33 Keita landete hart, ihre Schulter schob sich aus dem Gelenk und zwei ihrer Krallen brachen. Ächzend rollte sie auf den Rücken, aber das Seil um ihren Hals, das aus extrastarkem Stahl bestand, zog sich enger und riss sie auf die Knie.

»Komm, komm, Cousine. Ich dachte, du wärst härter.«

Keita hatte ihre Drachengestalt angenommen, sobald ihre Cousine das Seil um ihren Hals geworfen und sie vom Boden hochgerissen hatte wie einen Sack Getreide. Elestren hatte sie nicht weit weggebracht, aber sie befand sich in einer Höhle, die sie nicht kannte. Sie wurde von Fackeln und einer Vielzahl von offenen Feuerstellen hell erleuchtet. Etwas sagte Keita, dass dies ein Treffpunkt war. Aber den Zweck des Treffens wollte sie wahrscheinlich gar nicht wissen.

Elestren schnappte Keita an den Haaren und riss ihren Kopf zurück. »Dachtest du, du könntest deine Königin hintergehen und es gäbe keine Konsequenzen von uns, Prinzessin?«

Als Keita die Frage nicht beantwortete, schubste Elestren sie wieder nach vorn. Keitas Kopf schlug auf dem Boden auf, und ein paar kurze Minuten wurde alles schwarz.

Als sie wieder erwachte, waren weitere Drachen angekommen. Zwei Älteste und mehrere Leibwächter der Königin. Keita bemerkte, dass ihr Vater nicht darunter war.

»Sie ist die Tochter der Königin, Elestren.« Der Älteste Teithi war gerade dabei, Einwände zu erheben.

»Und eine Verräterin. Sie hat Esyld geschützt und sich mit diesen zwei Idioten getroffen, von denen wir sicher wissen, dass sie versuchen, die Königin vom Thron zu stoßen.« Elestren ging um Keita herum. »Ich sage nicht, sie sollte sterben. Aber wir können nicht zulassen, dass sie frei herumstreift und gegen uns arbeitet.«

»Was schlägst du also vor?«

»Wir bringen sie zur Wüstengrenze. Meine Vettern werden sie in den Salzminen beschäftigen, bis das alles hier in Ordnung gebracht ist.«

Verdammt. Jetzt verstand sie, wo sie war. Der Treffpunkt des Rats der königlichen Leibwache. Hier wählten sie diejenigen aus, die einen Platz in der Leibwache ihrer Mutter verdienten – und verurteilten diejenigen, die die Regeln der Wache brachen. Theoretisch sollte der Rat nur Mitglieder der königlichen Wache verurteilen, keine Mitglieder des Königshauses. Aber Keita hatte das Gefühl, dass ein Prozess auch das Letzte gewesen wäre, was ihre Cousine im Moment zugelassen hätte.

»Du meinst, sie gefangen halten.«

»Wenn unsere Königin dadurch in Sicherheit ist …«

 

»Er gibt mir die Schuld«, sagte Izzy, als sie sicher war, wieder reden zu können, ohne zu weinen.

»Natürlich gibt er dir die Schuld. Das tun sie immer. So süß unser Éibhear ist, er ist immer noch der Sohn seines Vaters. Er ist immer noch ein Mann.«

»Ich hätte ihn fester mit diesem Schild schlagen sollen.«

Kichernd ließ sich Annwyl mitten im Feld auf den Boden fallen und begann dann, ihr Schwert mit einem Stein zu schärfen. »Ich bin immer noch verblüfft, dass du diesen verdammten Schild überhaupt hochheben konntest.«

»Es war doch nur ein Übungsschild.«

»Für Drachen, Izzy. Ein Übungsschild für Drachen.«

Izzy zuckte die Achseln und schaute übers Feld in die umgebenden Wälder. Sie setzte sich neben Annwyl, erleichtert, aus der Burg heraus zu sein, zumindest für eine kleine Weile. Weg von Éibhear und Celyn.

»Alles wird gut, Izzy.«

»Nichts wird gut. Die beiden werden sich versöhnen, und ich bin dann die Hure, die zwischen zwei Vettern geraten ist.«

»Glaubst du, Celyn wird dich so schnell sitzenlassen?« Annwyl nahm Izzys Kinn und zog daran, bis Izzy sie ansehen musste. »Oder hoffst du das?«

Frustriert schüttelte Izzy die Hand ihrer Tante ab. »Alle tun so, als müsste Celyn mich jetzt in Besitz nehmen.«

»Willst du das?«

»Nein.«

»Dann willst du es also von Éibhear.«

Izzy schnaubte kurz und abfällig auf. »Den will ich nur von hinten sehen.«

»Wirklich?«

»Er hat mich verurteilt, als hätte er das Recht dazu. Als hätte er in meinem Leben irgendein Mitspracherecht.«

»Du willst Celyn nicht. Du willst Éibhear nicht. Was willst du denn, Izzy die Gefährliche?«

Jetzt sah sie ihre Königin ohne Furcht oder Scham an und gestand die Wahrheit: »Ich will dein Knappe sein.«

»Ich habe schon einen Knappen«, sagte Annwyl nüchtern. »Er ist jetzt fett.«

Schockiert kicherte Izzy. »Annwyl!«

»Es stimmt! Aber er kann wunderbar mit Pferden umgehen. Meine Violence liebt ihn.« Sie warf einen Blick zu dem riesigen schwarzen Tier hinüber, das mehrere Fuß von ihnen entfernt friedlich graste. »Aber mein Knappe ist fett, und das liegt daran, dass ich nirgends hingehe. Ich tue nichts. Wenn du mein Knappe wirst, Izzy, ist dein ganzes Talent verschwendet. Das werde ich nicht zulassen, Liebes. Nicht bei dir.«

»Dann willst du nicht in den Westen gehen und dich den Souveräns stellen?«, fragte Izzy, die in der Nacht zuvor ihre Eltern belauscht hatte.

