23 Keita wachte auf und fragte sich, wer sie lebendig begraben hatte. Wahrscheinlich Gwenvael. Mistkerl. Dann merkte sie, dass man sie unter etwas Atmendem begraben hatte.

Der Blitzdrache. Richtig. Er hatte sich letzte Nacht um sie gekümmert. Sogar mit dem Kotzen und der gebrochenen Nase. Verdammte Tanten mit ihrem verdammten selbstgebrauten Ale.

Es war merkwürdig. Sie begann wirklich, Ragnar zu mögen. Obwohl ihre Mutter ihn auch zu mögen und ihre Schwester ihn zu respektieren schien.

Sie kicherte ein wenig vor sich hin, und der große Körper, der auf ihr lag, bewegte sich, rollte herunter und streckte sich.

Sie drehte sich auf die Seite und sagte heiser schnurrend: »Guten Morgen, Lord Ragnar.«

Sein Lächeln war schläfrig, seine dunkellila Haare hingen ihm als wilde Mähne ums Gesicht.

Dann wachte er vollends auf und sah nur noch panisch aus.

Keita fiel kichernd zurück aufs Bett.

»Wie bin ich in dein Bett gekommen?«

»Ich habe nett gefragt und du hast ja gesagt.«

Er hob die Felldecke auf seinem Körper an. »Und warum bin ich nackt?«

»Du stellst morgens viele Fragen. Bist du dir sicher, dass das weise ist, wenn du es mit mir zu tun hast?«

»Stimmt auch wieder.« Er setzte sich auf und gähnte. »Wie fühlst du dich?«, fragte er.

»Überraschend gut in Anbetracht der Umstände.« Sie drückte ihm die Schulter. »Und danke für gestern Nacht.«

Er schaute die Hand an, die ihn berührte, dann sah er ihr ins Gesicht. »Sehr gerne.«

»Ihr Götter«, sagte sie und schleuderte das Fell von ihrem Körper. »Du hast echt eine Stimme so früh am Morgen.«

»Ach ja?«

»Aye. Die Art, die mich in alle möglichen Schwierigkeiten bringen kann, wenn ich nicht aufpasse.« Keita ging zu ihrem Toilettentisch hinüber und schnappte sich das kleine Gefäß, das jemand am Abend zuvor dort hingestellt hatte. Sie hatte es sofort bemerkt, als sie ins Zimmer gekommen waren, aber sie war zu müde gewesen, um sich damit zu beschäftigen. »Bringen wir es hinter uns, ja? Damit die Qual ein Ende hat.«

»Was für eine interessante Art du hast, Sex vorzuschlagen«, bemerkte er trocken. »Das macht mich ganz kribbelig.«

Keita kehrte zum Bett zurück und kletterte auf Ragnars Schoß, sodass nur noch eine Felldecke Keitas nackten Hintern vom nackten Geschlecht des Warlords trennte. »Ich rede nicht davon, mit dir zu schlafen. Zumindest … noch nicht.« Sie hielt das Gefäß hoch. »Das Gegenmittel.«

»Den Göttern sei Dank.«

Sie hielt einen Dolch hoch und genoss es, wie Ragnar erschrocken die Augen aufriss. »Und jetzt lieg einfach still.«

Er schnappte ihre Hand, die den Dolch hielt. »Gibt es keinen anderen Weg?«

»Zu deinem Leidwesen nicht.«

»Dann lass es mich machen.«

»Sei nicht so ein Küken. Ich weiß, was ich tue.«

»Da bin ich mir sicher.« Er entwand ihr den Dolch. »Aber das beruhigt mich nicht im Geringsten.«

Ragnar drückte die Klinge auf die Wunde auf seiner Brust und hielt mit finsterem Blick in den blauen Augen inne. »Und hör auf, auf meinen Lenden herumzurutschen.«

»Oh. Das war mir gar nicht bewusst.«

»Lügnerin.« Sie war eindeutig eine Lügnerin.

Mit einer raschen Handbewegung öffnete er die alte Wunde, Keita strich eine ordentliche Portion von der Salbe darauf: viel davon in die Öffnung und auch eine dicke Schicht auf die Umgebung.

»Fertig.«

Ragnar nickte und sorgte mit einem Zauber dafür, dass sich die Wunde wieder schloss und die Salbe in die Haut einzog.

