ihm sagen, er soll die Ranger rufen? Vergiss nicht, er ist ebenfalls heimlich hier.« Er wandte sich Desvendapur zu und begann, kompliziert mit den Fingern zu zucken und zu wedeln.
Pflichtbewusst schaute der Dichter sich die sinnlosen Gesten an, ehe er mit einer Echt- und einer Fußhand antwortete. Seine Handgesten bedeuteten, dass Cheelo ein Pontik sei, eine besonders langsame und dumme Larvenart. Die beiden asozialen Elemente bezeichnete er als Pepontiks oder Pre-Pontiks - eine noch niedere Lebensform, die nicht einmal genug Intelligenz besaß, dass man sie als dumm bezeichnen konnte. Natürlich hatte keiner der drei Menschen auch nur den leisesten Schimmer, was seine komplexen Gesten bedeuteten, dennoch amüsierte Des sich über seine Antworten.
Gleichwohl fiel es ihm deutlich schwerer, sich eine gute Antwort auf die Marucos Frage einfallen zu lassen. Da er nicht sprechen durfte, würde er die für ihn geeigneten Pflanzen irgendwie anders beschreiben müssen. Er wandte sich ab und inspizierte aus nächster Nähe die Spüle. Sollte Cheelo sich die Antworten doch selbst ausdenken!
Als Montoya begriff, dass der Thranx ihm nicht helfen würde, improvisierte er. »Er hat im Moment keinen Hunger, und wenn er nicht hungrig ist, will er auch nicht über Nahrung reden.«
Maruco knurrte: »Wir tauen ein paar Früchte und Gemüse auf. Dann kann er sich selbst aussuchen, was er will. In der Zwischenzeit muss ich mich um den Deal kümmern. Hapec, du entlädst den Transporter!« Sein Partner nickte und verschwand in den Gang, der das Haus mit der Garage verband. Maruco kniff die Augen zusammen und musterte seinen gefesselten Gefangenen. »Wenn ich den Eindruck bekomme, du willst dich aus den Fesseln befreien, leg ich dir ein paar davon ums Gesicht!« Sein Grinsen wurde breiter. »Dann kannst du dem Käfer sagen, das gehört auch zum Begrüßungsritual.« Er schaute zu Desvendapur.
»Ich durchsuche seinen Sack oder die Tasche oder was immer das da auf seinem Rücken ist nicht, denn ich will ihn nicht aufregen. Ich weiß, dass er keine Waffen bei sich hat, sonst hätte er nämlich mittlerweile längst versucht, sie zu benutzen.«
Cheelo nickte. »Wie ich dir gesagt hab: Er hat im Regenwald geforscht. Deshalb hat er bis jetzt auch kooperiert. Er hat keine Waffen.« Das war die Wahrheit, jedenfalls soweit Cheelo wusste.
»Schön. Wir belassend dabei. Vorerst jedenfalls.« Der Wilderer legte Cheelo wieder eine der selbstverschließenden Fesseln um die Handgelenke und zog die Sicherheitslaschen ab. Binnen Sekunden erstarrte der Kunststoff. »So. Jetzt kannst du nicht hinter meinem Rücken mit ihm ›reden‹, während ich arbeite.«
Er drehte sich um und ging zu einem Schreibtisch im hinteren Teil des Raums, wo er sich auf einen Stuhl niederließ. Kurz darauf kommunizierte er in wohl überlegter Reihenfolge mit Individuen in fernen Teilen der Welt, Personen, deren Ethik ebenso armselig war, wie ihre Bankkonten aus allen Nähten platzten.
Während Cheelo hilflos dasaß und innerlich kochte, nahm der stets neugierige Desvendapur noch immer die Unterkunft der Wilderer in Augenschein. Die Temperatur und Luftfeuchte waren auf ein für ihn erträgliches Maß gestiegen, und er genoss die kurze Ruhepause, die, wie er wusste, nicht lange währen würde. Während er den Raum samt Einrichtung inspizierte, fiel ihm ab und an auf, dass Cheelo immer wieder sein Gesicht zu außerordentlich vielfältigen Grimassen verzog. Keine davon sagte dem Dichter etwas, obwohl er an ihrer Häufigkeit und Dringlichkeit erkannte, dass der Mensch ihn anflehte, etwas zu unternehmen.
