9 Trotz ihres kurzen Ausflugs auf den Jahrmarkt kamen sie gut voran, erreichten die Stelle, wo sie die Nacht verbringen wollten, und waren am nächsten Tag noch vor Sonnenaufgang wieder unterwegs. Gegen Nachmittag landeten sie schließlich auf die Bitte des Ostland-Drachen hin eine Wegstunde außerhalb der südländischen Grenzstadt Fenella. Es sollte eine kurze Pause werden, eine für Essen und Wasser, aber dann marschierte Ihre Majestät mit ihrem Ostland-Gefährten davon – in Menschengestalt. Schon wieder in einem neuen Kleid. Wo nimmt sie bloß die ganzen Kleider her?
»Wo geht deine Schwester hin?«, fragte Ragnar den Blauen.
»Ich weiß nicht.«
»Hast du mal daran gedacht zu fragen?«
»Nein.«
»Machst du dir keine Sorgen?«
»Nein.«
Ragnars Klauen zuckten und wollten sich zu gern um die Kehle des Prinzen legen, doch das wäre eine Verschwendung eines sehr guten Baumfällers gewesen. »Besorg uns etwas zu essen.«
»Alles klar«, entgegnete der Blaue fröhlich und machte sich auf, um eine Herde Schafe zu reißen, an der sie auf dem Weg hierher vorbeigekommen waren.
»Meinst du, er könnte dich noch mehr nerven?«, fragte Vigholf kichernd.
»Ich glaube nicht.«
»Du bist zu streng mit ihm. Er ist ein Welpe. Wir waren auch mal so. Na ja … du vielleicht nicht, aber ich. Und Meinhard. Das wächst sich aus.«
Meinhard ließ seine Halswirbel knacken, dass es in der ganzen Schlucht widerhallte. »Und, gehst du ihr nach?«
»Sie hat ihren kleinen ausländischen Schoßhund dabei – wozu braucht sie da mich?«
»Da klingt aber einer verbittert. Und du bist schon so, seit du mit ihr vom Jahrmarkt zurückgekommen bist. Warum? Was ist passiert?«
»Nichts.« Und das war die absolute Wahrheit. Nichts war passiert, als sie wiederkamen. Stattdessen hatte die Prinzessin den Rest des wertvollen Abends damit verbracht, mit ihrem ausländischen Verbündeten zu reden, womit Ragnar ganz einverstanden war. Er hatte keine Zeit für die Prinzessin und ihre Spielchen. »Und ich bin nicht verbittert. Ich bin vorsichtig. Das solltet ihr auch sein. Lasst euch nicht von einem hübschen Lächeln und einem flinken Schwanz täuschen.«
»Du bist so schwanzfixiert«, sagte Vigholf.
»Ich versuche, dir einen Rat zu geben, Bruder.«
»Und vergiss ihr hübsches Lächeln nicht, Vigholf. Ich erinnere mich nicht, dass einer von uns ein hübsches Lächeln erwähnt hätte«, schaltete sich Meinhard ein.
Frustriert verlangte Ragnar zu wissen: »Wovon redet ihr zwei da?«
Vigholf tätschelte Ragnars Schulter. »Wir verstehen dich, Bruder. Ehrlich. Wir kommen alle mal an einen Punkt, wo wir daran denken, sesshaft zu werden.«
»Sesshaft werden? Mit ihr?« Das würde nie passieren. Und nicht nur, weil sie es als eine Art unerträgliche Knechtschaft betrachtete, jemandes Gefährtin zu werden. Als sich Ragnar in der vergangenen Nacht von einer Seite auf die andere geworfen hatte, weil er nicht schlafen konnte, wenn die Drachin ihm so nahe war, war ihm bewusst geworden, was für ein Fehler jede Art von Beziehung mit ihr wäre. Warum? Weil sie etwas ausheckte. Er wusste es. Ihr Bruder wusste es. Dieser Ostländer wusste es definitiv auch. Die Einzigen, die keine Ahnung zu haben schienen, waren seine verdammten Verwandten.