Annwyl zuckte die Achseln und zog die Knie an, damit sie ihre Arme um die Beine legen konnte. »Ich werde Legionen schicken, damit sie Thracius entgegentreten.«

»Ist das wirklich das, was du willst?«

»Mehr kann ich im Moment nicht haben, Izzy.«

Das Pferd scharrte mit den Hufen und schüttelte den Kopf.

Annwyl lachte auf. »Wie du siehst, gefällt das meiner Violence gar nicht.«

Den Blick auf Violence gerichtet, runzelte Izzy die Stirn – sie war sich nicht so sicher, dass es Annwyls Worte waren, die das Pferd beunruhigten.

»Izzy.«

Die Stimme ihrer Königin war leise, als sie ihren Namen sagte, so leise, dass Izzy es vielleicht überhört hätte, wenn sie nicht direkt neben ihr gesessen hätte. Aber Izzy hörte die Angst darin und wandte den Blick langsam von Violence ab.

Sie waren aus dem Wald gekommen, aber Izzy hatte kein Geräusch gehört. Sie bewegten sich wie der Tod. Und doch waren es so viele, dass Izzy sie nicht einmal zählen konnte. So etwas wie sie hatte sie nie zuvor gesehen.

Tierhäute und Leder bedeckten notdürftig die harten, muskulösen Körper, die viele Schlachten gesehen hatten. Und sie alle trugen viele Tätowierungen. Kein Motiv war wie das andere. Manche von ihnen trugen sie auf den Armen, den Schenkeln, der Brust, aber absolut alle hatten tätowierte Gesichter. Schwarze Stammeszeichen, die nur unterbrochen wurden, wenn Wunden im Gesicht Narben hinterlassen hatten.

Die meisten waren zu Fuß, aber gute vierzig von ihnen saßen auf Reittieren, und jeder hatte eine große hundeähnliche Kreatur neben sich.

Was sie ritten, ähnelte Pferden, aber Izzy hatte noch nie so breite gesehen, deren übergroße Muskeln sich spannten, während sie unruhig dastanden und die Köpfe in Richtung Boden schwangen, damit sie mit ihren Hörnern in die Erde graben konnten. Izzy hatte das Gefühl, dass sie ihre Hörner durch dieses Graben schärften. Und ihre Augen waren blutrot. Die hundeähnlichen Tiere hatten ebenfalls Hörner, doch ihre waren nach innen gedreht wie bei den Widdern, die Izzy gern in den Westlichen Bergen jagte. Im Vergleich zu den großen Hunden, die Dagmar züchtete und aufzog, waren diese Wesen hier allerdings größer. Manche sahen aus, als bestünden sie aus annähernd dreihundert Pfund harter Muskelmasse. Wie etwas, das die Unterwelt ausgespuckt hatte.

Doch nichts davon beunruhigte Izzy so sehr wie das, was da an dicken Ketten mit Halsbändern gehalten wurde. Während die Hunde keine Leine trugen und die Pferde keine Sättel, wurden diese Wesen von den dicken Metallbändern um ihre Hälse und den Ketten gelenkt, die ihre Fänger hielten. Sie hatten keine Hörner, keine jenseitigen Augen, keine sich wölbenden, überentwickelten Muskeln – und das lag daran, dass sie Menschen waren. Männer mit Schaum vor dem Mund, mehr als begierig zu töten. Männer, die Verstand und Menschlichkeit schon vor langer, langer Zeit verloren hatten.

Langsam stand Annwyl auf, den Blick nicht auf die ganze Legion vor sich gerichtet, sondern auf das Wesen, das an ihrer Spitze ritt. Eine Frau. Eine Hexe. Izzy war vielleicht nicht wie ihre Mutter und Schwester, aber sie konnte eine Hexe erkennen. Sie erkannte sie alle.

»Izzy?«, sagte Annwyl noch einmal, jetzt mit festerer Stimme. »Geh.«

»Soll ich dich etwa allein kämpfen lassen?«

»Nein. Hol mir Hilfe.«

Die Hexenanführerin hob die Hand, die Handfläche nach oben, den Mittel- und Zeigefinger ausgestreckt. Izzy wartete darauf, dass sie mit dieser Hand einen Zauber schleuderte, aber sie führte ihre Finger nur nach links. Die Halsbänder der Menschen wurden von den Frauen zurückgerissen, die sie an der Leine hielten, und die Metallklammern öffneten sich und fielen herab. Entfesselt heulten die Wesen in ihrem Wahnsinn auf und griffen an.

»Izzy, geh!«, schrie Annwyl und hob eines ihrer Schwerter.

Und Izzy schoss nach Hause, wie ihre Kommandantin es befohlen hatte.

 

»Willst du noch lange hin und her wandern?«, fragte Dagmar Talaith. »Du machst mich ganz schwindlig.«

»Wie kannst du nur so ruhig sein?«

Damit beschäftigt, eine Liste zu schreiben, antwortete Dagmar: »Ich habe beschlossen, geduldig zu sein. Sich Sorgen zu machen hilft gar nichts.«

»Sie versteht es nicht, weißt du?« Dagmar hob langsam den Kopf und schaute über den Tisch hinweg die Göttin an, die dort saß, die Füße frech auf den Tisch gelegt. Ihr Arm war nachgewachsen. »Nicht jeder ist wie du.«

»Was tust du denn hier?«

Die Kriegsgöttin zog einen Schmollmund. »Das ist aber nicht sehr gastfreundlich.«

»Mit wem redest du da?«, fragte Talaith.

Dagmar seufzte. »Mit einer Göttin.«

Und da warf Talaith die Hände in die Luft und schrie: »Also, das ist nicht gut!«

 

»Glaubst du wirklich, ihre Brüder werden dich damit durchkommen lassen?«, fragte der Älteste Siarl.

