24 Talaith hatte all das Geschrei und Gekreische gehört, aber sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, sich nicht in einen Kampf zwischen Morfyd und Keita einzumischen. Selbst Gwenvael – der überraschenderweise verärgert war, obwohl ihn normalerweise nicht viel verärgern konnte, vor allem nicht, was Keita tat oder wen sie vögelte – war zur Hintertür des Saals hinausgegangen.
»Willst du nicht helfen?«, hatte sie ihn gefragt, als er an ihr vorbeikam.
»Irgendwann werden sie schon müde«, hatte er geantwortet, und weg war er.
Vielleicht würden sie das auch. Doch im Gegensatz zu Dagmar hatte Talaith nicht vor, ihr Frühstück stehen zu lassen, um das herauszufinden. Wenn es nötig war, hielt sie die Brüder davon ab, sich zu streiten, aber sie würde nicht zwischen die Schwestern geraten. Sie war mit Frauen aufgewachsen und sie wusste genau, wie gemein sie sein konnten.
Talaith hörte jemanden die Treppe herunterkommen und lächelte, als sie ihren Gefährten sah. Er konnte seine Schwestern vielleicht auseinanderbringen, ohne sich dabei ein blaues Auge zu holen. Doch er blieb auf halber Treppe stehen, den Blick auf den Eingang zum Rittersaal gerichtet. Ihm fiel die Kinnlade herab, seine Augen wurden weit, und ein Ausdruck des Entsetzens breitete sich auf dem Gesicht des sonst ständig gelangweilten Drachen aus.
Besorgt, dass seine Schwestern sich jetzt wirklich etwas angetan hatten, folgte Talaith seinem Blick. Doch die wütenden hellbraunen Augen, die sie durch den Saal anstarrten, gehörten nicht zu einem Drachen.
»Bei den Göttern …« Talaith atmete hörbar aus und erhob sich langsam auf die Füße. »Izzy?«
Ihre Tochter. Iseabail. Wieder zu Hause, gesund und wohlbehalten, wieder unter den Ihren nach zwei sehr langen Jahren, und ohne dass ein wichtiger Körperteil fehlte. Aber Talaiths Izzy war … reifer geworden. Sie hatte kurvige Hüften entwickelt und Brüste, deren Größe sich fast verdoppelt hatte; Izzy war wohl eine Spätentwicklerin wie ihre Mutter. Aber das war nur ein Teil dessen, was mit Izzy passiert war, seit Talaith sie das letzte Mal gesehen hatte.
Es war außerdem kein Gramm Fett an Talaiths Tochter, aber sie war alles andere als dünn. Nein, sie besaß harte Muskeln, die sich unter ihrer kurzärmligen Tunika und einer braunen, eng anliegenden Hose wölbten. Sie war auch größer geworden – sogar noch größer als Annwyl –, und ihre Schultern waren stark, breit und mächtig; Talaith kam sich daneben kümmerlich und schwach vor. Es schien, als sei Izzy mehr nach dem Volk ihres leiblichen Vaters geraten, als Talaith gedacht hatte. Jetzt war Izzy gebaut wie die Kriegerfrauen von Alsandair. Groß, breit und sehr, sehr stark.
Noch gefährlicher: Izzy war ziemlich schön geworden. Und wenn Talaith eine Spielerin gewesen wäre, hätte sie darauf gewettet, dass sie sich ihrer Schönheit überhaupt nicht bewusst war. Auch das hatte Izzy von ihrem Vater. Er war atemberaubend gutaussehend gewesen, hatte aber keine Ahnung davon gehabt und bis zum Tag seines Todes immer verblüfft gewirkt, dass Talaith ihn so sehr lieben konnte. Er hatte sich nie für würdig gehalten.
»Hast mich wohl schon vergessen?« Izzy knallte die Hände flach auf den Tisch, beugte sich vor und brüllte ihr eine Beschuldigung entgegen, dass die Festungswände erzitterten: »Weil du mich durch eine andere ersetzt hast?«
Das Gebrüll riss Talaith aus ihrer Schockstarre. »Wovon zum Teufel redest du da?«
»Du hast es nicht einmal für nötig befunden, es mir zu erzählen! Bedeute ich dieser Familie so wenig?«
Talaith zuckte zusammen, als ihr bewusst wurde, warum ihre Tochter so wütend war, und sah ihren Gefährten an. Doch der hatte sich umgedreht und ging die Treppe wieder hinauf.
Er ließ sie im Stich, dieser Bastard!
»Du hast nie ein Wort gesagt!«, schimpfte Izzy weiter und ging auf und ab, während ihre Cousine Branwen hinter ihr stand und ungewöhnlich verstört aussah. »Ihr habt euch alle verschworen, mich zu belügen!«
»Izzy, du verstehst nicht …«
»Unterbrich mich nicht!«
Verletzt – sie war schließlich immer noch die Mutter dieses undankbaren Görs – stürmte Talaith um den Tisch zu ihrer Tochter. »Wage es ja nicht, so mit mir zu reden! Ich bin immer noch deine Mutter!«
»Wohl kaum!« Izzy verschränkte die Arme vor der Brust. »Hast du gehofft, ich würde nicht wiederkommen?«, fragte sie hochmütig. »Damit du so tun könntest, als hätte es mich nie gegeben? War ich so eine Last für dich?«
Außer sich vor Wut, dass diese Göre so etwas behaupten konnte, explodierte Talaith.