»Aber du hast selbst gesagt, Bruder, dass sie einen flinken Schwanz hat.«
»Und dieses hübsche Lächeln mit diesen perfekten Reißzähnen.«
»Ich habe nichts über ihre Reißzähne gesagt.«
»Aber sie sind perfekt, und ich bin mir sicher, dass dir das wichtig ist.«
Jetzt hatte Ragnar endgültig genug, schnappte sich seine Tasche, machte sich auf den Weg zur Stadt und verwandelte sich im Gehen.
»Du verlässt uns doch nicht, Vetter, oder?«
»Wenn du in die Stadt gehst, solltest du vielleicht eine Heilerin nach deiner Brust sehen lassen, Bruder. Dieses ganze Gekratze in letzter Zeit kann nicht gut sein«, sagte Vigholf.
»Es könnte ein Schuppenpilz sein«, fügte Meinhard hinzu.
»Und deiner bezaubernden Prinzessin mit dem hübschen Lächeln und dem verführerischen Schwanz würde das gar nicht gefallen.«
»Das ist nämlich ansteckend!«
»Oh! Ah! Ragnar! Das war jetzt aber eine unfeine Geste!«
Ren trennte sich von Keita, sobald sie im Zentrum der kleinen Stadt Fenella waren, die einige der besten Universitäten, Magierschulen und Hexengilden der Südländer besaß. Hier war es gewesen, wo sich sowohl das Schicksal von Ren als auch das von Keita vor mehr als einem Jahrhundert dramatisch geändert hatte. Und hierhin kamen sie immer zurück, wenn sie Antworten brauchten.
Und die Götter wussten, das sie Antworten brauchten – und zwar schnell.
Ren gab dem Juwelier die Halskette, die der Nordländer in Esylds Haus gefunden hatte. Der Juwelier war ein alter Mann, der sein Handwerk sehr gut verstand. Und während der Mensch seine Arbeit machte, lehnte sich Ren zurück und ließ seine Gedanken schweifen und seine Energie sich in der Stadt ausbreiten, um sicherzugehen, dass alles gut war. Er lächelte ein wenig, als er sah, dass Keita ihren alten Ausbilder gefunden hatte. Ein Elf namens Gorlas. Ren selbst war nie ein großer Fan der Elfen gewesen. Ja, sie konnten gut mit Bäumen und mit dem Land umgehen, genauso gut wie Rens Volk, aber bei den Göttern, sie konnten manchmal so eingebildete Mistkerle sein! Für die meisten von ihnen waren Drachen nichts weiter als riesige Echsen, die gefügig gemacht werden mussten. Wie Keita es geschafft hatte, einen der wenigen Elfen zu finden, die fast alle Kreaturen respektierten, erstaunte Ren. Aber wenn es ein Wesen gab, das die Ausnahme zu jeder Regel finden konnte, dann war das Keita.
Jetzt, wo er wusste, dass sie in Sicherheit war, erkundete Ren weiter die Umgebung und rammte direkt gegen eine Schutzbarriere. Von seinem Platz im Juweliergeschäft aus fühlte er um die Barriere herum. Es war eine relativ kleine, und sie bewegte sich, was bedeutete, dass sie eher eine Einzelperson als ein Gebäude oder eine der vielen geheimen Gilden beschützte, die es hier gab. Dennoch war er noch nicht vielen begegnet, die ihn ausschließen konnten. Keitas Mutter und Schwester waren zwei davon, aber sie waren beide weiße Drachenhexen. Ihre Macht war legendär, selbst in seinem Heimatland.
Indem er mehr von seiner Macht einsetzte, schaffte er es, einen Riss in die Barriere zu reißen, und zog sie weit genug auf, damit sein Sein hineinschauen konnte. Ein Mönch? Ein Mönch schaffte es, Ren von den Auserwählten auszuschließen?
Doch dann drehte der Mönch langsam den Kopf und sah direkt das an, was er nicht hätte sehen können dürfen. Er sah Ren mit blauen Augen an, die so kalt waren wie die Berge, aus denen dieser Drache kam.
Es schien, dass Ren nicht der Einzige war, der die alte Magie benutzte, um den wahren Grad seiner Macht zu verbergen, und er konnte nur noch denken: der Nordländer, bevor der Blitzdrache die Hand hob und Rens Sein mit einem Fingerschnippen in seinen Körper zurückbeförderte.
