8 Sie befanden sich immer noch in den Außenebenen, als sie am Nachmittag ihre erste Pause machten. Es hätte nur eine kurze Pause von einer halben Stunde oder weniger werden sollen, aber die Prinzessin nahm ihre menschliche Gestalt an und zog ein Kleid an, was seltsam genug war. Dann wühlte sie in Ragnars Tasche und warf seine Kettenhose und sein Hemd nach ihm. »Zieh dich an!«, befahl sie.
»Warum?«
»Frag nicht – tu’s einfach.« Sie grinste und ging davon. Ragnar aß weiter von dem Trockenfleisch aus seiner Tasche, bis Vigholf ihn mit der Schulter schubste. »Geh schon!«
»Wohin?«
»Wo sie hingeht. Sei kein Idiot.«
»Ich habe wichtigere …«
Jetzt schubste ihn Meinhard an der anderen Schulter. »Geh! Wir sind hier, wenn du zurückkommst.«
»Wir müssen weiter.«
»Würde dich eine zusätzliche halbe Stunde wirklich umbringen, Bruder?« Vigholf deutete lächelnd auf die Prinzessin. »Geh. Sie wartet.«
Er wusste, dass es Zeitverschwendung war, aber er war sich auch sicher, dass sein Bruder und sein Vetter ihn nicht in Ruhe lassen würden, bis er der Frau wie ein Hündchen gefolgt war, also verwandelte sich Ragnar ebenfalls und zog die Kleider an. Außerdem schnallte er sich ein Schwert auf den Rücken, schob mehrere Dolche in seine Stiefel und schlüpfte in einen Umhang mit Kapuze, um seine Haare zu verbergen. Als er angezogen war, folgte er Ihrer Hoheit und fand sie weniger als eine halbe Meile entfernt an einen Baum gelehnt.
»Das hat ja gedauert«, beschwerte sie sich, dann hakte sie sich bei ihm unter und ging los.
»Wo gehen wir hin?«
»Das wirst du schon sehen. Es ist nicht weit.« Sie schaute zu ihm auf. »Du siehst so angespannt aus. Dieser ganze Stress kann nicht gut für dich sein.«
»Ich sehe immer angespannt aus. Das heißt nicht, dass ich es auch bin.«
»Aber du hast so ein hübsches Gesicht. Warum verschwendest du es damit, ständig finster dreinzuschauen?«
Ragnar blieb stehen; die Prinzessin hielt ebenfalls an, da sie ja seinen Arm hielt. »Was hast du vor?«
»Ich gehe mit dir spazieren.«
»Warum?«
»Willst du nicht mit mir spazieren gehen?«
Er antwortete nicht, und dann sagte sie: »Ich werde es dir leicht machen.« Sie ließ ihre kleine Hand in seine gleiten und verschränkte ihre Finger mit seinen. »Jetzt kannst du nicht weg«, murmelte sie, und ihm wurde bewusst, dass sie recht hatte.
Sie erreichten die Lichtung, die Keita gesehen hatte, als sie über die Gegend hinweggeflogen waren, und sie lächelte zu dem Warlord auf. Er dagegen verdrehte die Augen und sah aus, als wünschte er sich eine Million Meilen weit weg.
»Ach, komm schon. Ein paar Minuten. Was kann es schaden?«
»Ich bin nicht in der Stimmung für einen Jahrmarkt, Prinzessin.«
»Ich verstehe immer noch Pissessin, aber das macht nichts.« Sie zog ihn wieder am Arm und hörte nicht auf, bis er mitging.