»Wie kannst du es wagen, so etwas zu mir zu sagen!«
»Wie kannst du es wagen, mir nicht die Wahrheit zu sagen!«
»Ich sehe, deine Abwesenheit hat dich nicht weniger unmöglich gemacht!«, schrie Talaith.
»Wie die Mutter, so die Tochter, scheint es!«, schrie Izzy zurück.
»Izzy?«, sagte Briec vom Fuß der Treppe aus, Rhianwen in den Armen. »Willst du deiner Schwester nicht Hallo sagen, bevor du uns allen Lebewohl sagst?«
Izzy wandte sich ihrem Vater zu und räusperte sich. »Nein. Will ich nicht.«
»Du bist unmöglich!«, fuhr Talaith sie an.
»Ich bin unmöglich?«
Briec stand inzwischen neben Izzy und Talaith.
Und zum ersten Mal, seit Talaith sich erinnern konnte, schien ihre jüngere Tochter in den Armen ihres Vaters nicht zufrieden zu sein: Sie streckte beide Arme nach Izzy aus und zappelte; sie wollte unbedingt von ihr gehalten werden.
»Ich glaube, sie will nicht bei mir sein«, sagte er leise.
Izzy rieb sich die Handflächen an den Oberschenkeln und machte einen Schritt rückwärts. Stur wie immer – Talaith hatte keine Ahnung, wo ihre Tochter das herhatte –, weigerte sich Izzy schweigend, ihre eigene Schwester zu berühren. Und falls die Überraschung und der Schmerz auf dem Gesicht ihres Vaters ihr nicht ein bisschen Vernunft beibrachten, wusste Talaith auch nicht, was sonst noch helfen konnte.
»Sag ihr, wie sie heißt«, schaltete sich plötzlich Keita ein.
Briec warf seiner Schwester einen finsteren Blick zu. »Reitest du immer noch darauf herum?«
»Darauf werde ich bis ans Ende der Zeiten herumreiten. Du hättest das arme Kind auch gleich verfluchen können. Rhianwen hat er sie genannt. Kannst du das fassen, Izzy? Er versucht, den Segen von deiner Großmutter zu kriegen, indem er die Seele des Babys verkauft!«
»So ähnlich sind die Namen gar nicht«, widersprach er. »Jetzt lass stecken!«
»Lass stecken?« Keita trat vor, riss ihrem Bruder Rhianwen weg und drückte sie Izzy in den Arm, was dem sturen Mädchen keine Wahl ließ, als ihre Schwester festzuhalten, wenn sie sie nicht auf den Boden fallen lassen wollte. »Ich werde es nicht ›stecken lassen‹, wie du es so eloquent ausgedrückt hast. Aber ich nenne dich einen Schleimer, denn das bist du. Du hast wohl gar kein Schamgefühl.«
»Ich? Du nennst mich einen Schleimer?«
Während die Geschwister stritten, hielt Izzy ihre Schwester auf Abstand. Aber das ließ Rhianwen nicht mit sich machen. Sie streckte weiter die Ärmchen nach Izzy aus, die kleinen Hände griffen verzweifelt ins Leere.
Mit angehaltenem Atem beobachtete Talaith ihre zwei Töchter. Sie konnte damit leben, wenn Izzy sauer auf sie war, aber auf ihre eigene Schwester durfte sie nicht sauer sein. Rhianwen hatte nichts falsch gemacht, außer in eine sehr seltsame Situation hineingeboren zu werden.
»Mein Daddy liebt mich!«, schrie Keita ihren Bruder an. »Und dass du eifersüchtig darauf bist, langweilt mich!«
»Du langweilst mich, und trotzdem ertrage ich dich!«
»Die ganze Welt langweilt dich, Briec, denn du hältst dich für besser als alle anderen!«
»Ich weiß, dass ich besser bin als alle anderen. Wenn du das nur zugeben würdest, wärst du sehr viel glücklicher mit deiner Minderwertigkeit!«
Frustriert, dass sie ihre Schwester nicht erreichen konnte, begann Rhianwen zu weinen, und Talaith war kurz davor, sich ihre Tochter zurückzuholen.
»Sch-sch-sch«, machte Izzy beruhigend und zog das Baby an ihre Brust. »Schon gut. Nicht weinen.« Izzy begann, in kleinen Kreisen zu gehen und ihre Schwester in ihren Armen hüpfen zu lassen. »Und ihr zwei«, sagte sie zu ihrem Vater und ihrer Tante: »Hört auf damit. Ihr bringt das Baby durcheinander.«
Der Streit verebbte augenblicklich, und die Geschwister sahen Izzy an, dann einander. Keita blinzelte ihrem Bruder zu und lächelte Talaith an.
Danke, flüsterte Talaith der Drachin lautlos zu.
Das Weinen verebbte, und Rhianwen neigte den Kopf zurück, damit sie mit Izzy tun konnte, was sie mit jedem tat: sie mit diesem fast schmerzlich eindringlichen Blick mustern. Was sah ihre Kleine, wenn sie andere so genau ansah, fragte – und sorgte – sich Talaith immer.
Was auch immer Rhianwen diesmal sah, es war mehr als genug. Um genau zu sein, war es so mächtig wie Izzys Schultern. Denn Rhianwen tat etwas, das sie nie zuvor getan hatte.
Sie lächelte.
Ein so strahlendes und glückliches Lächeln, dass Talaith es wie einen Schlag gegen die Brust empfand. Selbst Briec ging einen Schritt zurück, und sein Blick suchte den von Talaith.