Ren wurde nach vorn gerissen, die Brust über die Knie gebeugt, und rang keuchend nach Luft, während der Juwelier ihn beobachtete, aber keine Anstalten machte, ihm zu helfen.
»Keita«, keuchte Ren, »wird nicht glücklich sein, wenn sie herausfindet, dass dieser Mistkerl uns gefolgt ist.«
Und dann lachte er, denn es war lange her, seit es jemand geschafft hatte, ihn zu überraschen – und dann ausgerechnet ein Barbar.
Keita suchte schon seit fast zwanzig Minuten in Fenellas größter Buchhandlung nach ihrem alten Freund und Mentor Gorlas und war kurz davor aufzugeben. Vielleicht war er mal kurz rausgegangen.
Bei der Erinnerung an ihr Jahr an der Universität hier musste Keita lächeln. Sie war als Mensch hergekommen, ihre Mutter hatte sie in der Hoffnung weggeschickt, dass ihre jüngste Tochter noch andere Talente haben möge, als die Söhne und Enkel der Ältesten zu verführen. Obwohl Keita ein wundervolles Jahr hier verbracht hatte, hatte sie nicht viele Kurse besucht – bis auf den einen bei diesem äußerst attraktiven Professor. Als man sie dann natürlich über den Schreibtisch dieses Professors gebeugt erwischt hatte, ihre Robe über den Kopf geworfen … na ja, da war das alles zu Ende gewesen, nicht wahr?
Aber wann war das noch gleich gewesen? Vor fünfundsiebzig Jahren? Plus/minus ein paar Jahre. Und der sehr attraktive Professor war vor fast zwanzig Jahren an Altersschwäche gestorben.
Es war Keitas kleines Geheimnis, aber das liebte sie so an den Menschen. Nach kurzer Zeit verließen sie diese Welt und gingen in die nächste hinüber, während schnell neue nachkamen, die sie ersetzten – ganz anders als bei den Drachen, mit denen Keita im Bett gewesen war und die ihr nach einem halben Jahrhundert immer noch lange Bekundungen ihrer unsterblichen Liebe schickten und was für großartige Väter sie für ihren Nachwuchs abgeben könnten, blablabla. Sie schämte sich nicht, es zuzugeben: Wenn ihre Verflossenen ein bisschen zu aufdringlich wurden, hatte sie keine Probleme damit, ihre Brüder oder ihren Vater auf sie loszulassen. Zumindest verloren sie dann nur einen Flügel oder einen Fuß. Sie selbst hätte nicht versprechen können, so nett zu sein. Keita mochte es nicht, wenn man sie bedrängte.
Sie beschloss, es noch einmal im ersten Stock zu versuchen, und kehrte zu den Treppen zurück, als sie einen Knall hörte, gefolgt von einem »Götterverdammt!«.
Keita ging zum Informationstisch hinüber und um ihn herum, fand aber niemanden. Dann ließ sie den Blick über die runden Tische schweifen, an denen normalerweise jeden Abend dicht gedrängt die Studenten saßen, und da hörte sie das Niesen. Sie kauerte sich auf den Boden und schaute unter die Tische.
»Was tust du da?«, fragte sie.
Der Elf, der inmitten von Büchern unter dem Tisch saß und sich die Nase putzte, schaute auf. »Keita?«
»Findest du es gemütlich da unten, Mylord?«
»Keita!« Der Elf versuchte aufzustehen, stieß sich den Kopf und setzte sich wieder.
»Oh, Gorlas! Mein Herz! Hast du dir wehgetan?« Lachend krabbelte sie unter mehreren Tischen hindurch, um zu ihm zu gelangen.
