11 Er wünschte, er hätte sagen können, dass sie während der nächsten zwei Tage ihrer Reise nicht mit ihm sprach, sich weigerte, ihn anzusehen, dass sie davonstürzte, sobald er ihr eine Frage stellte, dass sie ihn anzischte oder ihm sagte, er solle verschwinden, sobald er den Mund aufmachte.

Ragnar wünschte, er hätte sagen können, dass Prinzessin Keita all das tat. Dass sie die verletzte Königstochter spielte. Zu dumm, dass ihre Art der Revanche viel kunstvoller war, viel brutaler.

Tatsächlich sprach Keita mit Ragnar. Sehr höflich. Wenn sie um etwas bat, fügte sie immer ein »Bitte« hinzu. Wenn er ihr sagte, dass sie etwas tun sollte, tat sie es ohne Widerrede und befolgte peinlich genau, was er sagte. Sie beteiligte sich an Gesprächen nur, wenn sie direkt angesprochen wurde, und ihre Antworten waren nie zu kurz oder zu lang.

Sie hielt den Rücken gerade, den Kopf hoch erhoben und borgte sich sogar eines der Bücher ihres Bruders, um in den Pausen zu lesen.

Ragnar wurde schnell klar, dass Keita genau zu dem geworden war, was er immer von einer echten Prinzessin erwartet hatte. Außerdem wurde ihm bewusst, wie sehr er echte Prinzessinnen hasste. Er hatte nie gedacht, dass er ihr Lachen vermissen würde oder die Art, wie sie mit seinem Bruder und seinem Vetter oder mit ihm selbst flirtete, oder dieses nervige Kichern und die Art, wie sie ihren Bruder neckte. Aber er vermisste all das. Zumindest vermisste er es bei Keita.

Aber sie war eiskalt. Wie ein Lawine, die ihn unter einem Fels begraben hatte.

Die anderen wussten, dass etwas passiert war. Sie beobachteten, wie protokollarisch korrekt sie miteinander umgingen, und wussten, dass sich etwas verändert hatte, aber niemand wusste, was. Bis auf den Ostländer. Er warf Ragnar hinter Keitas Rücken finstere Blicke zu, wann immer sich die Gelegenheit ergab.

Nicht dass Ragnar es dem Ostländer oder Keita verdenken konnte. Er hatte in den vergangenen zwei Nächten nicht schlafen können und war jedes Mal schmerzlich zusammengezuckt, wenn er daran dachte, was er zu ihr gesagt hatte.

Bis sie früh an diesem Abend an einem sicheren Ort ankamen – der Fremde hatte sie gebeten, ihre Tagesetappe mitten im Nichts zu unterbrechen –, war Ragnar erschöpft, schlecht gelaunt und genervt von sich selbst und der ganzen Welt.

Er setzte sich auf den Boden, den Rücken an einen kleinen Hügel gelehnt, die Flügel ausgebreitet, um sie nach dem vielen Fliegen zu dehnen.

»Éibhear.« Der Ostländer tippte dem Blauen auf die Schulter. »Ich gehe mit deiner Schwester zu dem See da drüben. Er liegt nur ungefähr eine halbe Meile entfernt. Sie will baden.«

Der Blaue nickte und zog eines der Bücher heraus, die seine Schwester ihm mitgebracht hatte.

Nachdem die beiden weg waren, kauerte sich Vigholf vor Ragnar hin. »Was geht hier vor?«

»Nichts.«

»Sie ist wie eine von diesen langweiligen Royals, über die wir uns immer lustig machen, und du bist zu einem gemeinen Mistkerl geworden. Irgendetwas muss zwischen euch beiden vorgefallen sein. Was hast du zu ihr gesagt?«

»Nichts, worüber ich reden wollte. Also lass es gut sein, Bruder.«

Jetzt kauerte sich Meinhard vor ihn hin. »Wenn du ihre Gefühle verletzt hast, Vetter …«

Ragnar konnte es keine Sekunde länger aushalten, stand auf und ging; bevor er das Lager verließ, nahm er seine Reisetasche.