Izzy grinste zurück; sie hatte keine Ahnung, dass sie in dreißig Sekunden geschafft hatte, was seit Rhianwens Geburt in diese Welt sonst niemand geschafft hatte.
»Sie ist wunderschön«, sagte Branwen, die hinter Izzy getreten war, um besser sehen zu können.
»Natürlich ist sie das«, blaffte Izzy zurück, die jeden Tag mehr klang wie ihr Adoptivvater. Der Horror. »Sie ist meine Schwester.«
»Ach! Ich liebe die menschlichen Kleinen.« Branwen griff um Izzy herum. »Lass mich sie mal halten.«
»Geh weg.« Izzy drehte sich so, dass ihre Cousine ihre Schwester nicht berühren konnte. »Deine Hände sind schmutzig.«
»Nicht schmutziger als deine.«
»Ich hatte auf der Reise Handschuhe an.«
»Lass sie mich nur ganz kurz halten«, bettelte Branwen, und Talaith tat die junge Drachin leid.
Vor allem, als Izzy zurückschnauzte: »Schmutzig!«
»Na schön! Dann wasche ich mir die Hände.«
»Du brauchst ein Bad. Du bist völlig verdreckt.«
»Du undankbare kleine …«
»Wie wäre es, wenn ich die Sache für alle einfacher mache?«, unterbrach sie Dagmar. Sie krümmte den Zeigefinger, und Fanny, die eigentlich immer noch für die Diener zuständig, aber irgendwie zu Dagmars persönlicher Assistentin geworden war, erschien augenblicklich.
»Ja, Lady Dagmar?«
»Fanny, könntest du dich um diese beiden hier kümmern? Ein heißes Bad für beide und etwas zu essen.«
»Natürlich, Mylady.« Fanny lächelte die beiden an. »Willkommen zu Hause, Lady Iseabail und Lady Branwen. Bitte folgt mir.«
»Na komm, Rhi«, sagte Izzy zu ihrer Schwester, »du kommst mit uns.« Sie wollte Fanny und Branwen folgen, hielt aber inne und warf ihren Eltern einen finsteren Blick zu. »Glaubt bloß nicht, ihr wärt damit vom Haken.«
Talaith hatte schon den Mund geöffnet, um ihrem verzogenen Gör von Tochter zu sagen, was sie mit ihrem »Haken« machen sollte, aber Keita, Dagmar, Briec und Morfyd hielten ihr alle die Hand vor den Mund. Sie stampfte mit den Fuß auf, aber sie weigerten sich, ihre Hände wegzunehmen, bis Izzy und ihre Cousine die Treppe hinauf und im Flur verschwunden waren.
»Göre!«, schrie sie, als sie sie losließen.
»Sie war verletzt«, sagte Briec. »Ich habe dich gewarnt …«
»Halt. Die. Klappe.«
»Und normalerweise könnte ich damit leben, wenn sie sauer auf dich ist – aber auf mich ist sie auch sauer. Das kann ich nicht hinnehmen. Meine Töchter lieben mich. Ich lasse mir das nicht von dir ruinieren.«
Keita schaute zu ihrem Bruder auf. »Hältst du das wirklich für hilfreich?«
»Hilfreich? Ich soll hilfreich sein?«
»Sie ist so stur!«, knurrte Talaith, die inzwischen auf und ab wanderte. »Ich weiß nicht, woher sie das hat.«
Jetzt starrten sie alle an.
»Unglaublich, dass du die Dreistigkeit besitzt, das laut zu sagen«, bemerkte Briec.
»Und was soll das nun wieder …«
Sie fuhren alle erschreckt zusammen, als sie das Quieken der Mädchen hörten, bevor Izzy und Branwen die Treppen wieder heruntergeschossen kamen, über den Esstisch sprangen und direkt zur Tür hinausstürmten.
»Ihr Götter!«, rief Talaith aus. »Wo ist die …«
»Rhianwen geht es gut«, rief Fanny. Ein paar Sekunden später erschien sie oben an der Treppe, die glucksende Rhianwen im Arm. »Ich habe sie.«
»Was ist los?«
»Keine Ahnung. Sie haben in ihrem Zimmer aus dem Fenster geschaut, mir das Baby zugeworfen, äh, übergeben, und sind zur Tür gerannt.«
»Was in allen …«
Gwenvael kam in den Saal gerannt. Er war so überwältigt von dem, was da draußen vor sich ging, dass er nicht einmal sprechen konnte. Er zeigte nur immer wieder mit dem Finger nach draußen.
Dagmar stemmte die Hände in die Hüften. »Was ist los mit dir?«
Gwenvael holte Luft, dann sprudelte er heraus: »Auf dem Hauptgelände. Draußen. Annwyl … und die Blitzdrachen.« Er hob zwei Finger. »Zwei von ihnen. Sie kämpft gegen zwei von ihnen.«
Einen Moment lang herrschte verblüfftes Schweigen, dann rannten alle zur Tür, und nur Talaith und Dagmar blieben zurück.
»Wartet, wartet, wartet!«, schrie Dagmar. Die Gruppe blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Ihr müsst sie aufhalten!«, befahl sie.
Briec schnaubte als Erster und stürmte zur Tür hinaus, gefolgt von den anderen, während Talaith nach Rhianwen sehen ging.