»Ich rede mit Morfyd. Sie wird es verstehen. Und mit den Konsequenzen kann ich umgehen.«

»Warum hast du dir dann überhaupt die Mühe gemacht, uns herzurufen?«

»Ich werde dem Rat präsentieren, was ich gefunden habe, und ihr werdet ein entsprechendes Urteil fällen. Dann wird die Strafe beginnen.«

»Strafe? In den Salzminen?«

»Für den Verrat an unserer Königin.«

»Das gefällt mir nicht«, widersprach der Älteste Teithi.

»Es ist das Beste für alle.«

»Nein, Cousine«, brachte Keita schließlich heraus. »Es ist das Beste für dein Ego.« Sie hob sich mühsam auf ihre Klauen. Es war nicht leicht. Ihr tat alles weh.

»Was ich tue, tue ich für meine Königin.«

»Was du tust«, knurrte Keita zurück, »tust du für dich selbst. Mach nicht die Königin dafür verantwortlich, dass du so eine selbstgerechte Schlampe bist.«

Die Faust krachte seitlich in Keitas Schnauze und schmetterte sie zu Boden.

»Elestren! Hör auf damit!«

»Vielleicht möchte mich die versnobte Schlampe herausfordern.« Elestren trat sie, dass sich Keitas Drachengestalt einmal um die eigene Achse drehte. »Na komm, Prinzessin! Nimm ein Schwert und kämpfe gegen mich! Beweise deine Unschuld, indem du deine Herausforderin tötest.«

»Elestren, hör jetzt sofort auf damit!«, befahl der Älteste Siarl.

»Ich gebe ihr eine Chance, aus der Sache herauszukommen.« Elestren zog ihr Schwert, drehte es um und hielt es Keita an der Klinge hin. »Nimm es, Prinzessin. Beweise mir, dass ich mich irre. Lass die Götter unser Schicksal entscheiden.«

Hustend erhob sich Keita langsam. Als sie sah, wie sich der Körper ihrer Cousine entspannte, hob Keita eine Handvoll Staub auf und schleuderte ihn in Elestrens noch funktionierendes Auge.

Elestren ließ das Schwert fallen und schrie, während sie versuchte, sich den Schmutz herauszuwischen. Keita kam auf die Beine, legte die Vorderklauen zusammen, verschränkte die Krallen und schwang sie nach Elestrens Gesicht. Sie traf sie hart; Elestrens ganzer Kopf wurde zur Seite gerissen. Aber sie stand immer noch und schien relativ unbeeindruckt von dem Schlag, der Keitas Klauen pochen ließ.

Langsam wandte sich Elestren Keita zu.

»Oh … Mist«, murmelte Keita, bevor ihre Cousine selbst die Faust schwang und Keita rückwärts gegen die Höhlenwand katapultierte. Sie schlug hart auf und dann noch ein bisschen härter auf dem Höhlenboden.

»Elestren! Nein!«

Doch ihre Cousine ignorierte den Befehl des Ältesten Siarl, schnappte Keita an den Haaren und riss sie herum. Sie rammte ein Knie auf Keitas Brust und hob das Schwert, das sie wieder aufgehoben hatte, über Keitas Kopf.

»Tut mir leid, Cousine«, sagte sie, obwohl sie beide wussten, dass sie es nicht ernst meinte.

 

Die schreienden Männer stürmten vor, und Annwyl machte ihre Waffe bereit, hob sie an, sodass der Griff auf Höhe ihrer Schulter war und die Klinge ein bisschen tiefer. Als die ersten paar nahe genug waren, schwang sie es in einem Bogen. Sie teilte mehrere von ihnen in der Mitte, schlug anderen die Arme ab. Eine Handvoll schoss an ihr vorbei und verfolgte Izzy. Auch wenn sie ihnen gern gefolgt wäre, um ihre Nichte zu schützen, wusste sie, dass sie Izzy sich bewähren lassen musste. Sie konnte und würde sich nicht von diesem Kampf abwenden. Nicht, wo sie nun schon so lange davon träumte.

Hierauf hatte sie gewartet, und sie hatte nicht vor, davonzulaufen.

Weitere Männer griffen sie an, und Annwyl machte sich an die Arbeit.

 

Izzy sprang über Baumstümpfe und sauste um Felsbrocken herum. Sie hörte die Männer hinter sich kommen, geifernd nach ihrem Blut. Darum flehend. Sie drehte sich nicht um; sie sah sie nicht an. Sie konnte es sich nicht leisten. Der Wald konnte tückisch sein. Und obwohl sie bewaffnet war, konnte sie sich jetzt nicht hinstellen und kämpfen. Nicht, wenn Annwyl Hilfe brauchte. Nicht, wenn diejenigen, die die Zwillinge beschützten – und noch wichtiger: ihre Schwester –, gewarnt werden mussten.

 

Keita hob die Klauen in der Hoffnung, die Klinge irgendwie abwehren zu können, bevor sie in ihre Brust eindrang, aber ein Lichtblitz ließ sie nach Luft schnappen, und Elestren schrie auf und taumelte von ihr weg. Keita drehte sich um und schaute mit offenem Mund zu, als Morfyd vor ihr landete.

Elestren blinzelte verwirrt. »Morfyd?«

»Du Schlampe!« Morfyd hob die Klauen und schoss blendend weiße Flammen, die Elestren rückwärts schleuderten. »Meine Schwester!«, brüllte Morfyd, während sie drohend auf Elestren zuging. »Du tust das mit meiner Schwester!«

Elestren kam knurrend auf die Beine. »Du würdest diese verlogene, verräterische Schlampe schützen?«

»Sie ist meine Schwester

Elestren hob ihr Schwert zum Angriff, und Morfyd machte den Mund auf und entfesselte eine Flammenzunge, die sich durch die Höhle schlängelte, sich um die Klinge wand und sie Elestrens versteinerter Umklammerung entriss.