»Ich liebe Jahrmärkte«, erklärte ihm Keita, als sie näher kamen. Ein Gaukler sprang vor sie und schleuderte mehrere Keulen in die Luft. »Es macht so viel Spaß!«
»Und ich merke, dass wir den Südländern näher kommen.«
»Habt ihr im Norden keine Jahrmärkte?«
»Nein.«
»Solltet ihr aber. Ein Jahrmarkt ist eine wundervolle Sache für die Menschen. Sie bekommen meiner Ansicht nach nicht genug Unterhaltung.«
»Du magst die Menschen ja richtig.«
»Das war nicht immer so«, gab sie zu. »Ich konnte manchmal ziemlich grausam sein. Vor allem zu den Männern. Und ich habe einmal fast ein ganzes Dorf zerstört. Ich glaube, da war ich noch nicht einmal fünfundsiebzig Winter alt.«
»Warum?«
»Der Anführer des Dorfes wollte mich als Schutz benutzen, indem er mich an die Kette legte. Und zwar nicht auf eine Art, die Spaß gemacht hätte, sondern wie eine Art Wachhund. Mich! Eine Drachin einer königlichen Blutlinie! Ich habe meinen Standpunkt dann klargemacht und auch gleich noch einen schicken neuen Namen bekommen. Ich bezweifle, dass die wenigen Menschen, die überlebt haben – hauptsächlich Frauen und Kinder –, so etwas je noch einmal mit einem Drachen versucht haben.«
»Höchstwahrscheinlich nicht.«
»Aber mir ist später bewusst geworden, dass sie nur versucht haben, ihr Dorf, ihr Volk zu beschützen. Es ist nicht mehr oder weniger, als wir tun; es wurde nur von denen, die das Sagen hatten, schlecht durchgeführt. Mit der Zeit wurde mir klar, dass es manchmal nur darum geht, wie die Führung ist und wer regiert. Ein schlechter Anführer kann die nettesten und wunderbarsten Leute in eine ganz schreckliche Lage bringen, aus der sie nicht wissen, wie sie wieder herauskommen sollen.«
»Hast du deshalb Bampours Festung nicht zerstört?«
Sie nickte. »Warum all diese Leute leiden lassen, weil sie einen schlechten Herrscher haben?« Keita zwinkerte dem Gaukler zu, und sie gingen weiter zu den Ständen, an denen alles von Essen über Kleidung bis hin zu Waffen verkauft wurde. »Heutzutage gehe ich mit den meisten Menschen eher um wie mein Großvater, Ailean der Schöne.«
»Ich dachte, sein Name war Ailean der Verruchte.«
»Für manche. Für mich war er Ailean der Schöne. Er liebte mich. Und wie er liebe ich es, meine Zeit als Mensch zu verbringen, unter Menschen. Ich finde sie so amüsant und süß.«
»Du meinst wie Entenküken?«, fragte er und konnte die Ironie in seiner Stimme nicht verbergen.
Keita grinste. »Ja! Genau wie Entenküken!« Sie blieb bei einem Eisenschmied stehen und schaute sich seine Waren an. »Das sind hübsche Waffen.«
»Wenn du es sagst.«
Als sie sah, wie finster der Schmied dreinblickte, zog Keita den Nordländer schnell weiter. »Könntest du wenigstens so tun, als wärst du freundlich? Es bringt doch nichts, die Waren des Mannes zu beleidigen, wenn er direkt danebensteht.«
»Soll ich ihn anlügen?«
»Aye! Das solltest du. Würde es dich umbringen?«
»Wenn ich versuchen würde, so zu tun, als könnten mich diese schwachen Waffen, die er hergestellt hat, in einem echten Kampf schützen – ja.«
Keita blieb stehen und sah zu dem Warlord auf. »Bist du immer so?«
»Um genau zu sein … nein.« Er erwiderte ihren Blick. »Das scheint an dir zu liegen.«
Die Prinzessin ließ seinen Arm los und rauschte davon, kehrte aber ein paar Augenblicke später zurück. »Weißt du, ich versuche wenigstens, nett zu sein.«
»Ich weiß. Ich weiß nur nicht, warum.«
»Ich bin immer nett. Ich bin bekannt für meine Nettigkeit.«
»Du meinst, wenn du gerade nicht versuchst, Leute umzubringen.«
Sie zeigte auf ihre Brust. »Ich habe ihn nicht umgebracht.«
»Aber du wolltest es.«
Sie atmete hörbar aus und sah sich um. Niemand schenkte ihnen große Aufmerksamkeit, also trat sie näher an ihn heran und sagte: »Ich erzähle dir das im Vertrauen.«
»Wie du meinst.«
»Bampour hat einen Mörder geschickt, um die Kinder meines Bruders in ihren Bettchen zu töten. Weil er glaubt, dass sie böse sind.«
»Sind sie es?«
»Natürlich nicht!«
»Woher willst du das wissen? Du bist gar nicht zu Hause gewesen.«
»Ach!« Sie stürmte davon. »Ich weiß nicht, warum ich überhaupt mit dir rede.«
Er wusste es auch nicht, aber irgendwie genoss er es, die Prinzessin zu ärgern. Er wusste, dass es nicht sehr ehrenhaft war, aber er konnte einfach nicht anders.