Mit einem Lappen wischte Keita das bisschen Blut weg und reinigte ihre Hände und den Dolch. »Das müsste genügen«, sagte sie und glitt von seiner Hüfte, um alles wieder zurück auf den Toilettentisch zu stellen.

»Ich hoffe es. Dieses verdammte Ding macht mich schon seit zwei beschissenen Jahren wahnsinnig.«

»Du armes Ding, du.«

»Ich habe absolut keine Reue in dieser Aussage gehört.«

Sie ging ums Bett herum und streckte sich wieder neben ihm aus. »Das liegt daran, dass keine Reue darin lag.«

Die beiden starrten sich einen Augenblick an, bevor Ragnar den Kopf schüttelte und seine Beine über die Bettkante hob. »Ich sollte gehen.«

»Na gut.«

Ragnar stand auf und bedeckte seine Vorderseite mit der Felldecke. Keita streckte gerade die Hand aus, um den unglaublich aussehenden Hintern des Warlords zu umfassen, als sie eine der Dienerinnen mit dem heißen Wasser für ihr morgendliches Bad an der Tür hörte. Statt seines Hinterns schnappte Keita nach dem Fell, das Ragnar hielt und riss es ihm im selben Moment weg, als die Dienerin hereinkam, die einen Blick auf den nackten Warlord warf, eilig wieder hinausging und die Tür schloss.

Keita grinste über den finster dreinblickenden – und ihr Götter! Wird er etwa rot? – Drachen.

»Und so beginnt es, Mylord.«

 

Annwyl wünschte, sie hätte sagen können, dass sie schon vor Aufgang der zwei Sonnen wach war, weil sie einfach eine Frühaufsteherin war. Doch jeder, der sie kannte, wusste, was für eine Lüge das gewesen wäre. Stattdessen war sie wach und fürs Training angezogen, weil sie wieder diesen Albtraum gehabt hatte. Der Albtraum, von dem sie sehr wenigen erzählte, weil sie nicht wusste, ob er von einem allgemeinen Gefühl der Angst um ihre Kinder ausgelöst wurde oder weil sie plötzlich angefangen hatte, prophetische Träume zu haben. Sie hatte ihn nicht einmal Fearghus erzählt. Wie konnte sie auch, nachdem er so viel durchgemacht hatte? Sie ertappte ihn immer noch dabei, wie er sie auf eine Art ansah, die ihr sagte, dass er sich immer noch an sie auf dem Totenbett erinnern konnte, nachdem die Kinder geboren waren. Und dass er fürchtete, sie wieder dort zu finden. Nein, sie würde ihm nicht noch mehr zumuten. Nicht, wenn er absolut nichts gegen ihre Albträume tun konnte. Und sie wusste tief in ihrem Inneren, dass er nichts tun konnte.

So oder so: Das Fazit war, sie konnte nicht schlafen. Also hatte sie ihr warmes Bett – und ihren noch wärmeren Gefährten – verlassen und machte sich auf den Weg nach draußen. Vorsichtig und leise schloss sie die Tür hinter sich und ging zum Nebenraum. Sie trat ein und lächelte das Baby an, das schon wach war und aufrecht in seinem Kinderbettchen stand.

»Wie geht es meiner kleinen Rhianwen heute Morgen?«, fragte Annwyl ihre Nichte. Sie hob sie aus ihrem Bettchen. »Kannst du auch nicht schlafen, Kleine? Im Gegensatz zu deinen Vettern?« Annwyl warf einen Blick hinüber zu ihren schnarchenden Zwillingen. Sie schliefen zurzeit in verschiedenen Betten, weil es nicht anders ging. Zu oft war Annwyl in schonungslose Faustkämpfe zwischen den beiden hineingeplatzt, als sie sich noch ein Bettchen teilten. Und das letzte Mal, als sie versucht hatte, sie zu trennen, hatte sich ihr Sohn geduckt, und ihre Tochter hatte Annwyl eine Rechte verpasst, dass sie Sterne gesehen hatte. Danach waren die kleinen Scheusale ein für alle Male getrennt worden.

Sie hatten außerdem versucht, Rhianwen in ein eigenes Zimmer zu legen, aber alle drei Babys hatten geschrien, bis sie wieder zurückgebracht wurde. Seit damals hatte keiner der Erwachsenen noch einen Versuch gemacht, sie zu trennen.