Elestrens Gefolge rannte auf den Ausgang zu, aber sie trafen auf Briec und Gwenvael, die anscheinend nicht in der Stimmung waren, sie gehen zu lassen.

Elestren hob die Klauen. Ein Zeichen der Kapitulation. Eine Bewegung, die ein Cadwaladr selten machte, die aber eindeutig signalisierte, dass der Kampf vorbei war.

Ragnar landete neben Keita und sank auf ein Knie.

»Ihr Götter, Keita!«

»Hilf mir auf.«

Sie hob die Klaue, und er ergriff sie. Fearghus landete auf ihrer anderen Seite und nahm die andere Klaue. Gemeinsam halfen sie ihr aufzustehen.

Keita beobachtete, wie Morfyd die Klaue hob und einen Zauber intonierte, während sie ihre Krallen zur Faust ballte. Elestren ging schreiend auf die Knie, als werde irgendetwas in ihr zerrissen.

Éibhear schnappte Morfyds Schultern und versuchte, sie zurückzuziehen, sie aufzuhalten. Doch mit einer Drehung des Handgelenks schickte diese ihren übergroßen kleinen Bruder in wirbelndem Flug durch die Höhle, während Ragnar und Fearghus Keita eilig aus dem Weg zogen.

 

Talaith wandte den Blick von Dagmar und der Göttin ab, die sie nicht sehen konnte. Sie hatte ein Gefühl, als drücke ihr etwas die Brust ab, und das letzte Mal, als sie das gespürt hatte, hatte Izzy in der Klemme gesteckt. Sie entfernte sich vom Tisch, ihr Blick schoss hinauf zum oberen Ende der Treppe im Flur. Die Zentaurin stand dort und sah sie an, und Ebbas ruhiger, aber direkter Ausdruck sagte Talaith alles, was sie wissen musste.

In Bruchteilen einer Sekunde war sie über den Tisch hinweggesprungen und rannte zur Vordertür des Rittersaals hinaus.

Talaith sah die beiden Blitzdrachen um das Gebäude herumkommen.

»Vigholf!«, schrie sie. »Meinhard!«

Die beiden blieben stehen und sahen ihr nach, als sie an ihnen vorbeischoss und durch den Seitenausgang der Festungsmauer hinaus. Sie war in der Nähe des Waldes, der sie auf die Westfelder führen würde.

»Mum!«

Sie sah ihre Tochter auf sich zulaufen – sah, was hinter ihr war. Sie fast eingeholt hatte. Männer, die keine Menschen mehr waren. Und das konnte nur eines bedeuten.

Kyvich.

»Bleib nicht stehen!«, schrie Talaith ihr zu. »Lauf weiter!«

Mutter und Tochter stürmten aneinander vorbei, und Talaith zog den Dolch, den sie immer an den Oberschenkel geschnallt trug. Sie schnitt einem dieser Irren die Kehle durch, sprang auf einen Felsblock, stieß sich mit einem Fuß ab und schlitzte einem weiteren die Kehle auf. Als sie wieder auf dem Boden landete, rannte sie weiter, im Vertrauen darauf, dass ihre Tochter auf sich selbst aufpassen konnte.

 

Izzy tat, was ihre Mutter befohlen hatte, und rannte weiter. Sie rannte, bis sie die Bäume hinter sich gelassen hatte, und in diesem Augenblick warf sich der Erste von hinten auf sie und riss sie zu Boden.

Er erwischte sie an den Haaren, riss ihren Kopf zur Seite und legte seinen Mund seitlich um ihren Hals. Zähne gruben sich in die Haut. Sie schrie auf, ihre Hand angelte nach der Klinge, die sie in ihrem Stiefelschaft versteckt trug. Sie hatte die Finger schon am Griff, als der Mann von ihr weggerissen und ihm der Kopf zerschmettert wurde, als ein Blitzdrache in Menschengestalt ihn auf den Boden knallte.

Izzy ließ ihr Messer los und stand auf.

»Izzy!« Sie sah sich um, als Meinhard ihr eine Axt zuwarf. Sie fing sie auf, wirbelte herum und hackte auf den nächsten Wahnsinnigen ein. Sie hielt inne, schwang die Klinge nach oben und schlitzte einen anderen von den Eingeweiden bis zum Hals auf. Dann hievte sie die Axt hoch und rannte zurück in den Wald.

Sie sah ihre Cousine und schrie: »Hol die Familie! Hol sie alle! Meinhard! Vigholf! Folgt mir!«

 

Morfyd kauerte vor der wehklagenden Kriegerin zu ihren Füßen. »Hast du wirklich gedacht, du kommst damit davon?«, fragte sie. »Hast du wirklich geglaubt, ich würde dich das mit meiner Schwester tun lassen?«

Sie hörte jemanden rufen, jemand schrie ihr zu, dass sie aufhören solle, aber sie konnte nicht. Nicht, nachdem sie gesehen hatte, was Elestren Keita angetan hatte. Wie sie sie verletzt hatte. Wie sie ganz kurz davor gestanden hatte, sie umzubringen.