Desvendapur hatte genug Zeit zum Nachdenken gehabt: Er konnte natürlich nicht zulassen, dass man ihn verkaufte. Wenn sich ihm keine Alternative eröffnete, würde er zwar auch in Gefangenschaft überleben, ja sich sogar wohl fühlen können. Aber eigentlich hatte er für seine Zukunft bessere Pläne. In menschlicher Gefangenschaft würde man seine Vorträge nicht angemessen zu schätzen wissen. Er brauchte ein Thranx-Publikum. Daher musste er eine Möglichkeit finden, zur Kolonie zurückzukehren. Da er nicht wusste, wie er das alleine schaffen sollte, brauchte er Cheelos Hilfe. Das bedeutete jedoch nicht, dass er jetzt alles überstürzen müsste, nein, er würde sich Zeit lassen. Die beiden asozialen Elemente wollten zwar viel Geld mit Des verdienen, doch bezweifelte er, dass sie zögern würden, ihn zu töten, wenn sie sich bedroht fühlten. Bestimmt verstand Cheelo das.
Kurze Zeit später hatte Hapec den Transporter entladen und kehrte wieder ins Haus zurück. Er trat an die Küchenzeile und machte sich daran, eine Mahlzeit zuzubereiten, während sein Partner noch immer über eine sichere Verbindung mit seinen internationalen Kunden kommunizierte. Die beiden Männer ignorierten ihre Gefangenen zwar nie völlig, aber immerhin weitgehend.
Desvendapur befand sich in einer Situation, auf die sein lebenslanges Studium ihn nicht hatte vorbereiten können, daher musste er nun auf eine Eigenschaft zurückgreifen, die ihn noch nie im Stich gelassen hatte: seinen Einfallsreichtum. Während er die Behausung der Männer untersuchte, legte er sich im Kopf einen Plan zurecht - in der Weise, in der er auch einen langen Vortrag planen würde, komplett mit gründlichen Revisionen und Korrekturen.
Der nervöse Cheelo bekam nichts davon mit. Die Fesseln schmerzten ihn immer mehr. Dank seines schnellen Verstandes hatte er etwas Zeit gewonnen, doch anders als beim Kauf eines neuen Kommunikators oder 3-D-Geräts hatte er hier keine Garantie, kein Rückgaberecht, falls er unzufrieden war. Die beiden Wilderer dachten nicht allzu weit. Bei jeder Kleinigkeit, die sie erzürnte, würden sie vielleicht die Beherrschung verlieren. Und dann würden sie alle umsichtigen und praktischen Erwägungen in den Wind schlagen, der vom Regenwald die Berge hinaufwehte, und ihm den Kopf zerblasen. Das wusste er so genau, weil er und sie aus dem gleichen Holz geschnitzt waren: Repräsentanten der gleichen menschlichen Subspezies, die in kritischen Situationen einfach handelt, anstatt erst einmal nachzudenken. Maruco und Hapec waren ihm viel zu ähnlich, als dass er sich in ihrer Gesellschaft hätte wohl fühlen können. Und der Teufel, dessen Gesicht er kannte, war er schließlich selbst.
Davon überzeugt, zumindest nicht in unmittelbarer Lebensgefahr zu schweben, richtete er den Blick auf den Thranx. Er wusste nicht, was der Außerirdische dachte, und konnte es auch nicht herausfinden, ohne mit ihm zu sprechen; das wiederum war unmöglich, da die Wilderer dann erfahren hätten, dass der Thranx Terranglo verstand. Cheelo würde sich wohl mit Mutmaßungen zufrieden geben müssen. Wie schätzte der Dichter die Situation wohl ein? Interessierte es ihn überhaupt, was mit ihm geschah? Cheelo selbst scherte sich jedenfalls nicht darum, was mit dem Käfer geschehen würde. Doch im Augenblick lag Cheelos Leben allein in den Händen des vielgliedrigen Außerirdischen - in allen vier Händen.