Eine winzige Hand streckte sich und streichelte Annwyls Wange. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Annwyl dem herzzerreißend besorgten kleinen Gesicht. »Ich komme schon zurecht. Du musst dir keine solchen Sorgen machen.« Aber sie wusste, dass Talaiths und Briecs kleines Mädchen sich trotzdem Sorgen machte. Da war etwas an ihr, das praktisch schrie: »Ich mache mir Sorgen um alle

»Wir müssen dir beibringen zu lächeln, Kleine«, sagte Annwyl, bevor sie sie zurück in ihr Bettchen setzte. »Dein Vater dreht deswegen noch völlig durch.« Sie zog die Decke um das Baby, beugte sich vor und küsste es auf den Kopf. »Schlaf noch ein bisschen.«

Annwyl drehte sich zu ihren eigenen Kindern um. Ihr Sohn, der sogar im Schlaf grinste, und ihre Tochter, die Fearghus so ähnlich sah, dass es Annwyl im Herzen wehtat. Sie wusste, die meisten Mütter sorgten immer dafür, dass sie da waren, wenn ihre Kinder aufwachten. Sie fütterten sie an jedem einzelnen Morgen und halfen ihnen, alle möglichen neuen Dinge zu lernen. Das taten die meisten Mütter.

Annwyl dagegen küsste die beiden schlafenden Köpfe und trat mit den beiden Schwertern auf dem Rücken von ihren Betten zurück. Denn statt all diese wunderbaren Dinge für ihre Kinder zu tun, würde sie trainieren. Sie würde trainieren, bis ihre Muskeln schmerzten und ihr Körper sich ausgelaugt anfühlte. Sie würde trainieren, bis sie aus versehentlich geschlagenen Wunden blutete und ihr Kopf vor Treffern pochte. Sie würde trainieren, bis sie wusste, dass sie es mit allem aufnehmen konnte, egal was für Gräuel ihre Kinder holen kommen wollten. Dass sie kämpfen konnte, bis außer ihr und ihren Babys nichts mehr stand.

Annwyl bekämpfte ihren Drang, Schuldgefühle zu haben, und wandte sich zur Tür, blieb aber abrupt stehen.

»Morfyd? Was tust du hier drin?«

Morfyd gähnte und streckte die Arme über den Kopf. »Ich passe nur auf sie auf. Es ist nichts.«

»Wo ist das neue Kindermädchen?«

»Annwyl …«

»Wo ist sie?«

»Fort.«

»Warum? Was ist passiert?«

»Ist das wichtig?«

»Die Tatsache, dass wir kein verdammtes Kindermädchen hier halten können, macht es wichtig.«

»Ich werde eine Lösung finden.«

»Fearghus will keine Drachen, die nicht zur Familie gehören. Er traut den anderen nicht«, erinnerte sie Annwyl.

»Ich weiß.«

»Und die Frauen aus eurer Linie sind nicht gerade Kindermädchen-Material.«

»Ich habe Nachrichten an ein paar meiner jüngeren Cousinen geschickt, die nicht vorhaben, Kriegerinnen zu werden, und …«

»Wenn sie zu jung sind, wird das Fearghus auch nicht gefallen.«

»Ich kümmere mich um Fearghus.« Morfyd deutete auf die Tür. »Geh. Trainier ein bisschen.«

Weil es sinnlos war, ihr zu widersprechen, ging Annwyl zur Tür hinaus und schloss sie leise. Dann stapfte sie los. Bevor sie an der Treppe war, ging eine andere Schlafzimmertür auf, und Dagmar kam heraus. Sie nahm Annwyls Arm.

»Was ist los?«

»Wir haben schon wieder ein Kindermädchen verloren, oder?« Annwyl schaute an Dagmar vorbei auf den nackten Mann, der ausgestreckt mit dem Gesicht nach unten und bis auf den Boden fallendem goldenem Haar auf dem Bett im Raum hinter ihr lag. »Wie erträgst du diesen Krach?«

Dagmar schloss die Tür, aber das dämpfte das Schnarchen nur wenig. »Es ist unglaublich, was man für die Liebe alles erträgt.«

»Ich glaube nicht, dass ich das für irgendwas ertragen könnte.«

»Wahrscheinlich nicht. Aber ich möchte dich bitten, die Kindermädchen-Situation mir und Morfyd zu überlassen.«

»Sie versucht, eine ihrer jüngeren Cousinen dazu zu überreden. Fearghus wird das nicht …«

»Welchen Teil von ›Wir kümmern uns darum‹ hast du nicht verstanden, Mylady?«

»Sei nicht gleich eingeschnappt, Barbarin. Es sind meine kleinen Scheusale, die die Dorfbewohner in die Flucht schlagen.«