»Sag mir, Cousine, wie fühlt sich das an?«, fragte sie flüsternd. »Wie fühlt es sich an, wenn ich das Blut in deinen Adern in Glasscherben verwandle?« Morfyd drückte ihre Faust und machte damit die Scherben in ihrer Cousine größer. »Würdest du jetzt gerne schreien? So, wie du versucht hast, meine Schwester zum Schreien zu bringen?« Sie schnappte Elestrens grüne Haare, riss ihren Kopf hoch und brüllte ihr ins Gesicht: »Tut es weh?«

 

Sie sah zu, wie die Menschenkönigin eine Schneise durch die feindlichen Menschen hieb, die ihre Schwestern, geübt in dieser Kunst, gebrochen und gequält hatten, bis sie nichts weiter waren als Angriffsbestien. Der treue Hund an ihrer Seite dagegen war ihr Kamerad und Partner. Sie beschützte ihn, wie sie sich selbst und ihr Pferd schützte. Aber diese Menschen bedeuteten ihr nichts und dienten nur dazu, die Blutkönigin der Dunklen Ebenen müde zu machen.

Ein Kopf flog vorbei, und Storm hob ihn mit seinen Reißzähnen auf und schüttelte ihn, bevor er ihn ihrem Pferd Todbringer anbot, damit sie Tauziehen damit spielen konnten. Sie spielten so gerne Tauziehen miteinander.

»Ásta«, rief ihre Stellvertreterin Bryndís. »Eine Nolwenn!«

Überrascht, weil sie keine Warnung erhalten hatten, sah Ásta die Nolwenn-Hexe auf das Feld stürmen. Sie hatte einen Dolch und sonst nichts.

Ásta knurrte leise, und Todbringer scharrte unruhig mit den Hufen.

»Hulda«, sagte Ásta leise. »Töte sie!«

Hulda grinste und spannte die Beine, ihr Pferd wusste genau, was zu tun war.

Nolwenns waren der Fluch der Kyvich. Der Grund dafür war schon vor Jahrtausenden aus der allgemeinen Erinnerung verschwunden, aber der Hass blieb.

Die Königin war beinahe fertig mit den Männern – ein Ergebnis, das Ásta wenig störte.

»Lass die zweite Welle los«, sagte sie, und ihre Stimme überstieg nie einen leisen Ruf.

Bryndís hob den Arm. »Zweite Welle!«, rief sie aus. »Vorwärts!«

Kyvich, die sich ihren Platz auf dem Pferd noch nicht verdient hatten, schrien und stürmten mit gezogenen Waffen zu Fuß vor.

 

Annwyl hatte ihr Schwert gerade aus einem Leichnam zu ihren Füßen gezogen, als sie den Ruf hörte. Sie drehte sich um und sah die Frauen auf sich zustürmen. Ungefähr zwanzig, aber im Gegensatz zu den Leichen, die das Feld übersäten, waren diese Frauen keine wahnsinnigen, unkontrollierbaren, gebrochenen Menschen. Sie waren wie sie. Gut trainiert und nur so verrückt, wie es nötig war, um ihre Aufgabe zu erledigen.

Die erste, die sie erreichte, duckte sich unter der Faust weg, die auf ihr Gesicht gezielt hatte, tauchte darunter hindurch, bis sie hinter Annwyl war und ihr die Faust in die Niere rammte.

Schreiend vor Schmerz und Wut, drehte sich Annwyl um und schwang ihr Schwert. Ihre Klingen trafen sich, krachten mit solcher Wucht aufeinander, dass die Macht des Schlags bis in Annwyls Arm ausstrahlte. Eine weitere Klinge wurde nach ihr geschwungen, und Annwyl neigte sich zurück und fing die Hand ab, die das Schwert hielt. Sie hielt die beiden Frauen fest, mit zusammengebissenen Zähnen und gespannten Muskeln.

Weitere Frauen stürmten auf sie zu, und sie wartete bis zur letzten Sekunde, bevor sie die Beine hob und die, die vor ihr war, trat. Ihre Beine schwangen wieder herab, und Annwyl fiel zurück auf den Boden, die Beine weit gespreizt, mit der Hand immer noch den Schwertarm der einen Frau umklammernd, während sie mit ihrem eigenen Schwert die Klinge einer anderen abwehrte.

Sie riss an dem Arm, den sie festhielt, und drehte ihn, bis er an mehreren Stellen brach. Die Frau sank auf ein Knie, und Annwyl benutzte ihren Ellbogen, um ihr die Knochen der rechten Gesichtshälfte zu zerschmettern.

Die Frau fiel rückwärts – schreiend, aber nicht tot. Annwyl hob eine Klinge, die sie hinten in ihre Hose gesteckt trug, und stieß sie in den Unterbauch der anderen Frau. Diese fiel, ihre Klinge immer noch in der Hand, während Blut aus ihrer Wunde strömte.

Annwyl hatte keine Zweifel, dass sie innerhalb von Sekunden wieder auf den Beinen sein würde; die andere mit dem zerschmetterten Gesicht stand schon wieder halb aufrecht.

Sich abrollend, hob Annwyl die Klinge erneut, aber eine große Hand packte sie von hinten und drehte sie. Annwyl ging mit – sie wollte kein gebrochenes Handgelenk. Sie ließ die Klinge fallen und drehte ihren Körper in dieselbe Richtung, in die ihr Arm gedreht wurde. Sie fiel auf die Knie und drehte sich herum, bis sie ihrer Gegnerin zugewandt war. Dann nahm sie ihre freie Hand, ballte sie zur Faust und rammte sie der Schlampe in die Leiste, bis sie Knochen brechen hörte.

Mit zusammengebissenen Zähnen fiel die Frau auf die Knie, und Annwyl versetzte ihr einen Kopfstoß.

Sie zog ihr den Arm weg, stand auf und schüttelte den Schmerz ab.

Izzy stürmte auf sie zu, und sie trat zur Seite. Izzy sauste vorbei und prallte mit drei Frauen zusammen, die hinter Annwyl aufgetaucht waren.

Die beiden Nordland-Drachen kamen herbeigeflogen und landeten hart vor Annwyl, mit dem Rücken zu ihr. Vigholf schleuderte Blitze auf die Anführerin der Hexen.