Wenn der Thranx auch nur einmal unachtsam wäre und ein Wort sagte, würden die Wilderer schnell begreifen, dass sie keinen Übersetzer brauchten. Dann wäre Cheelo vom einen Moment auf den anderen völlig wertlos für sie. Es gab viele tiefe Schluchten östlich des kleinen Fertighauses, in die sie seine Leiche werfen könnten. Im Nebel des Regenwalds würde man seine Überreste niemals finden. Innerlich flehte er den Thranx an, den Mund zu halten. Wenn die Wilderer sie beide verkauften, würden sie zumindest am Leben bleiben. Dann sähen seine Zukunftsaussichten gar nicht mal so schlecht aus. Wer weiß?, dachte er. Mit ein wenig Glück kann ich vielleicht die Käufer dazu überreden, einen kurzen Zwischenstopp in Golfito einzulegen.
Cheelo versuchte, sich selbst aufzumuntern. Solange die Wilderer und das Krabbelvieh nichts Unvernünftiges taten, würde die Sache kein allzu schlimmes Ende nehmen. Cheelo musste sich ja ohnehin verstecken! Dafür war er schließlich eigens in die Wildnis gereist, oder? Gab es einen besseren Ort zum Untertauchen - natürlich, nachdem er das Geschäft mit Ehrenhardt abgeschlossen hätte-, als den Privatzoo eines unvorstellbar reichen Gönners, der sich gerade ein ausgesprochen teures und höchst illegales ›Tier‹ gekauft hatte? Wie schon so oft in seinem verzweifelten Leben versuchte er, allein die Vorteile aus seiner Lage zu ziehen. Selbst das Insekt kooperierte, blieb stumm, während es so tat, als untersuche es jeden Gegenstand im Haus.
Cheelo überschätzte Desvendapur. Der Thranx gaukelte kein Interesse vor. Während die Wilderer ihn ignorierten, nahm er sich die Zeit, jedes einzelne Stück der Menscheneinrichtung gründlich zu inspizieren, wobei er besonders darauf achtete, wie die beiden Menschen ihre vielen Geräte bedienten. Einmal erwischte der Mensch namens Hapec ihn dabei, wie er ihm über die Schulter sah, als Hapec gerade den Kocher bediente. Mit einigen unbeholfenen Gesten bedeutete der Mensch ihm, ein Stück zurückzutreten. Der Dichter ließ ihn in dem Glauben, dass er die Menschensprache nicht verstehe, und tat so, als interpretiere er Hapecs Gesten, ehe er sich gehorsam zurückzog.
Als das Essen fertig war, hatte Cheelo, noch immer nervös und besorgt, sich mit seiner Gefangenschaft abgefunden. Er ließ sich bereitwillig vom lustlosen Hapec füttern und beobachtete ebenso interessiert wie die Wilderer, wie Desvendapur zwischen den ihm angebotenen rehydrierten Früchten und verschiedenen Gemüsesorten auswählte. Als Maruco und Hapec den Eindruck hatten, dass ihre wertvolle Ware zufrieden sei, setzten sie sich an den Tisch und aßen ebenfalls etwas. Während sie ihre Mahlzeit einnahmen, unterhielten sie sich nicht mit Cheelo, sondern rissen nur derbe Witze, plauderten oberflächlich miteinander und diskutierten darüber, wie viel Geld sie wohl dafür bekämen, dass sie den einzigen gefangenen Repräsentanten einer erst kürzlich entdeckten außerirdischen Spezies in die unfreiwillige Gefangenschaft verkauften. Während Salz, Pfeffer und scharfe Soße bei ihren Essgewohnheiten eine Rolle spielten, war ihre Konversation weder von Ethik noch von Moral geprägt.
Als Desvendapur satt war, trat er von den exotischen, aber nahrhaften Speisen zurück, die die Wilderer vor ihm auf dem Boden verteilt hatten. Er zog sich in eine Ecke am Ende des Raums zurück und schnappte sich dabei beiläufig mit Echt- und Fußhand eines ihrer Gewehre.
Es dauerte einen Moment, bis Hapec bemerkte, dass der Außerirdische die Mündung der Waffe auf ihn richtete. »He! Äh, he, Maruco!«
Desvendapur sah, dass der Mensch den Unterkiefer herabklappte und den Mund ohne ersichtlichen Grund offen ließ.