Ragnar holte sie ein, als sie am Stand eines Damenschneiders Halt machte.
»Was willst du?«, fuhr sie ihn an, während sie die Kleider begutachtete.
»Ich wollte dich nicht verärgern.«
»Soll das eine Entschuldigung sein?«
»Nein«, gab er zu. »Soll es nicht.«
»Du bist ein höchst … frustrierender Mann.«
»Das höre ich nicht zum ersten Mal.«
Sie zog ein Kleid aus einem der Holzregale und hielt es sich vor den Körper. »Was meinst du?«
»Wir wissen beide, dass du in allem schön aussiehst. Willst du mich zwingen, dich ständig daran zu erinnern?«
»Würde es dich umbringen, es einfach zu sagen?« Sie legte das Kleid zurück in das Fach und suchte weiter. »Hast du eine Gefährtin, Warlord?«
»Nein.«
»Überrascht dich das? Denn mich überrascht es nicht.«
»Du hast auch keinen Gefährten.«
»Ich will keinen. Klammernde, anhängliche Männer, die das Bedürfnis haben, mich in einem überholten Ritual zu brandmarken, damit sie sich mir überlegen fühlen können, während sie meine hübsche menschliche Haut ruinieren.« Sie hielt den rechten Arm hoch und strich mit der Linken daran entlang. »Sieh dir diese Haut an. Sie ist herrlich. Und ich habe es geschafft, sie mit sehr wenig Aufwand ziemlich lange so zu erhalten. Ich werde sicherlich keinem jämmerlichen Mann erlauben, sie zu ruinieren, damit er hinterher vor seinen Freunden damit angeben kann.«
»Tja, du hast es geschafft, Äonen von alten und mächtigen mystischen Ritualen für Drachen auf der ganzen Welt in eine Männerhasser-Tirade zu verwandeln, die sich irgendwie nur um dich dreht.«
»Ich hasse Männer nicht.« Sie nahm ein anderes Kleid, rümpfte ein wenig die Nase und legte es schnell zurück. »Im Großen und Ganzen liebe ich sie über alles.«
»Wie kannst du sagen, dass du sie über alles liebst?«
»Aber das tue ich. Immer für kurze Zeit. Andererseits liebe ich auch Kinder für kurze Zeit und Regenschauer und heiße, sonnige Tage – für kurze Zeit. Aber alles, was sich über Ewigkeiten hinzieht, geht mir einfach auf die Nerven.«
»Gut zu wissen.«
»Und was für eine Frau suchst du?«, fragte sie, und Ragnar runzelte ein wenig die Stirn.
»Wie bitte?«
»Wie muss eine Bettpartnerin für dich sein? Groß? Fett? Langer Schwanz? Kurzer Schwanz? Breite Hüften? Schmale Hüften?«
Er hob die Hand. »Also gut … stopp.« Ihm gefiel die Richtung, die ihr Gespräch gerade nahm, überhaupt nicht. »Ich suche gar keine Frau.«
»Oooh.« Sie schaute das Kleid in ihren Händen an, dann sagte sie: »Na ja, dann hoffe ich, dass du nicht an Ren interessiert bist, denn das ist nicht sein Ding.« Sie wandte den Blick ab und fügte hinzu: »Glaube ich.«
»Das suche ich auch nicht.«
»Du musst nicht so ablehnend klingen.«
»Tue ich nicht. Ich weiß nur nicht, warum du mir all diese Fragen stellst.«
»Und ich weiß nicht, warum du mir nicht einfach antwortest.«
»Na schön. Ich suche eine nette und liebevolle Frau, bei der ich nicht mit einem offenen Auge schlafen muss, um sicherzugehen, dass ich den nächsten Morgen erlebe.«
»Viel Glück, wenn du so etwas bei den Drachinnen finden willst«, murmelte sie.
»Wie war das?«, fragte Ragnar, obwohl er sie sehr wohl verstanden hatte.
»Nichts.« Sie legte ein weiteres Kleid zurück und ging weiter. Knurrend folgte ihr Ragnar.