Lächelnd hob die kalte, tätowierte Schlampe die Hand, und die Blitze zerbrachen in Stücke und fielen zu Boden. Verblüfft konnten die Drachen sie nur anstarren, und die Frau schnaubte angewidert und drehte ihre Hand. Als hätten Götter ihnen einen Stoß verpasst, wurden die beiden Drachen in den nahen Wald geschleudert, wo sie Bäume niedermähten und eine Schneise schlugen.

Da wurde Annwyl bewusst, dass sie keine Chance hatten.

Nun … das hatte natürlich bisher auch nie eine Rolle gespielt.

 

»Was hast du getan?«, verlangte Dagmar von der Göttin zu wissen.

»Wie kommst du darauf, dass ich …«

Dagmar hieb mit der Faust auf den Tisch und fühlte sich in diesem Moment wirklich wie ihr Vater – er wäre stolz auf sie gewesen.

Eir musterte sie kühl. »Vielleicht, Mensch, vergisst du, wer ich bin.«

»Frau, es interessiert mich einen Schlachtenscheiß, wer du bist. Sag mir, was du getan hast!«

Dagmar hörte ein Hecheln direkt neben ihrem Ohr und drehte sich gerade rechtzeitig um, dass ihr eine enthusiastische Zunge übers Gesicht lecken konnte. Dann verstand sie. Eir hatte nichts getan.

»Nannulf«, sagte sie zu dem Wolfsgott, der sie anhimmelte. »Kannst du mir zeigen, was du getan hast?«

Nannulf stürmte zur Tür, und Dagmar folgte ihm.

Das Letzte, was sie von Eir an diesem Tag hörte, war: »Ich erwarte eine Entschuldigung, du unhöfliche Ziege!«

 

Ásta wusste es, als der Königin aufging, dass sie keine Chance hatte. Als sie wusste, dass sie heute sterben würde. Genau wie die beiden Frauen, die an ihrer Seite kämpften. Sie wusste, sie würden alle sterben, und sie konnte nichts dagegen tun.

Dennoch ergriff die Menschenkönigin ihr Schwert und machte sich wieder an die Arbeit, um gegen die zu kämpfen, die von den Kyvich-Ältesten immer noch als Novizen betrachtet wurden.

»Feuerspucker«, warnte Bryndís sie ruhig. Sie wusste, wie sehr Ásta es hasste, wenn man sie anschrie. Was hätte es auch genützt? Wenn sie in der Schlacht anfingen, in Panik zu geraten, war alles verloren.

»Schild!«, befahl Ásta.

Bryndís nickte ihrer Einheit zu, die die linke Flanke bildete. Wie eine einzige Frau hoben die Frauen ihre linken Hände, und die Feuerspucker, die den Angriff anführten, waren die Ersten, die gegen diesen Schild krachten, den die Kyvich schufen. Schnauzen brachen, Blut spritzte, sie wurden zurückgeworfen und stießen mit denen hinter ihnen zusammen.

Ásta konzentrierte sich wieder auf die unterlegene Königin – die nicht kämpfte, als wäre sie unterlegen.

 

Als ihr klar wurde, dass die Raserei, die alle Geschwister in der einen oder anderen Form in sich trugen, ihre Schwester fest im Griff hatte, löste sich Keita von Ragnar und ihrem Bruder und rannte hinkend durch die Höhle, um sich neben ihre Schwester zu kauern.

»Nein, Morfyd. Lass sie los.«

Elestren begann, Blut zu husten. Und Keita sah mit Grausen, dass es mit Glasscherben versetzt war.

»Bitte!« Keita nahm das Gesicht ihrer Schwester zwischen ihre Klauen, zwang sie, ihr in die Augen zu schauen. »Hör auf damit.« Sie schüttelte sie. »Bitte, Morfyd, lass sie in Ruhe. Tu es für mich.«

Morfyd löste ihre Klaue, und Elestrens Kopf knallte zurück auf den Boden. Morfyds Blick schweifte in der Höhle herum, als wisse sie nicht, wo sie war.

Keuchend drückte Keita ihre Schnauze an die ihrer Schwester. »Atme«, flüsterte sie ihr zu. »Atme einfach.«

Morfyd schluckte. »Mir … mir geht es gut. Mir geht es gut.«

Keita lehnte sich zurück und sah ihrer Schwester prüfend in die Augen. Die Raserei war fort, und die Morfyd, die Keita kannte, war wieder da.

 

Talaith schleuderte einen Feuerball auf das Pferd, das auf sie zustürmte. Es stieg auf die Hinterbeine, und seine Reiterin schwang sich herab und landete auf den Füßen. Sie hob beide Hände und zog sie zurück, um Energie aus dem Land um sie herum zu sammeln, dann schob sie sie vor. Die Macht des Schlags traf Talaith mit voller Wucht, und sie flog rückwärts.

Sie wusste, dass sie auf die Bäume zuflog. Dass die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß war, dass sie mit dem Kopf oder Genick voraus an eine kräftige Eiche prallen würde.

Sie rief sich einen Zauber ins Gedächtnis, an dem sie schon länger arbeitete, dachte ihn, benutzte ihn, und eine Macht, die Talaith nie zuvor erlebt hatte, flutete durch sie hindurch und tobte in ihrem Körper. Talaith stoppte die unkontrollierbare Bewegung ihres Körpers und hielt sich selbst in der Schwebe. Dann stieg sie höher; ihr Körper schwebte über dem Land, als hätte sie Flügel. Die Kyvich starrte wütend zu ihr herauf und schrie.

Talaith schrie zurück und raste auf sie zu. Sie kollidierte mit der Hexe, ihre Körper krachten gemeinsam auf den Boden und rissen durch den Schwung einen Graben auf. Während sie noch ausrollten, schlugen sie schon mit bloßen Fäusten und dem uralten Hass ihrer Völker aufeinander ein.