»Sie sind lebhafte, lebenslustige Kinder, die lediglich ein gutes, solides und treues Kindermädchen brauchen, um sie zu erziehen.«

»Du meinst im Gegensatz zu Dämonen aus der Unterwelt, die einen guten, soliden Exorzismus brauchen?«

»Musst du so sein?«

»Ich weiß nicht, wie ich sonst sein soll.«

»Annwyl, vertrau mir einfach, ja? Ich …« Hinter Annwyl ging eine Tür auf, und Dagmars Augen hinter den kleinen runden Glasstücken, die sie trug, weiteten sich.

Mit einer Hand nach ihrem Schwert greifend, wirbelte Annwyl herum. Dann ließ sie die Hand sinken, und ihr Mund blieb offen stehen.

Der lilahaarige Drache stand in Keitas Schlafzimmertür, sein Hemd über die Schulter geworfen, die Hand auf der Türklinke, den Blick auf Dagmar gerichtet.

»Ragnar?«, flüsterte Dagmar. Annwyl glaubte, dass er es war, aber sie konnte den einen lilahaarigen Mistkerl nicht vom anderen unterscheiden. Sie sahen für sie alle gleich aus. Nur ein Kopf mehr, der darum flehte, abgeschlagen zu werden.

»Äh … Lady Dagmar.«

Das arme Ding sah ertappt aus und machte sich bereit, zurück ins Zimmer zu springen. Doch Keita riss die Tür weit auf. Sie trug nur eine Felldecke um den Körper gewickelt, ihr normalerweise glattes und fließendes dunkelrotes Haar war jetzt ein Durcheinander aus ungekämmten Locken und Knoten.

»Du hast das hier vergessen.« Keita drückte dem Drachen eine Reisetasche in die Hände, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Wir sehen uns später«, murmelte sie. »Jetzt geh.«

»Keita …«

»Was?«

Ragnar deutete auf Annwyl und Dagmar, und Keita warf einen Blick hinüber. Statt zu grinsen, wie sie es vor ein paar Jahren getan hatte, als Annwyl Danelin, Brastias’ Stellvertreter, erwischt hatte, als er versuchte, aus Keitas Zimmer zu schleichen, riss die Drachin die Augen auf. Sie sah beinahe panisch aus. Seltsam, denn Annwyl konnte sich nicht erinnern, Keita jemals wegen irgendetwas panisch erlebt zu haben.

»Äh … Annwyl. Dagmar. Guten Morgen euch beiden.« Ihr Lächeln war gezwungen, spröde. Sie stieß Ragnar an, und er ging widerstrebend.

Als er weg war, flüsterte Keita: »Ihr sagt es doch keinem … oder?«

Jetzt war Annwyl endgültig verwirrt, denn normalerweise schlug Keita in solchen Fällen vor: »Sorg dafür, dass meine Schwester alle Einzelheiten erfährt. Sag Bescheid, wenn du Zeichnungen brauchst!«

Wollte sie das wirklich verbergen? Und wenn ja … warum?

»Wir sagen es keinem«, sagte Annwyl, denn sie hatte ihre eigenen Geheimnisse.

»Danke.« Dann schlüpfte Keita zurück in ihr Zimmer und schloss die Tür.

»Ist denn keiner sicher vor diesem Weib?«, fragte Dagmar.

Annwyl zuckte die Achseln, denn sie hatte keine Antwort darauf, und ließ Dagmar auf Keitas geschlossene Tür starrend stehen. Sie ging hinunter in den Rittersaal, wo sie das Frühstück schon vorbereitet und die zwei anderen Nordland-Drachen essend am Tisch vorfand.

Sie ging hinüber und ließ sich ihnen gegenüber auf einen Stuhl fallen. Sie sagte nichts, bis sie ihren eigenen Teller gefüllt hatte und zu essen begann. Dann fragte sie: »Habt ihr beide gut geschlafen?«

Sie nickten und aßen weiter. Ein paar Jahre vorher hätte sie das vielleicht beleidigt. Aber nach der Nordland-Schlacht, in der sie neben dem mächtigen Reinholdt und seinen Söhnen gekämpft hatte, wusste sie, dass es so war, wenn Nordland-Krieger aßen.