»Scheiße!« Maruco blickte rasch zwischen seinen beiden Gefangenen hin und her und rückte vorsichtig mit dem Stuhl vom Tisch ab. »Cheelo! Mann, sag dem Käfer, er soll das Gewehr weglegen! Es ist auf maximale Feuerkraft geschaltet und nicht gesichert. Sag ihm, dass er sich damit selbst verletzen kann! Was macht er überhaupt damit? Wir sind seine Freunde und wollen ihm helfen, mehr von unserer Welt zu sehen, damit er sie studieren kann! Mach schon, Mann: Erinnere ihn daran!«
»Ich kann nicht mit ihm reden. Meine Hände, schon vergessen?«
Diesmal zögerte Maruco nicht. Langsam erhob er sich vom Stuhl und trat nervös zu seinem gefesselten Gefangenen, wobei er den rätselhaften Thranx keine Sekunde aus den Augen ließ. Mit dem Messer schnitt er Cheelos Fesseln durch.
Erleichtert rieb Cheelo sich die tauben Handgelenke. »He! Was ist mit meinen Beinen?«
»Was soll damit sein?«, grollte der Wilderer. »Du machst keine Gesten mit den Beinen.«
»Befrei seine Beine!« Desvendapur gestikulierte mit dem Gewehr. Die Waffe war zwar für die dickeren Finger und größeren Hände eines Menschen ausgelegt, war aber leicht und lag ihm bequem in den Händen. Sie zu benutzen würde ihm nicht schwer fallen.
»Klar, aber pass bloß mit dem ...« Maruco, der soeben dabei war, Cheelos Fußfesseln durchzuschneiden, hielt mitten in der Bewegung inne und sah den Außerirdischen mit großen Augen an. »Du gottverdammter Scheißkerl von einem Hurensohn!«
»Du kannst sprechen!« Beide Wilderer starrten den plötzlich zungenfertigen Thranx offenen Mundes an.
»Nicht besonders gut, aber je mehr ich übe, desto flüssiger wird mein Terranglo. Seine Beine!« Wieder gestikulierte er mit dem Gewehr.
Langsam ging Maruco in die Knie schnitt Cheelos Kunststofffesseln durch. Mit einem erleichterten Seufzer bewegte Cheelo die Beine, um wieder Gefühl hineinzubekommen.
Für einen Thranx war der Begriff ›Augenwinkel‹ fremd, da er dank der vielen Cornealinsen seines Facettenauges einen weit größeren Blickwinkel hatte als das menschliche Auge. Er richtete die Waffe demonstrativ auf Hapec, der aufgestanden und einen Schritt auf das andere Gewehr zugemacht hatte.
»Obwohl ich nicht genau weiß, welche Wirkung diese Waffe hier hat, bin ich fest davon überzeugt, sie bedienen zu können. Außerdem bin fest davon überzeugt, dass du besser in die andere Richtung gehen solltest. Stell dich neben deinen Freund!«
»Er blufft nur.« Maruco entfernte sich von Cheelo, der vom Stuhl aufgestanden war und ein paar Schritte durch den Raum lief, um die Blutzirkulation in den Beinen noch weiter anzuregen. »Der weiß bestimmt nich, wie man damit schießt.«
»Ja?« Hapec hielt die Hände gut sichtbar vor sich und trat langsam um den Tisch neben seinen Kumpan. »Dann hol du doch die Knarre!«
Maruco musterte den bewaffneten Thranx und breitete unschuldig die Arme aus, ohne zu wissen, dass sein Gegenüber die Geste nicht verstand.
»Also schön, du kannst sprechen. Kein Grund, gewalttätig zu werden. Wir wollen dir nichts Böses.« Buhlerisch lächelnd deutete er mit dem Kopf auf Cheelo. »Dass wir ihn gefesselt haben, gehört zu einem speziellen Begrüßungsritual.«
»Nein, das stimmt nicht«, entgegnete Desvendapur; sein gehauchtes Terranglo war immer besser zu verstehen. »Ich habe zwar die ganze Zeit kein Wort gesagt, aber du vergisst, dass ich jedes Wort hören konnte - hören und verstehen, jedes Wort, das ihr seit unserer Begegnung im Regenwald gesagt habt. Ich weiß, dass ihr uns töten wolltet, bis Cheelo euch davon überzeugt hat, uns stattdessen zu verkaufen.« Desvendapur brauchte sich gar nicht mit der außergewöhnlich vielfältigen Mimik der Menschen auszukennen, um den Ausdruck zu interpretieren, der nun in Marucos Gesicht trat.