Éibhear ging zu seiner kleinen Gruppe hinüber und merkte schnell, dass sie noch kleiner war als vorhin, als er gegangen war. Er war nur kurz weg gewesen. »Wo sind denn alle?«
Als Antwort grunzten die beiden Verbliebenen, Vigholf und Meinhard, nur. Daran hatte sich Éibhear in seiner Zeit in den Nordländern gewöhnen müssen. Von Natur aus waren Blitzdrachen grundsätzlich nicht sehr gesprächig. Es sei denn, sie tranken, aber das passierte nur nachts, und Éibhear konnte wirklich nicht jede Nacht trinken, wie das die meisten Nordländer konnten. Nicht, wenn er bei Sonnenaufgang wieder wach sein und trainieren wollte.
Doch Éibhear hatte genug Zeit mit den Blitzdrachen verbracht, um seinen ersten Fehler zu erkennen. Er wartete, bis die Blitzdrachen kurz aufhörten, sich Essen in den Mund zu schaufeln, dann fragte er: »Wo ist meine Schwester?«
»Mit Ragnar weg«, antwortete Meinhard.
»Ist Ren mit ihnen gegangen?«
»Nö. Er ist irgendwo da drüben.«
Mist. Er gab sich größte Mühe, nicht in Panik zu verfallen, und fragte weiter: »Wisst ihr, wo Keita und Ragnar hingegangen sind?«
»Nö.«
»Wisst ihr, wann sie wiederkommen?«
Vigholf kaute sein Essen und musterte Éibhear eingehend. »Zweifelst du an der Ehre meines Bruders, wenn er mit deiner Schwester unterwegs ist?«
Éibhear schüttelte den Kopf. »Oh, nein, nein. Überhaupt nicht.« Er kratzte sich mit der Schwanzspitze am Kopf. »Meine Schwester hat allerdings nicht so viel Ehre. Deshalb könnte das vielleicht ein Problem werden.«
Die beiden anderen starrten zu ihm herauf. Sie sahen leicht angewidert aus. »Versteht mich nicht falsch«, versuchte Éibhear zu erklären. »Meine Schwester ist eine liebenswerte Drachin. Wirklich. Aber ich fürchte, sie könnte versuchen … na ja …«
»Was versuchen, Junge? Spuck’s aus.«
»Es könnte sein, dass sie versucht, ihn« – er flüsterte die folgenden Worte – »sexuell zu nötigen.«
Die Blitzdrachen sahen sich an, dann sagte Meinhard zu Éibhear: »Darüber würde ich mir an deiner Stelle keine Sorgen machen, Junge.«
»Ihr versteht nicht.« Éibhear trat näher. »Meine Schwester hat so eine Art an sich … Männer verlieben sich in sie. Wahnsinnig. Nach nur einer Nacht mit ihr. Manchmal schon nach einer Stunde. Und das könnte … schlecht sein. Falls mein Vater sich einschalten muss.«
»Aber ich glaube, sie sind nur spazieren gegangen«, sagte Vigholf, der aussah, als schwanke er zwischen Heiterkeit und Verwirrung.
»Na klar. Nur spazieren. Vielleicht könnten wir sie ja suchen.«
»Hör zu, Junge«, sagte Meinhard müde, »ich verstehe das Problem nicht. Sie sind beide erwachsene Drachen, die spazieren gegangen sind. Und was auf ihrem Spaziergang passiert, geht nur sie etwas an.«
»Klar. Ich mache mir nur ein bisschen Sorgen um die interterritorialen Beziehungen.«
»Du machst dir Sorgen um was?«, fragte Vigholf.
»Unser Bündnis.«
»Glaubst du, das steht auf dem Spiel?«
»Ich weiß, wie das läuft. Etwas läuft zwischen den beiden; Lord Ragnar verliebt sich in sie. Keita dagegen nicht in ihn. Er bedrängt sie. Keita holt ihren Vater, ihre Brüder und ihre Vettern, um ihn loszuwerden, und bevor irgendwer es sich versieht … Krieg.«
»Wegen eines Spaziergangs?«
Meinhard wedelte Éibhears Bedenken mit einer Handbewegung fort. »Du gehst davon aus, dass deine Schwester Ragnar will.«
»Na ja, jetzt, wo es um eine Wette geht …« Die Worte waren Éibhear herausgerutscht, bevor er sie zurückhalten konnte, und er wusste sofort, dass er zu viel gesagt hatte. Mit einem Nicken verkündete er: »Ich gehe Ren suchen.«
Er wollte weggehen, doch plötzlich waren beide Blitzdrachen links und rechts von ihm, starke Arme schlangen sich um seinen Hals und hielten ihn fest.