Er schmollte, und sie zog seinen Kopf an ihre Brust und streichelte die Stelle, wo er sich gestoßen hatte. Wenn man den Gerüchten glauben wollte, war Gorlas fast tausend Jahre alt, aber er sah aus wie ungefähr fünfunddreißig. »Dein armer Kopf. Ich weiß nicht, wie er diese Misshandlung aushält.«
»Nicht nur Drachen haben harte Schädel, meine liebe Keita. Wir Elfen sind dafür berühmt.« Er drückte sie ein wenig von sich weg und musterte sie. »Was tust du hier?«
»Ich suche Informationen.«
»Worüber?«
»Über meine Tante. Esyld.«
»Oh. Natürlich.« Gorlas rieb sich den schmerzenden Kopf. »Hast von ihrem Liebhaber gehört, was?« Und als Keita ihn nur ansah, schwand sein Lächeln und er fügte hinzu: »Oh … vielleicht auch nicht.«
»Bruder Ragnar!«
»Bruder Simon.« Ragnar ließ sich von dem menschlichen Mönch umarmen. »Es ist lange her, Bruder.«
»Das ist es. Das ist es.« Simon trat einen Schritt zurück und runzelte die Stirn. »Gute Götter, Mann, du hast dich in den vierzig Jahren überhaupt nicht verändert!«
»Ein Segen unserer Schutzgötter, Bruder. Sie waren mir gnädig.«
»Das sehe ich.« Simon schüttelte den Kopf und bot Ragnar einen Stuhl in seinem Arbeitszimmer an.
Ragnar, der Sorge hatte, dass der wacklige Holzstuhl seine menschliche Gestalt nicht tragen könnte, setzte sich vorsichtig. Im Moment trug er die Kutte des Ordens des Wissens. Ein bekannter und mächtiger Nordland-Orden, dessen Mitglieder ihre geliebte Bibliothek in Spikenhammer selten verließen. Und da Bruder Simons Orden der Scheinenden Sonnen selten weiter als bis zu den Stadtgrenzen von Fenella reiste, fühlte sich Ragnar immer sicher, wenn er sich als Wissensmitglied ausgab. Er hatte in seinen mehr als zweihundert Lebensjahren herausgefunden, dass es oft am sichersten war, als Mönch zu reisen. Räuber und Diebe behelligten ihn oder seine Mitreisenden selten, denn Mönche waren bekanntermaßen arm, und es ging ihnen nur um ihre Götter und um ihre Frömmigkeit.
»Und was führt dich her, Bruder?«, fragte Simon und hob fragend eine Weinkaraffe in die Höhe.
»Nein danke, Bruder. Und ich bin eigentlich nur auf der Durchreise. Aber ich hatte tatsächlich eine Frage, und ich wusste, dass du derjenige bist, der sie vielleicht beantworten kann. Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast, Bruder.«
»Aber selbstverständlich nicht, Bruder!«
Vierzig Jahre, und abgesehen von seinem Äußeren hatte Simon sich nicht verändert. Er genoss es so sehr, die Quelle allen Wissens zu sein, dass er nie allzu viel darüber nachdachte, wem er Dinge erzählte. Er mochte es einfach, gefragt zu werden.
»Ich habe eine Frage zu einer Buchhandlung.«
Simon nahm seinen Becher Wein und kicherte. »Da wirst du dich schon genauer ausdrücken müssen, Bruder. Fenella hat viele Buchhandlungen.«
»Eine extrem große. Drüben auf der Saxton Street.«
»Ah ja. Der Besitzer ist ein Elf, wenn ich richtig informiert bin.«
»Ein Elf?« Ragnar war überrascht gewesen, als er einen Elf gesehen hatte, der Keita den Arm um die Schulter legte, als die beiden in den hinteren Bereich des Geschäftes gingen. Zuerst Ragnar auf dem Jahrmarkt, jetzt dieser Elf. Ehrlich, gab es irgendein männliches Wesen, das diese Drachin nicht zu verführen versuchte? »In der Stadt?«
»Wir haben hier in Fenella keine Probleme mit Elfen. Gorlas heißt er, und er ist ein netter Kerl. Einer der wenigen Buchhandlungsinhaber, die unseren jüngeren Brüdern erlauben, stundenlang zu stöbern, ohne dass sie etwas kaufen müssen.«
»Und ist da sonst noch etwas?«
Simon runzelte leicht die Stirn. »Noch etwas?«
»Na ja, als ich hineinging, hatte ich ein« – Ragnar schaute zur Decke hinauf, als versuchte er eine Antwort von einem der Götter zu bekommen, was immer ein hübscher dramatischer Effekt war, wenn man es mit Mönchen zu tun hatte – »Gefühl von etwas. Etwas unter der Oberfläche.«
Simon schürzte die Lippen. »Na ja … es gibt immer Gerüchte.«
»Oh? Was für Gerüchte?«
»Ich bin mir sicher, es ist nichts.«
»Sicher.«
»Und du weißt, dass ich ungern Gerüchte oder Tratsch verbreite.«
»Natürlich, Bruder. Ich frage auch nur, weil ich das Gefühl habe, dass die Götter versuchen, mir etwas zu sagen. Ich bin mir nur nicht sicher, was. Aber ich wusste, wenn es einen Menschen gibt, der mir helfen kann … dann ist das Bruder Simon.«
»Oh. Na ja.« Es war wirklich traurig. Der Mönch konnte keinem Kompliment widerstehen. Das war auch der Grund, warum Ragnar den Mann als Informationsquelle nutzte, den Gefallen aber nie erwiderte. Zumindest nicht mit Informationen, die echten Schaden anrichten konnten.