Vielleicht würde ein guter Beruhigungszauber seine Spannung lösen. Und Götter! Er würde alles geben, damit dieses Jucken aufhörte, das bedeutend schlimmer geworden war seit seinem letzten Treffen mit Keita am See. Ragnar blieb an einem Baum stehen, nahm seine menschliche Gestalt an und kratzte sich, an den Baum gelehnt, wo das Jucken am schlimmsten war. Er kratzte so, dass er fürchtete, es könnte bluten. Das Ganze wurde langsam unerträglich!

Er war kurz davor, Keita aufzuspüren und zu verlangen, dass sie den Zauber aufheben möge, den sie ihm zugefügt hatte, als sie ihn mit ihrem götterverdammten Schwanz durchbohrt hatte, da sah Ragnar die Prinzessin allein zwischen den Bäumen hindurchgehen. Sie war jetzt in Menschengestalt, hatte schon wieder ein Kleid an, das er noch nie gesehen hatte, einen Umhang aus Fell und keine Schuhe.

Ragnar knurrte. Bei einer Drachin, die menschliche Kleidung so sehr liebte wie sie, hätte er Schuhe für selbstverständlich gehalten.

Und wo wollte sie überhaupt hin, hier, mitten im Nirgendwo? Allein, menschlich und barfuß?

 

Keita stand vor dem großen Tor, das Castle Moor abschirmte.

Anders als die meisten festungsartigen Schlösser, in denen Adlige in den Südländern lebten, war Castle Moor eher ein Palast. Es gab zwar Wachen, aber nur ein paar starke Exemplare, um all diejenigen hinauszuwerfen, die nach zu viel Alkohol und Sex aus dem Ruder liefen; dagegen gab es nichts, was gegen einen Überfall oder den Angriff einer Armee geschützt hätte.

Andererseits brauchte Lord Athol Reidfurd diese Art von Schutz auch nicht. Einst mochte man ihn einen Magier oder Hexenmeister oder Zauberer genannt haben, doch heutzutage hätte keiner, der diesen Wegen folgte, Athol als seinesgleichen betrachtet. Man sagte, er habe einen dunkleren Weg eingeschlagen, vielleicht seine Seele verkauft. Keita wusste es nicht, und sie machte sich selten Gedanken darüber. Sie besaß nicht genug magische Kraft, um jemanden von seinem Format zu interessieren – und was hinter seinen Schlossmauern vor sich ging, wenn sie dort war, schien nur einen einzigen Zweck zu haben – Spaß.

Das Tor schwang langsam zurück, und Athol kam ihr zusammen mit seinem persönlichen Assistenten entgegen, um sie zu begrüßen.

»Keita.«

»Athol.« Sie ließ sich in seine ausgestreckten Arme fallen und drückte ihn herzlich.

»Es ist schon viel zu lange her, meine Schöne.« Er hob ihr Kinn mit zwei Fingern an. »Und du bist immer noch schön. Ich hoffe wirklich, dass du vorhast zu bleiben.«

»Ich kann leider nicht. Zumindest nicht lange.«

»Zu schade«, murmelte er. »Ich habe so viel Unterhaltung für heute Abend geplant. Ich bin sicher, es würde dir gefallen.«

Damit hatte er vermutlich recht, aber deshalb war sie nicht hier.

»Vielleicht ein andermal?«

»Wie du willst.« Er ließ sie los. »Wo ist Ren?«

»Das weiß ich nicht so genau«, log sie. Gegen Rens Willen hatte Keita darauf bestanden, ihren alten Freund zurückzulassen. Sie musste. Die Spannungen zwischen Ren und Athol waren immer ein Problem gewesen. Sie tolerierten einander wegen Keita, aber mehr auch nicht. Falls sie etwas aus dem Elf herausbekommen wollte, konnte sie Ren nicht gebrauchen, der Athol zu Tode ärgerte. Denn darin war der Ostländer sehr gut.

»Und dein Freund?«, fragte Athol.

Sie hatte keine Ahnung, von wem er sprach, und fragte: »Freund?«

Athol hob das Kinn und deutete hinter sie. Keita sah über ihre Schulter und hatte größte Mühe, sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen, als sie den Warlord direkt hinter sich stehen sah. Wie lange stand er da schon? Warum hatte sie nicht bemerkt, dass er ihr folgte?

Ragnar trat vor. »Bruder Ragnar vom Orden des Wissens, Mylord. Ich begleite Lady Keita auf ihrer Reise.«

»Ein Mönch?«, fragte Athol mit Blick auf Keita.