 

Sie hatten ihr ihre herrliche Axt abgenommen, aber statt ihr mit den vielen Waffen, die sie dabeihatten, den Rest zu geben, kämpften sie mit bloßen Händen. Das war für Izzy in Ordnung. Sie hatte immer etwas für einen ordentlichen Boxkampf ohne Handschuhe übrig.

Sie duckte sich unter einem Schlag, der auf ihr Gesicht zielte, hinweg, doch der Hieb in ihren unteren Rücken saß. Er ließ sie auf die Knie fallen, aber sie stützte sich mit den Händen am Boden ab, streckte das Bein nach hinten und trat jemanden in die Brust. Dann rollte sie sich nach vorn ab, duckte sich unter einem weiteren Schlag in Kopfhöhe weg und konterte mit einem Boxhieb gegen eine Schulter. Knochen splitterten, und der Körper der Angreiferin wurde zurückgerissen, aber die Hexe nutzte den Schwung, um sich einmal um die eigene Achse zu drehen, und traf Izzy mit der Rückseite ihrer Faust ins Gesicht. Der Schlag schleuderte Izzy gegen jemand anderen, der sie an der Kehle packte und mit zu Boden zog.

Izzy schlug nach den Händen, die sie unten hielten, trat nach den Beinen in ihrer Nähe. Aber diejenige, die das Schwert über ihre Brust hielt … Izzy konnte ihr nicht ausweichen.

Sie rief nicht nach ihrer Mutter oder Annwyl. Sie fochten ihre eigenen Kämpfe, und sie würde in dem Wissen sterben, dass sie getan hatte, was sie konnte, um ihre Königin zu schützen.

Sie hielten sie an Armen und Beinen auf den Boden gepresst fest.

»Tu es, Schlampe!«, schrie Izzy und spuckte dabei Blut auf die, die sie festhielten. »Na los!«

»Wie du willst.« Die Hexe hob die Klinge über Izzys Brust, und auch wenn Izzy sehr gerne zurückgeschreckt wäre und den Blick abgewandt hätte, tat sie es nicht.

Die Klinge schwang herab, und Izzy drückte noch einmal ihren Arm nach oben, überraschte damit die Hexe, die ihn festhielt, und riss sie über ihre Brust. Sie war entschlossen, zumindest eine von diesen verrückten Schlampen mitzunehmen.

»Scheiße!«, schrie die erschrockene Hexe auf.

»Halt, Kyvich!«, rief jemand anderes aus, und die Klinge stoppte nur Zentimeter vom Rücken der Hexe entfernt. Sie atmete aus und sank auf Izzy zusammen.

»Verdammte Scheiße«, flüsterte sie, und Izzy konnte ihr nur vollkommen recht geben.

 

Ragnar sah zu, als Morfyd ihrer Schwester aufhalf, aber dann nahm er Keita in die Arme und nickte Morfyd zu. »Ich habe sie.«

Morfyd nickte und tätschelte seinen Arm.

Ragnar lächelte auf Keita herab. »Du findest wirklich überall Misthaufen, in die du fallen kannst, oder?«

Keita lachte. »Man könnte es meinen.«

»Was sollen wir jetzt mit denen da machen?«, fragte Briec, der mit Gwenvael immer noch den Ausgang versperrte.

»Wir können sie nicht gehen lassen«, sagte Keita, und als ihre Brüder lächelten und nach ihren Schwertern griffen: »Nein, nein! Wir können sie auch nicht töten!«

»Verdammt.« Briec schob sein Schwert zurück in seine Scheide, und Gwenvael schien zu schmollen.

Keita sah Fearghus an. »Wir brauchen Ghleanna. Sie kann sich um den Haufen hier kümmern. Denn es wird Zeit, dass ich euch allen die Wahrheit sage, was in letzter Zeit vor sich geht.«

»Was denkst du?«, fragte Ragnar.

Sie wischte sich das Blut von der Schnauze. »Ich denke, wir haben keine Zeit mehr.«

Ragnar küsste sie sanft. »Ich glaube, du hast recht.«

 

Sie war blutverschmiert, übel zugerichtet und kaputt, ihre Knöchel waren aufgerissen, die Nase gebrochen, zumindest eine Schulter ausgekugelt, beide Augen geschwollen, genau wie ihre Lippen und ihr Kinn, sie hatte fast keine Stelle mehr am Körper, die nicht zerschrammt oder geprellt war, und so sah Annwyl, wie die Hexen, die gegen sie gekämpft hatten, zurückwichen. Sie wichen immer weiter zurück, bis sieben der Hexen auf ihren gehörnten Pferden an ihnen vorüberritten, diejenige, die sie als Anführerin ausgemacht hatte, in der Mitte.

Gekleidet in Tierhäute und mit Schmuck aus Silber, Stahl und Tierteilen, sahen sie wirklich aus wie Eislandbarbaren.

Annwyl senkte den Blick und sah ihr Schwert. Sie griff danach, verlor fast das Gleichgewicht, fing sich aber wieder. Sie hob das Schwert mit beiden Händen, stemmte die Füße fest in den Boden und hob das Schwert höher, wobei sie die brüllenden Schmerzen in ihrer verletzten Schulter ignorierte.

Die Hexen hielten ihre Pferde an und stiegen ab. Sie blieben mindestens drei Schritte hinter ihrer Anführerin und blieben ganz stehen, als diese nur noch ein paar Fuß von Annwyl entfernt war.

Sie standen da und sahen sie an, während Annwyl schrie: »Na kommt schon! Lasst es uns zu Ende bringen! Kommt schon!«

Die Anführerin legte den Kopf schief. »Du kannst nicht gewinnen«, sagte sie mit leiser, ruhiger Stimme.