»Sei ein guter Junge«, sagte Meinhard grinsend. »Und erzähl uns alles über diese Wette.«
Keita war fröhlich auf dem Weg zu einem der Schmuckstände. Götter, sie liebte Schmuck.
»Und warum hattest du das Bedürfnis, die Bampour-Sache selbst zu erledigen?«, fragte Ragnar sie.
»Ich war gerade in der Stadt.« Als er auf ihre Antwort hin die Stirn runzelte, hielt sie eine Kette hoch. »Was meinst du?«
»Ich meine, sie sieht teuer aus.«
»Geizig, verstehe.« Sie seufzte und legte die Kette zurück.
»In den Nordländern nennen wir das sparsam.«
Angewidert von diesem Wort – kein Drache sollte geizig oder »sparsam« sein –, fragte Keita: »Und wenn du bereit bist, sesshaft zu werden, wirst du dann eine Frau entführen?«
»Das machen wir nicht mehr.«
»Dein Vater hat es mit mir gemacht.«
»Und jetzt ist er tot. Die Zeiten haben sich geändert.«
»Gut.« Sie ging weiter zum nächsten Stand, diesmal einem voller Kristallschmuck. »Ich bin sicher, dass viele meiner Cousinen bei dem Fest sein werden, und es hätte mir gerade noch gefehlt, dass du und deine Sippe mit ihnen abhaut.«
Als der Nordländer schnaubte, blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. »Was ist daran so lustig?«
»Dass du glaubst, wir würden mit einer Cadwaladr-Frau abhauen.«
»Und warum nicht?« Als er eine Augenbraue hob, gab sie zu: »Na schön, ein paar von ihnen sind vielleicht ein winziges bisschen … vierschrötig. Aber sie haben ein gutes Herz und sind sehr treu.«
»Das habe ich gehört.«
»Hör mal, nicht jede kann so schön sein wie ich – und ich weigere mich, mich zu binden, also nimmst du am besten das, was du kriegen kannst.«
»Wie ist es nur möglich, dass du so arrogant bist?«
Keita lachte laut auf. »Und ich dachte, du kennst meine Familie schon.«
Während sie einen Truthahnschenkel verschlang, den er ihr hatte kaufen müssen – sie hatte schon davon abgebissen, als sie darauf hinwies, dass sie kein Stück Geld dabei hatte –, machten sie sich auf den Rückweg zum Rest ihrer Reisegesellschaft.
Beim Gehen redete sie weiter, und Ragnar konnte es sich nicht verkneifen, zu beobachten, wie sich ihr menschlicher Körper bewegte. Ihr Kleid floss locker um sie herum – und es war neu. Er hatte keine Ahnung, wo sie es herhatte – das letzte Kleid, in dem er sie gesehen hatte, war jedenfalls das Schmutzige gewesen, das sie getragen hatte, als er sie gerettet hatte. Er beschloss, nicht danach zu fragen, denn er wollte es gar nicht wissen, und konzentrierte sich stattdessen darauf, dass sie immer noch barfuß war, obwohl sie sich ein neues Kleid besorgt hatte. Er wusste einfach nicht warum.
Genauso wenig wusste er, warum er so fasziniert von ihren Füßen war … und von diesen Beinen … und davon, was sie sonst noch unter diesem Kleid hatte.