Ragnar saß unter einem Baum und schaute über das hohe Gras hinweg in die Weite. Er hatte ein geöffnetes Buch im Schoß liegen, aber er hatte kaum einen Blick hineingeworfen, seit er hier saß. Er hatte im Moment weit höhere Dinge im Kopf.
Er bekam die Blicke von Dagmar und Königin Annwyl nicht aus dem Kopf. Nicht weil sie dachten, er ginge mit Keita ins Bett. Das war schließlich Teil ihres Plans.
Nein, Ragnar war aufgebracht, weil sich Keita dann dem Rest ihrer direkten Verwandtschaft allein hatte stellen müssen. Natürlich hatte er es sich nicht ausgesucht zu gehen. Sie hatte deutlich gemacht, dass das alles so ablaufen musste, aber das hieß nicht, dass es sich für ihn richtig anfühlte. Und obwohl er so tun konnte, als sei sein Wunsch, Keita zu beschützen, ein Instinkt, den alle Nordland-Männer hatten, wusste er es besser. Er wusste, dass seine Gefühle für sie mehr als reiner Instinkt waren.
Dennoch verstand Keita ihre Sippe besser, als er dazu je in der Lage sein würde, aber selbst dieses Wissen linderte seine Besorgnis nicht.
Dagmar stürmte auf ihn zu und kam schlitternd zum Stehen. Sie war außer Atem, und sie war offensichtlich gerannt, um hierherzukommen. Dagmar rannte?
»Ragnar …«, begann sie, aber ihr Blick blieb an dem kleinen Tornado hängen, der sich in der Mitte des Feldes drehte. »Bei aller Vernunft, was ist das denn?«
»Oh. Tut mir leid.« Ragnar entließ die Winde, die er gerufen hatte, und der Tornado löste sich auf.
»Du hast das gemacht?«
»Das ist nichts. Es hilft mir nur beim Nachdenken.«
»Ja, aber …«
»Brauchst du etwas, Dagmar?«
Sie blinzelte mehrmals hinter ihren Augengläsern, eine Hand an die Brust gepresst. »Äh … ja. Ja.« Sie holte Luft, um ihre Nerven zu beruhigen. Als sie erneut sprach, hatte sie sich wieder unter Kontrolle. »Dein Bruder und dein Vetter sind mit Annwyl auf dem Übungsplatz.«
»Und was tun sie da?«, fragte er.
Eine Braue hob sich über kalten grauen Augen und einfachen, stahlgefassten Augengläsern, und Ragnar konnte nur seufzen. »Ich glaube langsam, sie legen es absichtlich darauf an, dass ich ihnen die Schuppen über die Ohren ziehe.«
Keita hatte schon immer etwas für Kämpfe übriggehabt. Sie vermied es, selbst zu kämpfen, aber sie liebte es umso mehr, dabei zuzusehen. Und das … das war ein guter Kampf.
Mit nur einem Schild und einem Schwert hatte es Annwyl geschafft, beide Blitzdrachen in Schach zu halten und gleichzeitig ein paar gute Treffer zu landen. Alle drei bluteten, aber nichts von Bedeutung war abgeschnitten, abgerissen oder fehlte auf sonst eine Art. Das war übrigens eine Regel auf den Übungsplätzen auf Annwyls Gebiet: Sie waren nur zum Training da, nicht zum Töten.
Doch Keita verstand genug vom Kämpfen, um zu wissen, dass diese zwei Blitzdrachen sich bei ihren Hieben nicht gerade zurückhielten. Sie hätte Gold darauf gewettet, dass sie das zu Anfang getan hatten. Kein Nordländer kämpfte gern gegen Frauen – hauptsächlich, weil es nichts Ehrenhaftes war –, aber nach fünf Minuten im Ring war ihnen wahrscheinlich aufgegangen, dass Annwyl nicht irgendeine Königin war, die gern von sich glaubte, sie könne kämpfen, und ansonsten ein Symbol für ihre Männer darstellte als etwas, wofür man kämpfte.
Nein. Nicht Annwyl. Sie war und blieb immer eine Kämpferin. Eine Kriegerin, die ihre Männer in die Schlacht und in einen möglichen Tod führte.
»Was ist hier los?«
Keita sah ihren ältesten Bruder an. »Ich glaube, sie trainieren.«
Fearghus schüttelte den Kopf. »In letzter Zeit kämpft sie gegen jeden.«
»Und sie hat ein paar neue Tricks gelernt«, warf Briec ein.
»Ich frage mich, wer ihr das wohl alles beigebracht hat?«, fügte Gwenvael hinzu, und Keita trat ihm mit Kraft auf den Fuß. »Au! Wofür war das denn?«
Fearghus warf seinem Bruder einen bösen Blick zu, bevor er sich wieder auf Annwyl konzentrierte. »Sie übt im Moment jeden Tag. Manchmal neun bis zehn Stunden.«
Und all diese Arbeit war deutlich zu sehen. Keita hatte Annwyls Muskeln bestaunt, als sie sie das erste Mal gesehen hatte, aber ihr zuzusehen, wie sie gegen zwei Männer kämpfte, die viel größer und stärker waren als sie, war ein gewaltiger Anblick. Außerdem schien Annwyl zu wissen, dass sie nicht so stark war wie ihre Gegner, also setzte sie ihre Schnelligkeit und geringere Größe zu ihrem Vorteil ein. Und es funktionierte. Die beiden mächtigen Nordland-Krieger schafften es kaum, sich gegen diese eine Frau zu behaupten. Sie waren wahrscheinlich verwirrt und ein bisschen beschämt darüber. Aber dazu gab es keinen Anlass. Keitas eigene Sippe hatte akzeptiert, dass Annwyl eine gefährliche Gegnerin war und bis zu ihrem letzten Atemzug bleiben würde. Der Cadwaladr-Klan weigerte sich standhaft, gegen sie zu kämpfen, und schämte sich dessen überhaupt nicht.