Cheelo rieb sich noch einmal die Handgelenke und schüttelte die Beine aus, dann trat er zu seinem außerirdischen Freund. Er hatte sich schon damit abgefunden gehabt, gemeinsam mit dem Thranx verkauft zu werden, doch nun hatte sich das Blatt gewendet. Er hatte nicht damit gerechnet, so bald schon wieder den Ton angeben zu können. »Du steckst voller Überraschungen, Insekt.«
Der Thranx sah Cheelo mit den goldfarbenen Augen an. »Ich heiße Desvendapur.«
»Ja, richtig.« Cheelo streckte beide Arme aus. »Ich nehm jetzt die Waffe. Nicht dass ich glaube, du könntest nicht damit umgehen, aber ich bin vermutlich ein besserer Schütze als du.« Als der Dichter ihm bereitwillig das Gewehr übergab, fügte Cheelo noch hinzu: »Du weißt doch, wie man damit umgeht? Oder hast du geblufft?«
»Oh, ich bin sicher, ich hätte die Waffe aktivieren können. Der Auslösemechanismus ist simpel, und obwohl sie für Menschenarme und -hände ausgelegt ist, kann ich sie bequem halten. Natürlich hätte ich nie abgedrückt.«
»Was?« Maruco war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte.
»Obwohl mein Volk sich in der Vergangenheit mit Gewalt verteidigen musste und von primitiven Vorfahren abstammt, die sich ständig gegenseitig bekriegten, sind wir eine friedvolle Spezies geworden.« Seine Antennen wippten vielsagend. »Ich hätte es niemals fertig gebracht, euch zu erschießen, solange ich nicht in unmittelbarer Lebensgefahr geschwebt hätte.«
»Du warst in Lebensgefahr«, erinnerte Cheelo ihn.
Der Thranx schüttelte den Kopf und überraschte damit die Wilderer noch mehr, die begriffen, dass der Außerirdische sogar gewöhnliche Menschengesten beherrschte. »Meine Bewegungsfreiheit war in Gefahr, nicht mein Leben. Obwohl ich lieber zur Kolonie zurückkehren möchte, hätte ich es ertragen können, an einen anderen Ort auf eurem Planeten gebracht zu werden. Ich hätte die neue Umgebung gründlich studieren können.«
Maruco blinzelte. »Warum hast du dir dann überhaupt das Gewehr geschnappt?«
»Wie ich schon sagte, aus verschiedenen Gründen würde ich lieber in den Stock zurückkehren. Außerdem standen nicht nur mein Leben und meine Bewegungsfreiheit auf dem Spiel.« Er neigte beide Antennen in Cheelos Richtung.
Widersprüchliche Emotionen wallten in dem Dieb auf, als ihm bewusst wurde, was der Thranx soeben gesagt hatte. Der Außerirdische hatte nichts dagegen gehabt, verkauft zu werden. Er hatte das Gewehr ebenso sehr um Cheelos wie um seiner selbst willen an sich genommen. Nur selten empfand Cheelo solch starke, echte Gefühle, und nun wusste er nicht, wie er reagieren, was er sagen sollte.
Verdammt.