Simon beugte sich vor, und Ragnar tat es ihm nach. »Es gibt Gerüchte.«
»Ja?«
»Dass diese spezielle Buchhandlung eine Tarnung ist für …«
»Eine Orgienhöhle? Einen Prostitutionsring? Eine Sexsklavenkommune?«
Simon blinzelte. »Äh … nein.«
Ragnar kam sich lächerlich vor und erklärte: »Tut mir leid. Wie gesagt, ich hatte da dieses Gefühl.«
»Ich verstehe, aber es ist nichts so Interessantes. Leider nicht, Bruder. Um genau zu sein, sind die Gerüchte, die ich gehört habe, fast albern, aber … ich habe gehört, dass die Buchhandlung eine Tarnung sei, oder eine Fassade, könnte man sagen … für eine Gilde.«
»Eine Diebesgilde?«, fragte Ragnar freiheraus und dachte an Keitas ständig wachsende Garderobe.
»Nein, nein. Eine Gilde von Spionen.«
Ragnar richtete sich auf und sein Stuhl machte Geräusche, die befürchten ließen, dass er es nicht mehr lange machen würde, aber Ragnar kümmerte sich nicht darum. Er war zu verblüfft von Simons Worten. »Eine Gilde von Spionen?«
»Aye. Aber wie ich schon sagte, es ist nur ein Gerücht.«
Nur ein Gerücht, allerdings. Doch ein Gerücht, das Prinzessin Keita leicht glauben würde. Und er wusste auch, warum. Weil ihr wahrscheinlich die Vorstellung gefiel, mit Spionen ins Bett zu gehen. Spione, die sie benutzen könnten, um an Informationen über die Höfe der beiden Königinnen zu gelangen. Er hätte am liebsten gefragt: »Kann sie wirklich so dumm sein, das nicht zu erkennen?« Doch andererseits hatte er doch schon die Antwort auf diese Frage, oder nicht? Sie war zu dumm, um es zu erkennen.
Ragnar fragte sich allerdings, wie weit Keita gehen würde, um immer genug »Spione« in ihrem Bett zu haben. Würde sie ihren Liebhabern nur Informationen preisgeben oder würde sie auch aktiv Informationen für sie auskundschaften? Was hatte sie ihnen schon erzählt? Musste Esyld im Moment leiden, weil ihre Nichte Bettgefährtin von jenen geworden war, die ihr Böses wollten? Ragnar wusste es wirklich nicht.
Auch wenn ihm bewusst wurde, dass er sich nach den Tagen sehnte, an denen er nichts mehr mit den königlichen Feuerspuckern zu tun haben musste.