Ein Schatten fiel über Keita, und mit einem Blick über ihre Schulter sah sie Ragnar herankommen. Hinter ihm lief eine atemlose Dagmar. Hatte sie bis in die Nordländer rennen müssen, um ihn zu holen? Die Frau sah erschöpft aus.
Ragnar drängte sich zwischen Keita und Fearghus. »Hören sie eigentlich nie auf mich?«, fragte er.
»Anscheinend nicht«, antwortete Keita. »Aber keine Sorge. Sie dürfen einander auf dem Übungsgelände nicht töten. Es ist eine Regel oder so etwas.«
»Das beruhigt mich überhaupt nicht.«
»Willst du gehen und sie aufhalten?«
»Sie haben sich für diesen Weg entschieden«, erklärte Ragnar, »jetzt müssen sie ihn bis zum Ende gehen.«
Ohne den Blick von seiner Gefährtin abzuwenden, sagte Fearghus: »Anders ausgedrückt: Du hast nicht vor, da reinzugehen und deinen eigenen Kopf zu riskieren.«
»So könnte man es auch ausdrücken, aber auf meine Art klingt es sehr viel ehrenvoller.«
Im Kampfring setzte Vigholf sein Schwert ein, um Annwyl den Schild aus der Hand zu reißen. Sie stolperte ein ganzes Stück zurück. Jetzt befand sie sich zwischen Vigholf und Meinhard. Beide griffen gleichzeitig an, und Annwyl warf sich im letzten Augenblick zur Seite, sodass die beiden ihre Waffen zurückziehen mussten, um sich nicht gegenseitig zu zerstückeln.
Die Gelegenheit nutzte Annwyl, um Meinhard gegen das Bein zu treten, das sie ihm am Tag vorher gebrochen hatte. Der Drache brüllte vor Schmerz, und Blitze sprühten in alle Richtungen. Keita hatte keine Lust, getroffen zu werden, und duckte sich, aber Briec wirkte rasch einen Zauber, der einen Schutzschirm um sie alle entstehen ließ.
Während Meinhard vorübergehend außer Gefecht war, griff Annwyl Vigholfs Beine an und warf sich mit ihm zu Boden. Sie kam schnell wieder auf die Beine und schon war sie wieder über ihm, das Schwert in beiden Händen hoch über seinem Bauch erhoben.
Einen Moment bevor sie das Schwert in den Drachen rammen wollte – während Vigholf sich höchstwahrscheinlich gleich in seine Drachengestalt verwandeln würde, damit er Annwyl zertrampeln konnte –, warf Annwyl einen Blick auf ihr Publikum, zurück auf ihr Opfer, dann wieder auf das Publikum.
»Izzy?«
Izzy hob die Hand und winkte.
»Izzy!« Annwyl rammte ihr Schwert neben dem Kopf des armen Vigholf in den Boden – der Drache biss die Zähne zusammen, wahrscheinlich, um nicht aufzuschreien wie ein erschrecktes Baby – und stürmte über den Übungsplatz. Sie sprang über den Zaun – alle anderen wichen hastig zurück – und direkt in Izzys Arme.
»Iseabail!«, jubelte Annwyl und wirbelte ihre Nichte herum. »Ich freue mich so, dich zu sehen!«
Gwenvael neigte sich herüber und flüsterte Keita ins Ohr: »Das ist wie der Kampf der Riesenfrauen.«
Bevor sie lachen konnte, schlug Briec Gwenvael auf den Hinterkopf.
»Au!«
Annwyl setzte Izzy ab, hielt aber weiter ihre Hände fest. Sie ging einen Schritt zurück und musterte sie von oben bis unten. »Du siehst so gut aus. Wie ist es dir ergangen?«
»Ich bin immer noch in der Ausbildung«, jammerte Izzy.
»Und da wirst du auch blieben, bis deine Kommandanten das Gefühl haben, dass du bereit bist für eine Beförderung. Du willst zu schnell zu viel.«
»Du hast doch nicht erwartet, dass sich das ändert, oder?«, brummelte Izzy, und Annwyl lachte.
»Nein. Das hatte ich nicht erwartet. Ich habe dich aber auch nicht so früh zurückerwartet.«
»Ach, na ja, ich bin hergekommen, um meine Mutter mit ihrem Verrat zu konfrontieren.«
»Izzy«, warnte Briec.
»Mit dir rede ich auch nicht mehr«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Und dir, Annwyl, soll ich das hier von Ghleanna bringen.«
Sie fasste in ihren Stiefel und reichte Annwyl ein Stück Leder. Die nahm es, sah es sich genau an, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich fast augenblicklich.
»Wo wurde das gefunden?«, fragte sie, jetzt nicht mehr die liebende Tante, sondern die fordernde Königin.