Eilig nahm sie Athols Arm, während ihre Gedanken rasten. »Er will meine Seele retten«, sagte sie schließlich leise. »Und ich versuche, seine zu bekommen.«

Athol lachte. »Aaah. Meine schändliche kleine Keita. Ich bin so froh zu sehen, dass du dich nicht verändert hast.« Er zwinkerte ihr zu, bevor er sich vor dem Warlord verneigte. »Ich bin Athol Reidfurd, Bruder, der Herr dieses Hauses.« Er bat sie beide mit einer Geste herein. »Und ihr seid hier beide mehr als willkommen.«

 

Ragnar konnte nicht fassen, welche Macht dieser Ort besaß. Er spürte es, sobald er das Tor durchquert hatte. Es war, als wäre die Magie, die er mit sich herumtrug, in seiner Haut eingeschlossen worden, was die meisten seiner Zauber wirkungslos machte. Der Machtverlust war so groß, dass Ragnar wusste, dass er sich nicht in seine Drachengestalt zurückverwandeln oder seinen Blitz schleudern konnte, egal, wie sehr er es wollte. Selbst seine körperliche Kraft war nicht so stark wie sonst – es war, als wäre er wirklich menschlich geworden. Und was ihn wirklich verblüffte, war, dass all die Macht, die diesen Ort schützte, von einer einzigen Quelle ausging – Lord Reidfurd selbst.

Er folgte dem Elfenlord zu seinem Palast, und Keita verlangsamte ihren Schritt, sodass sie Seite an Seite gingen.

»Was tust du hier?«, fragte sie leise.

»Dir Rückendeckung geben.«

»Ich brauche keine Rückendeckung von dir.« Und eine kurze Sekunde lang meinte er, die alte, unerträgliche Keita wiederzuhaben. Bis sie hinzufügte: »Auch wenn ich es sehr zu schätzen weiß, Mylord.«

Verdammt! »Keita …«

Sie ging schneller und trat mit ihrem Gastgeber durch die Tür.

Ragnar ging hinter ihnen hinein, musste aber direkt am Eingang stehen bleiben. Er hatte von Orten wie diesem gehört, aber nie einen gesehen. Selbst das Schloss der Menschenkönigin sah nicht annähernd so aus. Der Eingangsbereich war aus purem Marmor, die komplizierten Muster, die in die Wand graviert waren, waren mit purem Gold hervorgehoben. Stehende goldene Fackelhalter säumten den Gang, und brennende Kristalllüster über ihnen ließen den ganzen Bereich im Lichterglanz erstrahlen. Und eingerahmt wurde der Eingangsbereich – von zwei sechs Fuß hohen Phalli.

»Brauchst du etwas, Bruder?«, fragte ihn Reidfurds Assistent.

»Nein danke.«

»Wenn du mir dann bitte folgen möchtest.«

Ragnar folgte der kleinen Gruppe den unglaublich langen Gang entlang, an einem Raum nach dem anderen vorbei, deren Türen alle geschlossen waren. Doch er brauchte nur einen Augenblick, um die Geräusche zu erkennen, die durch die verschlossenen Türen drangen – die Geräusche von Sex. Außerdem durchdrang auch der entsprechende Geruch alles und offenbarte, was für eine Art Schloss dies war. Götter, war Keita so wütend und verletzt durch das, was er gesagt hatte, dass sie auf der Suche nach Trost und Aufmunterung hierhergekommen war? Auf der Suche nach kaltem, anonymem Sex?

Andererseits, wenn er ehrlich zu sich war – und in den letzten zwei Tagen hatte er sich gezwungen, brutal ehrlich zu sich selbst zu sein –, das passte nicht zu Keita, oder? Kalter, anonymer Sex passte zwar zu ihr, aber es zu tun, weil sie verletzt oder wütend über seine Dummheit war? Nein. Keita schien ihm viel direkter – wahrscheinlich würde sie ihn wieder mit ihrem Schwanz durchbohren. Oder warten, bis er schlief, und ihn dann von einem Berg rollen. Ja. Das war eher der Stil von Keita der Schlange, wurde ihm jetzt bewusst.

Warum zur Hölle waren sie dann hier?