Gorlas sah zu, wie eines seiner liebsten Wesen ruhelos in seinem privaten Büro auf und ab ging. Er erinnerte sich noch gut daran, wie Keita zum ersten Mal in seinen Laden gekommen war. Damals war sie eine gelangweilte Studentin gewesen, aber mit einem Blick hatte Gorlas gewusst, dass es kein Leben für diese Schönheit war, den ganzen Tag an einem Schreibtisch zu sitzen und den Vorlesungen langweiliger, alter Professoren zuzuhören. Innerhalb weniger Tage lauschte sie nur noch seinen Vorträgen. Zusammen mit ihrem Freund aus dem Osten, Ren von den Auserwählten. Sie waren beide schön, schlau und verschlagen. Und angesichts des Weges, den Keita in Wahrheit einschlagen wollte, passte es für sie alle perfekt zusammen.
Zu schade, dass sie ständig das Wichtigste vergaß, das er immer versucht hatte, ihr beizubringen – dass man sich nicht mit ihrer Mutter anlegte. Das wollte Keita einfach nicht begreifen. Und jetzt … jetzt war sie hier.
»Was zur Hölle hat sich Esyld dabei gedacht?«, fragte Keita. »Konnte sie ihre Liebhaber nicht in den Außenebenen lassen? Musste sie sich hier mit ihnen treffen?«
»Beruhige dich.«
»Nein, ich beruhige mich nicht! Hat sie den Verstand verloren? Wird sie frühzeitig alt? Sie bringt uns noch beide um!«
»Keita …«
Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Wo?«, wollte sie wissen. »Wo hat sie sich mit ihm getroffen? Hier? Auf einem gemieteten Herrensitz? In der Lieblingsschänke der Königin? Wo hat sich dieses dumme Weib mit ihrem Liebhaber getroffen, damit jeder, der meiner Mutter berichtet, sie sehen konnte? Wo, Gorlas?«
»Sie hat in Castle Moor gewohnt.«
Keita schnappte nach Luft, tastete hinter sich nach einem Stuhl und ließ sich darauffallen. »Nein! Du musst dich irren.«
»Dort wurde sie von meinen Leuten gesichtet. Mehr als einmal.«
»Meine Tante war in Castle Moor?«
»Ich hatte angenommen, dass du sie dorthin geschickt hast. Es ist der einzige sichere Ort, den ich kenne, wenn man diskret sein will.«
»Aber …«, sagte sie, immer noch wie betäubt. »Castle Moor? Meine Tante?«
Grinsend lehnte sich Gorlas auf seinem Stuhl zurück. »Ich muss sagen, ich bin ein wenig überrascht von deinem Ton, Keita. Dass das ausgerechnet von dir kommt, meine ich.«
»Es würde niemand überraschen, dass ich in Castle Moor war … mehrmals. Oder dass ich auf Du und Du mit deinem merkwürdig faszinierenden Mitelf Athol bin. Aber Esyld ist nicht ich.«
»Es ist eine kluge Wahl.« Castle Moor war weit entfernt von der Politik der Südländer und der Aufmerksamkeit sowohl der Drachenkönigin als auch ihres Gegenstücks, der Verrückten Königin von Garbhán Isle. Für genug Geld konnte jeder, der mit einem oder mehreren Liebhabern etwas private Zeit verbringen wollte, genau das in Castle Moor bekommen. Und Athol, der Gutsherr, war bekannt dafür, dass er den Mund hielt. Gorlas wusste nur, wer kam und ging, weil er es sich zur Aufgabe gemacht hatte, es zu wissen, und er verbreitete nicht weiter, was er hörte.
»Das stimmt wohl«, sagte Keita. »Glaubst du, dass sie im Moment dort ist?«
»Es ist möglich, aber ich habe deine Tante nicht direkt beschattet.« Vielleicht hätte er es tun sollen, aber er hätte nie geglaubt, dass die Drachin so töricht sein könnte, sich erwischen zu lassen. Jetzt wünschte Gorlas, er hätte Keita kontaktiert und ihr erzählt, was er wusste, aber er hatte einfach gedacht, dass ihre Tante Bedürfnisse hatte, die erfüllt werden wollten. Er wusste, dass es hart sein musste, allein in den Außenebenen zu leben, mit nichts als Kräutern, Zaubern und Waldtieren als Gesellschaft.