»In einer kleinen Stadt in der Nähe der Westlichen Berge. Die Stadt war ein paar Tage vorher von Barbaren angegriffen worden. Bis wir davon erfuhren und um Hilfe gebeten wurden, war es zu spät.«
»Gibt es Überlebende?«
Izzy schüttelte den Kopf. »Nein. Es sah aus, als hätten sie alle getötet. Männer, Frauen, sogar Kinder. Ob sie einige als Sklaven mitgenommen haben, konnten wir nicht erkennen.«
Annwyl schloss die Hand fest um das Lederstück. »Ich bin froh, dass du wieder da bist, Izzy«, sagte sie noch einmal. »Wir reden später, ja?«
»Aye.«
»Gut, gut.« Annwyl machte Fearghus ein Zeichen, bevor sie sich auf den Weg zur Festung machte. Er folgte ihr, blieb aber kurz stehen, um Izzy einen Kuss auf die Wange zu geben und sie zu umarmen.
Bevor Annwyl um die Ecke verschwand, rief sie aus. »He! Barbarin. Hexe. Euch zwei brauchen wir auch.«
Morfyd nickte den Blitzdrachen zu und folgte Annwyl; Dagmar seufzte schwer, bevor sie ihnen hinterherhinkte.
»Ich muss dafür sorgen, dass sie besser in Form kommt«, murmelte Gwenvael vor sich hin. »Sie ist schwach wie ein Kätzchen.«
»Nur körperlich«, stellte Keita klar.
Gwenvael kicherte und trat mit in die Hüften gestemmten Händen vor Izzy hin. »Was?«, wollte er von seiner Nichte wissen. »Du kommst wieder und zeigst mir keinerlei Zuneigung?«
»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch mit einem von euch rede.« Izzy verschränkte die Arme vor der Brust. »In keinem der Briefe, die ich bekommen habe, hat mir auch nur einer von euch von Rhi erzählt.«
»Wer ist Rhi?«
»Rhianwen«, sagte Keita. »Du Idiot.«
Gwenvael sah zuück zu seiner Nichte und sagte verwirrt: »Aber ich habe dir doch überhaupt nicht geschrieben. Das müsste mich doch von allen Vorwürfen, ich sei ein Lügner, freisprechen.« Und als alle ihn nur anstarrten: »Ja, das sollte es wirklich!«
Vigholf ignorierte die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde, und schaffte es allein wieder auf die Beine. Allerdings nahm er dann doch einen Krug Wasser, den ihm sein Bruder anbot.
»Alles klar?« Nur Ragnar stellte diese Frage nach einem Kampf. Aber diesmal fand Vigholf die Frage ganz und gar nicht unangebracht. Er trank das Wasser halb aus und reichte es dann seinem Vetter weiter
»Ich wusste nicht, dass Frauen so kämpfen können«, gab er zu. »Sicher, dass sie nicht irgendeinen Dämon in sich hat?«
»Hat sie nicht.« Denn das hätte Ragnar gewusst. »Es wirkt nur ein bisschen so.«
Vigholf blickte auf und sah, dass sich ihnen zwei Frauen näherten. Eine war eine sehr junge Drachin, die andere eine Menschenfrau, die Haut braun wie bei Lady Talaith. Schön wie Talaith war sie auch, deshalb nahm er an, dass sie aus derselben Blutlinie stammen mussten.
»Das war unglaublich«, sagte die Menschenfrau. »Meint ihr, ihr könnt uns ein bisschen was davon beibringen?«
»Von was?«, fragte er ein wenig amüsiert.
Sie hob seine Streitaxt auf. Er hatte sie ein bisschen im Kampf gegen die Königin eingesetzt, aber sie hatte sie ihm früh abgenommen. Aber natürlich hatte sie es nur geschafft, sie ihm aus der Hand zu schlagen. Als sie später versucht hatte, sie aufzuheben, hatte sie solche Probleme mit ihrem Gewicht gehabt, dass sie sie weggeworfen hatte und stattdessen nach Meinhards fallengelassenem Schwert gehechtet war. Doch dieses … Kind wog sie mit scheinbarer Leichtigkeit in der Hand.
»Bringt uns bei, wie man Streitäxte benutzt. Das hatten wir noch nicht.«
»Izzy ist immer noch bei Speeren und Schwertern«, sagte die Drachin. »Das findet sie ein bisschen langweilig.«
Er schaute zu, wie die Menschliche seine Lieblingswaffe in kurzen Bögen mit einer Hand schwang. »Das ist hübsch, nicht?« Sie unterbrach sich und blinzelte zu Ragnar hinauf. »Kenne ich dich nicht?«
»Äh …«
Prinzessin Keita tauchte so plötzlich neben ihnen auf, als sei sie aus dem Boden geschossen. »Entschuldigt uns einen Moment.« Sie schnappte die Menschliche am Kragen und zog sie ein paar Schritte weg.
»Was ist los?«, fragte Vigholf seinen Bruder.
»Nichts.«
»Lügst du mich an?«
»Nur ein bisschen.«
»Oooooh.« Die Menschliche schaute zu ihnen herüber und verzog das Gesicht. Tut mir leid, gab sie Ragnar lautlos zu verstehen.
»Von Subtilität hat die wirklich noch nie etwas gehört, oder?«
Ragnar schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich.«
Die Prinzessin und die Menschliche kamen wieder zu ihnen herüber, und die Menschliche hielt Vigholf seine Axt hin. Er nahm sie.
»Nette Waffe«, sagte sie.
»Danke.«
Er wartete darauf, dass sie ihn drängte, mehr darüber zu lernen, aber sie stand da, sagte nichts und wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab.