»Okay, dann komm, Deswhel... Desvencrapur! Wir verschwinden hier.« Er deutete mit dem Gewehrlauf auf Maruco. »Ich will den Transporter. Ich hab dir doch gesagt, dass ich eine Verabredung einhalten muss. Wenn ich gut mit der Kiste umgehe, bringt sie mich sicher die ganze Strecke bis rauf zum Isthmus.«
Der zornige Wilderer hielt die Hände deutlich sichtbar hoch und deutete mit dem Kopf auf den Gang, der das Wohnhaus mit der Garage verband. »Du lässt uns hier zurück? Hier oben sind wir von der Außenwelt abgeschnitten.«
»Schwachsinn.« Cheelo lachte. Er genoss es, endlich wieder das Sagen zu haben. »Eure Kunden kommen sicher auf schnellstem Wege hierher, und sie bringen ihre eigenen Gleiter mit.« Er grinste breit. »Natürlich werden sie nicht besonders glücklich sein, wenn sie herausfinden, dass die versprochene Ware beschlossen hat, sich zu verdünnisieren. Also, was ist jetzt mit dem Transporter?«
»Ein herkömmliches Modell«, antwortete Hapec.
»Nimm ihn! Ich muss nur das Navigationssystem freischalten.«
»Einen Teufel wirst du! Du musst bloß den Zentralcomputer aktivieren. Meinst du, ich geb dir die Möglichkeit, den Selbstzerstörungsmechanismus des Motors zu aktivieren? Glaubst du, ich bin so dumm geboren worden wie ihr zwei?« Marucos Miene verhärtete sich, doch er sagte nichts.
»Los jetzt!« Cheelo gestikulierte mit dem Gewehr. »Despindo... Des, du folgst mir! Ich setze dich so nah an deiner Kolonie ab, wie du willst. Du kennst ihre Sicherheitssysteme besser als ich.«
»Kolonie?« Marucos kleine schwarze Augen funkelten. »Was für eine Kolonie?«
Cheelo ignorierte ihn und wartete auf die Antwort des Thranx.
»In meinem Volk gelte ich jetzt als Verbrecher. Ich habe mich eines unerhört gesellschaftsfeindlichen Verhaltens schuldig gemacht. Meine Leute werden mich einsperren, bis sie mich vom Planeten auf eine unserer Welten verschiffen können, wo ich dann formell bestraft werde. Wenn du also nichts dagegen hast, Cheelo Montoya, würde ich gern weiterhin mit dir reisen. Zumindest noch für eine Weile.«
»Das geht nicht, Riesenauge! Meine Dschungeltour ist jetzt vorbei. Ich muss eine lange Strecke fliegen, ansonsten komme ich zu spät zum Tanz. Außerdem musst du doch den anderen Krabbelviechern deine Gedichte, deine Kompositionen vortragen, oder?«
Der Thranx schüttelte den blaugrünen Kopf. »Ich fürchte, in meinem Fall gibt es nicht genug strafmildernde Umstände. Ich würde viel lieber meine Studien fortsetzen und noch mehr Inspiration suchen. Eines Tages werde ich natürlich meine sämtlichen Werke den Stöcken präsentieren. Aber noch nicht.« Das Deckenlicht brach sich in seinen Augen, ließ seine vielen Cornealinsen wie matt leuchtende Kristalle wirken. »Es gibt noch immer so viel, was ich tun möchte.«
»Wie du willst.« Wieder gestikulierte Cheelo mit dem Gewehr. Dass das Insektenvieh ihn immer noch begleiten wollte, war ihm gleich. Es blieb noch genug Zeit zu entscheiden, was er mit ihm machen würde, sobald sie wieder sicher im Regenwald angekommen wären. Während die beiden Wilderer vor Cheelo durch den Gang schritten, sah Maruco über die Schulter zu ihm zurück.
»Was hast du da eben über eine Kolonie gesagt? Es gibt eine ganze Kolonie von denen hier auf der Erde? Unten im Reservat? Ich hab noch nie davon gehört.«
»Halt's Maul und mach voran! Ich weiß, dass der Transporter durch einen Code gesichert ist, daher werdet ihr den Motor für mich anlassen.«
»Dann stimmt es also! Es gibt einen Thranx-Vorposten im Reservat, den man vor der Öffentlichkeit geheim hält!« Der Wilderer klang immer aufgeregter. »Und du hast noch nicht mal ›Außenposten‹ gesagt - du hast Kolonie gesagt!« Er sah seinen Kumpanen an. »Das könnte das größte Geheimnis sein, das es auf unserem Planeten gibt! Für so eine Information würde uns jede der fünfzig großen Mediengruppen 'ne lebenslange Rente zahlen! Das ist wesentlich mehr wert als ein lebender Käfer!« Wieder sah er zu Cheelo zurück, der keine Miene verzog.