»Ich werde dich aber umbringen, du Schlampe. Ich werde schon dafür sorgen. Also komm. Bring es zu Ende.«

Die Hexe warf einen Blick zum Himmel hinauf. »Deine Drachensippe kommt. Ich höre ihren Flügelschlag. Willst du nicht warten?«

»Ich warte auf niemanden.« Annwyl hielt ihr Schwert fester, grub die Füße tiefer in den Boden. »Hebt die Waffen. Greift mich an. Wir beenden das jetzt.«

Die Anführerin griff nach ihrem Schwert, das sie auf den Rücken geschnallt trug. Ein langes Schwert, das mit Runen bedeckt war. Die anderen sechs – drei auf jeder Seite ihrer Anführerin – zogen ebenfalls ihre Waffen. Zwei Langschwerter, ein Kurzschwert, ein Kriegshammer, zwei Äxte: alle mit Runen bedeckt, alle von Frauen gehalten, die wussten, wie man sie benutzt.

Mit erhobenem Schwert kam die Frau auf sie zu.

»Annwyl!«, hörte sie Fearghus brüllen, während er sich näherte.

Annwyl lächelte, denn sie wusste schon: Egal, was hier passierte, sie würde Fearghus auf der anderen Seite treffen, wenn seine Zeit kam. Sie würden nicht ewig getrennt sein.

Als sie direkt vor Annwyl stand, hob die Hexe ihr Schwert hoch in die Luft, die Spitze nach unten gerichtet, und Annwyl zog ihre Waffe ein wenig weiter zurück und zielte direkt auf die Brust der Hexe.

Das Schwert der Hexe stieß zu, und Annwyl beobachtete es genau. Wartete auf den richtigen Moment zum Zustoßen, wartete auf den Moment, wo sie die Chance hatte …

Das Schwert rammte sich vor Annwyl in den Boden, und die Hexe sah zuerst nach links, dann nach rechts.

Sämtliche Hexen, die bei ihr waren, rammten ihre Waffen in den Boden, mit der Klinge oder dem Hammerende voraus. Dann fielen sie vor Annwyl auf die Knie.

Als sie alle auf den Knien waren, sah sich ihre Anführerin zu der Legion von Kriegerhexen hinter sich um. Gleichzeitig fielen diese Hexen ebenfalls auf die Knie, während ihre Pferde die Köpfe senkten und ihre Hunde sich auf die Erde legten.

Annwyl hatte keine Ahnung, was verdammt noch mal hier los war, und hielt ihr Schwert erhoben. »Was soll das?«, wollte sie wissen.

»Wir kommen wegen deiner Kinder.«

»Und ihr werdet sie nicht bekommen.«

Die Hexe lächelte sie an. »Wir sind nicht hier, um sie mitzunehmen. Wir sind hier, um sie zu beschützen, während du unsere Legionen gegen die Souveräns führst.« Die Hexe zog einen Dolch hervor, schnitt sich in die Handfläche, trat vor und zog ihre Hand über Annwyls Gesicht. »Unser Leben und Blut für dich, Königin Annwyl. Ich gebe dir mein Schwert.«

»Mein Schwert für dich«, sagte eine weitere.

»Mein Hammer für dich!«, rief eine andere aus.

»Meine Axt für dich!«, schrie wieder eine andere.

Dann schrie die ganze Legion, sie versprachen ihre Waffen, ihr Leben und ihre Seelen Annwyl und ihren Kindern.

Weil sie verdammt noch mal nicht wusste, was sie tun sollte, sah sich Annwyl um. Wie die Hexe gesagt hatte, schwebte ihre Familie vom Himmel herab, umringte sie, aber es war die kleine Tochter des Warlords, die sie suchte. Sie war diejenige, die die Antworten haben würde, das wusste Annwyl. Dagmar stand da unter all diesen riesigen Drachen, Knut an einer Seite und einen unglaublich niedlichen Welpen auf der anderen. Der Welpe, mit dem Izzy ständig spielen musste.

Dagmars Blick schoss zur Burg hinüber, und Annwyl machte einen Schritt rückwärts, dann noch einen. Sie senkte ihr Schwert, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort davon.

 

Fearghus sah zu, wie seine Gefährtin einer Legion von jubelnden und schreienden Kriegerinnen den Rücken zuwandte.

Izzy, die sich sicher gewesen war, sie sei tot, rappelte sich auf und wich rückwärts vor ihnen zurück; ihre Waffe hatte sie aufgehoben und hielt sie bereit. Ihre Mutter tat auf der gegenüberliegenden Seite des Feldes dasselbe. Sie wichen vor den Kriegerinnen zurück, gegen die sie gekämpft hatten, bis sie ein gutes Stück entfernt waren; dann drehten sie sich um und folgten Annwyl.

»Geh mit ihr, Fearghus!«, flüsterte Dagmar ihm zu. »Geh.«

Er tat es, ohne auf die Hexen zu achten, denn er wusste, dass das seine Sippe übernehmen würde.

»Wir schlagen hier unser Lager auf!«, schrie eine der Hexen über das Getöse hinweg. »Verbrennt die Leichen, ein Opfer für unsere Götter und Königin Annwyl!«

Sie erreichten den Seiteneingang der Burg, und Fearghus flog darüber hinweg, während Annwyl, Izzy und Talaith die Tür nahmen.

Annwyl war gerade auf der Treppe, als ihre Beine nachgaben und sie hinfiel.

Fearghus ging an Izzy und Talaith vorbei und fing seine Gefährtin auf, bevor sie auf dem Boden auftraf. Er hob sie hoch und lächelte, als sie die Augen öffnete.

»Dich kann ich auch keine fünf Minuten allein lassen, oder, Weib?«

Annwyl grinste und zeigte ihre blutigen Zähne, aber zumindest waren noch alle Zähne da. »Sie haben angefangen, Ritter«, frotzelte sie zurück.