»Also«, sagte die Prinzessin, »wie wär’s, wenn wir alle …« Sie hob ruckartig den Kopf, dann platzte es plötzlich aus ihr heraus: »Mist. Mist!« Dann tauchte sie hinter Ragnar unter.
»Sollte ich wissen, was du da tust?«
»Ich gehe ein paar … äh, Leuten aus dem Weg.«
»Männlichen Leuten?« Und Vigholf bemerkte, wie verärgert sein Bruder klang.
»Sprich nicht in diesem Ton mit mir, Warlord.« Sie zog an Ragnars Hemd und drehte ihn ein bisschen herum, sodass er sie weiterhin abschirmte. »Bleib hier. Rühr dich nicht. Ich laufe weg.«
»Wo willst du hin?«
Aber die Prinzessin hatte schon ihre Röcke angehoben und spurtete in Richtung Stadt davon.
»He! Ausländer!« Spöttisch grinsend schauten alle drei zu den menschlichen Soldaten hinüber, die außerhalb des Gatters standen; einige mit Blumen in den Händen. »Wo ist denn die hübsche Prinzessin?«, fragte einer von ihnen. »Wir haben sie doch eben noch gesehen.«
Meinhard, der immer noch mit seinem neuesten Schmerz im Bein beschäftigt war, schlug vor: »Ich sage, wir bringen sie alle um.«
»Ooh!«, warf die junge Drachin ein. »Benutz die Streitaxt!«
»Oder«, unterbrach sie die Menschliche, schob die Drachin beiseite und sah zu den Soldaten hinüber, »ihr könnt euch verpissen!«
»Niemand redet mit dir, Muskelprotz!«
Und das Mädchen senkte den Kopf, hob den Blick und ballte die Hände zu Fäusten. Das genügte.
»Schon gut, schon gut«, sagte der Mann und hob die Hände. »Kein Grund, gemein zu werden.«
Die Männer gingen, und das Mädchen wandte sich lächelnd wieder den Blitzdrachen zu. »Der hat nur eine große Klappe, sonst nichts. Aber wenn ihr wieder Probleme bekommt, sagt mir einfach Bescheid. Ich kümmere mich darum.«
Und Vigholf war hin- und hergerissen zwischen Lachen und der Überzeugung, sie werde sich wirklich darum kümmern. Wahrscheinlich sogar ziemlich gut.
»Ich gehe besser mal Keita suchen«, sagte Ragnar schließlich und seufzte ein wenig.
»Ist die Prinzessin plötzlich deine Verantwortung, Bruder?«
»Sicher, dass du uns nichts zu sagen hast, Vetter?«, fragte Meinhard.
»Ja.«
»Lügst du?«
»Vielleicht ein bisschen.«
Er ging und ließ Vigholf und Meinhard allein mit den beiden jungen Frauen.
»Ich bin Branwen«, sagte die junge Drachin. »Das ist Izzy. Sie ist keine Blutsverwandte, aber sie ist meine Cousine.«
Diese Feuerspucker lebten ganz einfach viel zu kompliziert.
»Schön für dich«, sagte Vigholf und hievte seine Axt auf die Schulter. »Ich und Meinhard trainieren jeden Tag bei Tagesanbruch«, erklärte er den beiden. »Und wir trainieren hier auf dem Platz, solange wir auf Garbhán Isle sind. Was ihr mit dieser Information macht, bleibt euch überlassen.«
Sie machten sich auf den Rückweg zur Burg, um dort vielleicht ein paar Salben für ihre davongetragenen schmerzhaften Verletzungen zu suchen.
Dagmar legte den Lederstreifen, der aussah wie ein Stück, das von einem Schwertgriff gerissen worden war, auf den langen Tisch, der von Karten und Korrespondenz der verschiedenen Legionskommandanten bedeckt war.
»Ich könnte seit Jahren dort sein«, sagte Fearghus und sein Blick wanderte zu seiner Gefährtin. Annwyl stand mit dem Rücken zu ihnen am Fenster, die Arme verschränkt, und starrte hinaus.
»Es sieht relativ neu aus«, sagte Dagmar. Dann, mit einem Seufzen, ging sie hinüber zu einer kleinen Truhe, die sie in diesem Raum aufbewahrte. Sie bewahrte wichtige Korrespondenz und wichtige, aber nicht so oft benutzte Karten und andere Gegenstände darin auf. Sie war die Einzige, die einen Schlüssel dazu besaß; keiner der Drachen machte sich die Mühe, nach einem zu fragen, denn sie konnten die Truhe auch ohne Schlüssel aufreißen. Sie zog den Schlüsselbund hervor, den sie am Gürtel trug, öffnete die Truhe und holte ein paar Gegenstände heraus. Sie legte sie auf den Tisch neben das neueste Stück. Zwei waren Lederstreifen mit eingebrannten Emblemen, ein anderes war ein Teil einer Halskette, und wieder ein anderes war eine Goldmünze. Alle in den letzten Monaten von Addolgar geborgen.
Fearghus und Morfyd kamen näher, um sie sich anzusehen. Fearghus sah Dagmar mit seinen kalten schwarzen Augen an. »Du erzählst uns erst jetzt davon?«
»Es gab keinen Grund, jemanden zu alarmieren, solange ich nicht sicher war. Ich lasse meine Leute da draußen so viele Informationen sammeln, wie sie können, und Ghleanna und Addolgar sind informiert.«
»Und?«
Dagmar ließ sich auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches fallen. »Es gibt immer noch nichts Definitives. Keine Zeugen. Keine Souveräne wurden vor oder nach den Angriffen gesichtet. Nichts.«
»Aber das?«, fragte Morfyd und deutete auf die Stücke, die Dagmar gesammelt hatte.