»Was meinst du, vato? Wir haben hier Geräte, mit denen wir weltweit kommunizieren können, ohne dass man die Signale zu uns zurückverfolgen kann. Wir verkaufen die Information an den höchsten Bieter und teilen durch drei. Keiner wird verkauft. Keiner verletzt. Genug Geld für alle.« Als Cheelo keine Reaktion zeigte, wuchs Marucos Aufregung noch mehr. »Verdammt, wir brauchen dich nicht, um die Information zu verkaufen! Aber das Reservat ist groß, und diese Kolonie oder Basis oder was auch immer ist anscheinend gut versteckt. Hapec und ich sind oft im Dschungel, und uns ist nie aufgefallen, dass es da unten so was gibt. Du weißt, wo sie ist. Welche Mediengruppe auch immer die Information kauft, will sich sicher nicht erst auf die Suche nach der Kolonie machen. Die wollen gleich mit ihren Berichten loslegen, bevor ein Konkurrent Wind von der Sache bekommt.« Er senkte die Stimme ein wenig. »Du weißt doch, wo sie liegt, oder?«
»Allerdings«, log Cheelo. »Immerhin so nah, dass jeder sie innerhalb von einer Woche finden könnte.«
»Ach, komm schon, Mann! Lass dir die Chance nicht durch die Lappen gehen! Wir können Partner werden. Wir werden alle reich.«
»Zuerst wolltest du mich umbringen«, erinnerte Cheelo ihn in kaltem Ton. »Dann wolltest du mich mit dem Käfer als sprechende Beigabe verkaufen.«
»He!«, beschwichtigte der Wilderer ihn. »Das war doch nichts Persönliches!« Sie hatten die Garage fast erreicht. »Das war rein geschäftlich. Du bist selbst Geschäftsmann, chingon. Dich zu verkaufen war ein Geschäft; und das hier ist auch ein Geschäft. Du brauchst unsere Kontakte; wir brauchen dein Wissen!«
Cheelo wurde unsicher. Der Vorschlag des Wilderers klang verlockend. »Was ist mit dem Kä. mit Des? Er mag in seinem Volk als Außenseiter gelten, aber er würde niemals wollen, dass die Kolonie vorzeitig enttarnt wird.«
»Scheiß auf den Käfer!«, bellte Maruco. »Wenn er ein Problem damit hat, puste ihn weg! Wir brauchen ihn nicht mehr. Was kümmert er dich? Er ist nur ein riesiges, hässliches, außerirdisches Insekt.«
»Er ist intelligent. Womöglich sogar intelligenter als ihr zwei. Vielleicht ... vielleicht sogar intelligenter als ich. Er ist ... ein Künstler.«
Maruco lachte wütend, als sie die Garage betraten. Der Transporter stand noch auf seinem Parkplatz, glänzend und lautlos, mit voll aufgeladenem Antriebssystem, und wartete nur darauf, dass ihn jemand mit dem Startcode anließ. Cheelo wusste, dass er es mit dem Transporter bis nach Golfito schaffen könnte. Zumindest bis nach Gatun, wo er Freunde hatte und den Transporter gefahrlos wieder aufladen könnte.
Unbewusst drückte er den Finger ein wenig fester auf den Abzug des Gewehrs. »Das ist nicht lustig. Ich hab's selbst für eine Weile lustig gefunden, aber jetzt hab ich meine Meinung geändert. Was zum Teufel erwartest du von mir? Dass ich euch traue?«
»Ja, du kannst uns vertrauen. Ist doch so, oder, Hapec?«
»Klar. Wieso sollten wir dir was tun? Wir brauchen dich, damit du unserem Käufer das Koloniegelände zeigst«, erklärte der andere Wilderer. Während er sprach, bewegte er sich langsam nach links, auf die Wand zu, an der lauter Werkzeuge hingen.
»Denk nicht mal dran!« Cheelo richtete die Waffe auf ihn, zielte genau auf seinen Rücken. Im gleichen Moment fuhr Maruco herum. Der muskulöse, nervöse und äußerst wütende Wilderer warf sich Cheelo entgegen.