»Und wie geht es deinem Bein, äh …«

»Meinhard, Mylady«, antwortete einer von beiden und schaffte es, gleichzeitig weiterzukauen. Wenn sie sich ihre Namen merken wollte, musste sie ein Unterscheidungsmerkmal finden, vor allem, weil die Haare des Zweiten irgendwann nachwachsen würden.

»Nenn mich Annwyl.«

»Wie du willst.«

»Und dein Bein?«, hakte sie nach.

»Besser. Ist über Nacht ganz gut geheilt.«

»Das ist perfekt.« Sie liebte es, dass Drachen mit Hilfe einer Hexe oder eines Magiers so schnell heilen konnten. »Ich wollte ein bisschen trainieren gehen – ihr beide könntet mitmachen.«

Sie hielten in ihrer Nahrungsaufnahme inne und hoben die Köpfe. Genau wie zwei Ochsen am Wasserloch, die in der Nähe ein Raubtier erschnüffeln.

Was sollte Annwyl sagen? Der Unterschied war nicht groß.

»Ich weiß nicht recht, ob das so eine gute Idee ist, Königin Annwyl«, antwortete der mit den kurzen Haaren, und Annwyl musste lachen. Sie hasste es, wenn Leute diesen dummen Titel benutzten, aber sie wusste, dass er es aus einem einfachen Grund tat: um darauf hinzuweisen, dass ein Kampf mit einer Königin, die schon einmal versucht hatte, ihm den Kopf abzuschlagen, vielleicht nicht die klügste Entscheidung war. Normalerweise hätte er recht gehabt, aber sie standen unter Éibhears Schutz, und ihr Bruder vögelte – heimlich zumindest – Keita. Solange sich daran nichts änderte, würde Annwyl sich nicht die Mühe machen, sie zu töten.

»Wir werden den Übungsplatz direkt um die Ecke des Gebäudes benutzen. Und ich verspreche, dass ich nichts, was auf diesem Platz passiert, euch, eurem Bruder oder eurem Volk übelnehmen werde.«

»Warum wir?«, fragte der andere Ochse. Er trug eine Narbe von seinem Haaransatz bis unters Auge. Sie war mit der Zeit schwächer geworden, aber sie war klar genug zu erkennen, dass sie sich merken konnte, dass »Augennarbe« Meinhard war, und das bedeutete, dass der andere … äh … Mist. Wie war sein Name noch mal?

Statt ihn danach zu fragen – sie hatte versucht, ihm den Kopf abzuhacken, aber sie konnte sich einfach seinen Namen nicht merken … wie schäbig –, gab sie zu: »Im Moment will keiner mit mir trainieren. Selbst die Südland-Drachen nicht. Es sei denn natürlich, Nordland-Drachen hätten ebenfalls zu viel Angst vor mir, um das Risiko einzugehen …«

Meinhard grinste höhnisch mit vollem Mund, während der andere die violetten Augenbrauen hochzog.

Sie wusste, wie sie das vollends unter Dach und Fach bringen konnte, und fügte hinzu: »Hättest du außerdem nicht gern eine Chance auf eine Revanche wegen deiner Haare?«

Als sie Reißzähne sah, wusste sie, sie hatte sie beide.

 

Keita tänzelte die Treppe zum Rittersaal hinunter und hüpfte von der letzten Stufe. Bisher hatten es nur Gwenvael, Dagmar, Morfyd und Talaith nach unten zum Frühstück geschafft. Keita, die darauf achtete, dass ihr Lächeln besonders breit und strahlend war, breitete die Arme aus und jauchzte: »Guten Morgen, meine liebe Familie!«

»Du vögelst Ragnar den Listigen?«, brüllte Gwenvael sie an.

Keita ließ die Arme sinken, schaute wütend zu Dagmar hinüber und hoffte, angemessen enttäuscht über ihren Verrat auszusehen. »Du hast mir versprochen, nichts zu sagen.«

Gwenvael richtete seinen finsteren Blick wieder auf seine Gefährtin. »Du wusstest es?«

»Ich weiß vieles.«

»Du wusstest es?«

»Schrei mich nicht an, Schänder!«

Keita war überrascht, dass die Tochter des Warlords nichts gesagt hatte. Aber das war gut. Das Gerücht breitete sich noch schneller aus, als sie gedacht hatte, und Dagmar konnte man offenbar vertrauen. Hervorragend.