»Ich muss dort hin. Vielleicht finde ich sie.«
»Wie lange ist es her, seit du das letzte Mal dort warst?«
»Ewigkeiten. Glaubst du, Athol macht es etwas aus?«
»Sehr unwahrscheinlich. Er mochte dich immer ziemlich gern.«
»Das ist gut. Denn wenn meine Mutter das alles herausfindet, muss ich mich vielleicht selbst in Castle Moor verstecken.«
»Wäre das so schwer für dich, Mylady?«
»Im Moment … ja. Außerdem weißt du ja, dass ich es nie mag, irgendwo eingesperrt zu sein.« Keita stützte den Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Handfläche.
»Was sonst noch, Keita?«, drängte er. Er wusste, dass sie ihm nicht alles erzählt hatte.
»Es besteht die winzige Möglichkeit … dass Esylds Liebhaber ein Souverän aus den Hoheitsgebieten ist.«
Gorlas wurde das Herz schwer. »Oh … Keita.«
»Ich weiß«, seufzte sie. »Es reichte ja nicht, dass die Lage schlimm ist, mein lieber Freund. Nein, sie muss richtig schlimm sein!«
Keita war gerade um eine Ecke gebogen und ging auf das Stadttor zu, als Ren neben ihr auftauchte.
»Und?«, fragte sie, während ihre eigenen Gedanken rasten.
»Der Nordländer hatte recht mit der Kette. Entworfen und angefertigt höchstwahrscheinlich von Fucinus persönlich.«
Keita blieb stehen und stampfte mit dem Fuß auf. »Da soll mich doch …!«, knurrte sie.
Ein Mann, der gerade mit seinen Freunden vorbeiging, drehte sich zu ihr um und sagte: »Ist das ein Angebot, Süße?«
Ohne den Blick von Ren abzuwenden, streckte Keita den Arm aus und schnappte das Gemächt des Mannes durch seine Hose hindurch. Sie ließ Hitze durch ihre Finger strömen, während sie zu Ren sagte: »Wir haben ein Problem.«
Der Mann begann zu schreien, doch Keita bemerkte es nicht einmal, und es hätte sie auch nicht gekümmert. Sie hatte wichtigere Dinge im Kopf.
Ren schlug ihre Hand von der lädierten Leistengegend des Mannes weg und zerrte sie die Straße entlang, bis sie weit weg von dem Kerl und seinen Freunden waren. »Musst du es unbedingt an einem armen Teufel auslassen, dass …«
»Dass ich einer Verräterin vertraut habe?«, beendete sie seinen Satz. »Und an wem sollte ich es sonst auslassen? Sicher nicht an mir selbst!«
Ren blieb stehen und ließ sie los. »Ich vergaß, mit wem ich es zu tun habe. Also, was ist unser Problem?«
»Anscheinend kommt Esyld schon seit Monaten in die Südland-Territorien.«
»Oh, Mist.«
»Genau. Sie war in Castle Moor.«
Die Freunde sahen sich einen Augenblick an, dann sagten sie gleichzeitig: »Moor, Moor, Moor.«
Sie lachten, bis Keita sagte: »Das ist nicht lustig.«
»Nein, nein. Nicht lustig.« Ren stützte die Hände in die Hüften. »Allerdings geht es um Esyld … also, das ist schon ein bisschen lustig.«
»Sie trifft sich mit einem Liebhaber.«
»Esyld hat einen Liebhaber? Ein Souverän?«
»Alles, was Gorlas mir sagen konnte, war, dass er nicht von hier ist.«
»Und was willst du jetzt tun?«
»Wir müssen bei Athol vorbeigehen, bevor wir uns auf den Heimweg machen.«
Eine glänzende schwarze Augenbraue hob sich. »Haben wir dafür wirklich Zeit, Keita?«
»Ich kann dir versichern: Ich gehe nur hin, um Antworten auf meine Fragen zu bekommen. Meine Orgienzeiten sind schon lange vorbei.«
»Ha. Ich glaube nicht, dass ich dich das schon mal sagen gehört habe.«
»Ich kann dir einen ganzen Haufen Gründe dafür liefern.« Sie nahm Rens Arm, und sie gingen langsam aufs Stadttor zu. »Aber ehrlich gesagt, mein Freund, sind Orgien einfach viel zu viel Arbeit.«