Doch bevor Ragnar wirklich anfangen konnte, sich Sorgen über seine Besessenheit vom fehlenden Schuhwerk der Prinzessin zu machen, blieb er stehen und dachte darüber nach, was sie ihm da nur Augenblicke zuvor erzählt hatte. Er musste um eine Klarstellung bitten. »Du hast deiner Cousine ein Auge ausgekratzt?«
»Ich habe es ihr nicht ausgekratzt.« Sie leckte den Saft des Truthahnschenkels von den Fingern ihrer freien Hand. »Ich habe es ihr mit meiner Schwanzspitze ausgerissen.«
Als sein Mund offen stehen blieb, erklärte sie eilig: »Es war Notwehr!«
»Ist das nicht dieselbe Ausrede, die du bei dem Wachhund benutzt hast, den du gefressen hast?«
»Vielleicht. Aber bei Elestren war es wirklich Notwehr. Sie hat mich mit einem Kriegshammer geschlagen. Auf den Kopf und auf den Arm. Und ich kann dir sagen, sie hat ziemliche Kraft hineingelegt.«
»Warum? Was hattest du ihr getan?«
Jetzt blieb ihr Mund offen stehen. »Ich hatte gar nichts getan.«
»Keita …«
»Hatte ich nicht! Es sei denn, sie war immer noch sauer, weil ich sie einmal Fettarsch genannt hatte. Aber das war schon Jahre her.«
Sie gingen weiter. »Jedenfalls kam sie mit diesem verfluchten Hammer auf mich zu, nachdem sie mir schon fast den Unterarm gebrochen und den Schädel eingeschlagen hatte, und ich bekam Panik und benutzte meinen Schwanz … was man anscheinend beim Training nicht tun soll.«
»Training wofür?«
»Für den Kampf. Also, wenn du oder dein Vater und euresgleichen das nächste Mal versucht, mich zu entführen …«
Ragnar blieb wieder stehen, die Hände zu Fäusten geballt. »Steck mich nie wieder in dieselbe Schublade wie meinen Vater«, sagte er.
Mit großen Augen erwiderte sie: »Ich wollte nicht …«
»Und ich habe dich gerettet. Und als du in deinem Gebiet in Sicherheit warst, habe ich dich gehen lassen. Mit beiden Flügeln. Ich kann dir versichern, dass Olgeir der Verschwender nichts dergleichen getan hätte.«
»Na gut.«
Ragnar wusste, dass er sie angeschnauzt hatte, aber er konnte nicht anders. Dennoch fühlte er sich wie ein richtiger Mistkerl, als sie im Gegenzug nur hochhielt, was von dem Truthahnschenkel übrig war, und fragte: »Willst du den Rest?«
Er hätte sich entschuldigen sollen, aber er würde es nicht tun. Nicht, wenn sie es wagte, ihn mit seinem Vater zu vergleichen. »Na gut … wenn ich ihn schon bezahlt habe.« Er nahm ihr den Schenkel aus der Hand und riss das restliche Fleisch davon ab, bevor er das Mark aussaugte. Als er fertig war, reichte er ihr die Überreste – ein Stück hohlen Knochen.
Sie hielt ihn hoch, und ihr Blick wanderte von ihm zu dem Knochen und wieder zurück. Mehrere Male.
Als sie nichts sagte, tat er es. »Lass uns zurückgehen. Wir haben noch viele Meilen vor uns, bevor wir das Nachtlager aufschlagen können.«
Sie setzten sich wieder in Bewegung, und nachdem Keita das Stück Knochen weggeschleudert hatte, fragte sie: »Sag mir, Lord Ragnar – begehrst du mich?«
»Wie die Luft zum Atmen.«
Sie blieben beide wieder abrupt stehen und die Augen der Prinzessin waren weit aufgerissen, als sie zu ihm aufsah.
»Aber deshalb muss ich mich von dir fernhalten, nicht wahr?«, fragte er.
Ihr bestürzter Blick schwand, und dieses Lächeln – das, von dem er sicher war, dass es niemand außer ihm je zu Gesicht bekam – trat an seine Stelle. »Nur wenn du einer von der anhänglichen Sorte bist«, gab sie zu. »Anhänglich finde ich schrecklich.«
Sie knabberte auf ihrer Unterlippe und ihr Blick wanderte an ihm auf und ab. Dann kicherte sie. »Und Götter, ich hoffe wirklich, dass du keiner von der anhänglichen Sorte bist!«
Mit einem breiten Lächeln machte sie sich auf den Weg zurück zu ihrer Reisegesellschaft. »Na komm, Warlord, wir haben noch viele Meilen vor uns, bevor wir das Nachtlager aufschlagen können.«
Und zum ersten Mal in fast einem Jahrhundert fühlte sich Ragnar vollkommen überfordert.