»Das könnten Beweise sein, aber es reicht nicht aus.«
»Wir können mehr Soldaten in den Westen schicken, um sie zu suchen. Um herauszufinden, ob es die Souveräne sind, und dann entsprechend zu handeln.«
Fearghus sagte mit gesenktem Kopf: »Es sind nicht die Souveräne, die wir finden müssen.«
»Warum nicht?«
»Es heißt«, erklärte Dagmar, »dass die menschlichen Soldaten der Hoheitsgebiete nichts weiter als Marionetten ihrer Drachenherren sind.«
»Der Eisendrachen«, ergänzte Fearghus.
Morfyd schüttelte den Kopf. »Glaubt ihr wirklich, Thracius würde es wagen, uns anzugreifen?«
»Offen?« Fearghus zuckte die Achseln. »Wohl kaum. Aber dass Thracius seinen menschlichen Kampfhund Laudaricus und die Souverän-Legionen losschickt, um unsere Truppen zu dezimieren? Um uns zu beschäftigen, unsere Legionen zu zersplittern, damit wir nicht sehen, was wirklich vor sich geht – vielleicht direkt vor unserer Nase? Das kann ich mir durchaus vorstellen, Schwester.«
»Ich verstehe nicht.«
Er deutete auf die Karte, die vor ihm auf dem Tisch lag. »Wenn wir einen bevorstehenden Angriff durch die Souveräne fürchten, nachdem wir all diese leicht zugänglich platzierten Beweisstücke gefunden haben, verlagern wir all unsere menschlichen Truppen hierher« – er deutete auf die Westlichen Berge – »und schicken unsere Dracheneinheiten über die Berge und in die Talgebiete zwischen den Westlichen und den Aricia-Bergen.«
»Verstehe.«
Dagmar beugte sich vor und deutete auf den nördlichen Teil der Karte. »Während die Eisendrachen durch die Nordländer und Außenebenen fegen und dieses Land ausradieren, bevor auch nur ein Soldat es hierher zurück schaffen kann.«
Morfyd starrte auf die Karte hinab, bis sie plötzlich verkündete: »Mutter weiß es.«
»Warum sagst du das?«
»Warum sonst sollte sie Ragnar herholen? Nach zwei Jahren, wenn sein Krieg fast vorbei ist? Sie plant etwas.«
Dagmar stützte die Ellbogen auf den Tisch und stützte das Kinn in die Hände. »Ein neuer Krieg würde sie bei den Ältesten in eine bessere Position bringen, aber das heißt nicht, dass sie aktiv daran arbeitet, dass ein Krieg mit den Hoheitsgebieten ausbricht.«
Morfyd begann, auf und ab zu gehen. »Die Hoheitsgebiete sind nicht wie die Nordländer, weißt du. Sie sind durch die Geographie und alten Groll zersplittert. Das gesamte quintilianische Reich, Drachen wie Menschen, verneigt sich vor diesem Bastard Thracius. Er regiert mit eiserner Klaue, und falls Mutter das weiterlaufen lässt, bis die Ältesten keine Wahl mehr haben, als einen Krieg zu erklären … dann könnte es zu spät sein.«
»Dann warten wir nicht darauf«, sagte Fearghus. »Menschliche und Drachenlegionen greifen zuerst an. Bevor Mutters Pläne oder die der Souveräne aufgehen können.«
»Nein.«
Fearghus schloss kurz die Augen auf diese leise ausgesprochene, aber unerschütterliche Ankündigung seiner Gefährtin hin.
»Annwyl …«
»Nein, Fearghus. Das wollen sie doch nur. Dass wir die Kinder verlassen.«
»Wir lassen sie doch nicht allein auf einem Feld sitzen und sich selbst verteidigen.«
Sie wandte sich zu ihnen um, und Dagmar konnte sich ein Zusammenzucken nicht verkneifen, als sie den Gesichtsausdruck der Menschenkönigin sah. Er war … eisern.
»Ich verlasse sie nicht. Ich kann es nicht deutlicher ausdrücken.«
Sie sahen ihr nach, als sie ging, und keiner erschrak, als die Tür hinter ihr zuknallte. Die Königin war eine notorische Türenknallerin.
»Ich rede mit ihr«, sagte Fearghus.
»Du hast schon oft mit ihr geredet, Bruder. Wie wir alle. Sie hört nicht auf uns.«
»Sie träumt«, sagte Dagmar und verriet, was man sich unter den Dienern erzählte. »Sie träumt, dass jemand die Babys holen kommt.«
»Und?«, drängte Fearghus. »Hat sie recht?«
Dagmar und Morfyd tauschten Blicke, bevor Dagmar zugab: »Ja. Wir glauben, sie könnte recht haben.«
»Es wird immer jemanden geben, der es auf die Babys abgesehen hat«, sagte Fearghus und nahm dieselbe Position ein, die seine Gefährtin eben verlassen hatte. Er verschränkte sogar die Arme vor der Brust und starrte aus dem Fenster. »Jeder will sie tot sehen.«
»Glaub mir, Fearghus, wenn das, was Annwyl träumt, wenn die Auskünfte, die ich erhalten habe, korrekt sind, dann hat sie gute Gründe, besorgt zu sein. Wir alle, um genau zu sein.«