»Bist du nicht in der Lage« – Morfyd schob ihren Stuhl zurück, stand auf und kam um den Tisch herumstolziert – »deine Beine einfach geschlossen zu halten, Schwester?«

»Nicht in der Lage? Doch. Aber warum sollte ich? Er ist hinreißend.«

»Er ist ein Blitzdrache«, erinnerte sie Gwenvael. Und Keita musste zugeben, dass sie ein bisschen schockiert war. Sie hätte nie gedacht, dass ausgerechnet Gwenvael einer derjenigen sein würde, die sich darüber aufregten. Wen sie vögelte, hatte ihren goldenen Bruder nie besonders interessiert, solange es keine Probleme gab.

»Ja. Ist er. Genau wie die Schlampen, die du während des Krieges gevögelt hast, der dir den Namen Schänder eingebracht hat.«

»Es heißt Verderber! Und ich habe nie versucht zu verbergen, was ich getan habe. Warum tust du es dann?«

»Ich habe keine Zeit für so etwas.« Keita steuerte auf die Tür des Rittersaals zu, die offen stand und den Blick auf die Freiheit des frühen Morgens freigab. Doch in dem Moment, als sie nach draußen trat, schnappte Gwenvael sie am Arm und drehte sie herum.

Zumindest glaubte sie, es sei Gwenvael. Gwenvael, der viel größer war als Keita, sodass sie, als sie ihren Arm nach ihm schwang und ihn schlug, eigentlich nur seine Seite treffen und wenig Schaden anrichten sollte.

Zu dumm nur, dass es nicht Gwenvael, sondern Morfyd war, die nach ihr gegriffen hatte. Und Morfyds Gesicht war genau auf der Höhe von Keitas offener Handfläche.

Das Geräusch hallte auf dem Hof wider, und Morfyds Wange verfärbte sich rot, wo Keitas Hand sie getroffen hatte.

Es folgte ein kurzes, benommenes Schweigen von beiden, während die arme Dagmar auf sie zueilte und schrie: »Nein, nein, nein …«

Aber es war zu spät. Viel zu spät. Kreischend rissen sie sich gegenseitig an den Haaren und stolperten die Stufen hinab, während sie versuchten, die jeweils andere zu treten und ihr gleichzeitig jede einzelne Haarsträhne auszureißen.

Dagmar versuchte verzweifelt, sie zu trennen; die menschlichen Wächter waren so weise, sich nicht in den Kampf zweier Drachinnen einzumischen, die sich jeden Moment verwandeln und sie dabei zerquetschen konnten.

»Hört auf!«, schrie Dagmar und versuchte, sie mit ihren winzigen Menschenhänden auseinanderzuziehen. »Hört sofort auf!«

Es war seltsam, dass Keita mitten in einer Schwesternschlägerei, wie Gwenvael es immer nannte, außer ihren und Morfyds Schreien überhaupt etwas hören konnte, aber sie hörte es. Eine vertraute Stimme, die über den Hof zu ihr herüberdrang.

»Warte!«, flehte die Stimme. »Könntest du einfach warten? Bitte!«

Keita wollte sich von ihrer Schwester lösen, um zu sehen, was los war, aber Morfyd ließ nicht los.

Doch dann hatten sie keine Wahl mehr, denn ein unglaublich starkes – und Keita schätze, unglaublich geladenes – Wesen riss die beiden mit einem Ruck auseinander und schubste sie in verschiedene Richtungen, bevor es einfach zwischen ihnen hindurchging.

Keita schaute auf ihre Fäuste, mit denen sie immer noch weiße Haarsträhnen umklammerte, dann hob sie den Blick und ihr Mund blieb offen stehen, als sie die ganzen roten Strähnen in Morfyds Händen sah.

Rasend vor Wut brüllte sie: »Du …«

»Izzy! Warte bitte!«

Der Ruf unterbrach Keita, und sie konnte nur starren, als Keitas junge Cousine Branwen an ihnen vorbeischoss, während sie sich gleichzeitig abmühte, sich Kleider über ihre menschliche Gestalt zu streifen.

»Bei aller Vernunft …«, begann Dagmar.

»… das war Izzy?«, endete Keita.

»Es ist zwei Jahre her, seit wir sie zum letzten Mal gesehen haben«, sagte Morfyd, »aber …«

Die drei sahen sich ungläubig an, dann ließen Keita und Morfyd die Haarsträhnen fallen und rannten die Treppe hinauf, und Dagmar Reinholdt drängelte sich an den beiden vorbei und war noch vor ihnen im Saal.