Endlich erreichten sie einen abgeschiedenen Raum am Ende des Flurs. Eine Höhle für Reidfurd selbst, so schien es. Der Assistent schloss die Tür hinter ihnen allen und bot Ragnar und Keita Sessel an. Als sie alle bequem in ihren Ledersesseln saßen, fragte Athol: »Also, was führt dich hierher, meine Schöne?«

»Ich suche jemanden, und ich habe gehört, dass sie in den letzten Monaten mehrmals hier waren.«

»Viele Leute kommen nach Castle Moor, Keita, das weißt du.«

»Und du kennst jeden Einzelnen von ihnen. Also lassen wir die Spielchen.«

Der Assistent hielt eine Weinkaraffe hoch, aber Keita winkte ab. Er bot Ragnar dasselbe an, und nach dem langen Tag, den er hinter sich hatte, dachte er ernsthaft darüber nach, ein Glas zu nehmen, bis er sah, wie Keita fast unmerklich den Kopf schüttelte.

Er winkte den Assistenten fort.

»Keinen Wein, Bruder?«, fragte Reidfurd, der ihn genau beobachtete.

»Nein danke.«

»Dann etwas Obst?« Athol bot Ragnar eine Platte mit frisch aufgeschnittenen Früchten an. Hungrig, aber wohl wissend, dass man genauso leicht etwas ins Essen mischen konnte wie in den Wein, schüttelte er den Kopf. »Sicher? Das ist von den Bäumen hier im Garten. Ich lasse es jeden Tag frisch pflücken«, erzählte er Keita. »Es kommt bei vielen meiner Gäste sehr gut an.«

»Nein danke«, sagte Ragnar noch einmal.

»Wie du willst.« Athol stellte die Platte auf den Beistelltisch und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Also, alte Freundin, nach wem suchst du?«

Er schien sehr entgegenkommend zu sein, aber als Keita den Mund aufmachte, sah Ragnar, wie sie sich anders überlegte, was sie sagen wollte. Er wusste nicht, warum oder was es bedeutete, aber sie platzte heraus: »Waren irgendwelche Souveräne hier?«

»Souveräne? Aus den Hoheitsgebieten?«

»Kennst du noch andere Souveräne, Athol?«

»Ah, ja. Dein Sarkasmus. Die Verwendung deines Mundes, die mir am wenigsten lieb ist.«

 

Ihr Götter, sie hatte vergessen, was für ein unerfreuliches Arschloch Athol sein konnte. Das hatte sich nicht geändert, aber dafür etwas anderes. Sie wusste nur nicht, was. Aber sie fühlte sich unbehaglich in seiner Gegenwart, während es eine Zeit gegeben hatte, als das genaue Gegenteil der Fall gewesen war. Also ging sie vorsichtig mit ihm um, nahm sich seine Versuche, sie zu beleidigen, nicht zu sehr zu Herzen und ignorierte den Nordland-Kampfhund, der Athol aus seinem Ledersessel heraus anknurrte. Keita hob eine Hand, um Ragnar zum Schweigen zu bringen, und sagte zu Athol: »Ich weiß, ich weiß. Mein Sarkasmus hat dich immer genauso verärgert, wie dein winziges Ding mich immer enttäuscht hat. Das sind die Dinge, über die wir im Namen der Freundschaft hinwegsehen wollen.«

Athols Lächeln erstarb, und Keita kicherte und sagte. »Ich mache nur Spaß, alter Freund. Das weißt du doch.«

»Ja. Natürlich.« Auch wenn er nicht allzu überzeugt aussah. »Ich bin sicher, dass ein oder zwei Souveräne den Weg hierher in mein Heim gefunden haben. Ich habe viele Gäste, die bereit sind, für nur eine Nacht hier in meinem Herrenhaus einiges zu riskieren. Aber du weißt, ich gebe keine Namen weiter, Lady Keita. Die Leute kommen zu ihrem Privatvergnügen hierher. Nicht jeder ist so mitteilsam wie du darüber, wo du hingehst und wen du vögelst.«

»Ich sehe nicht ein, warum ich mich dafür schämen sollte, wen ich vögle und wen nicht, aber so bin ich eben.«

»Vielleicht könntest du mir den Namen des Souveräns sagen, den du suchst …«

»Ich habe keinen Namen, aber er müsste ungefähr im letzten halben Jahr hier gewesen sein.«

»Tja, du weißt, alte Freundin, es kommen so viele … und sie kommen wieder und wieder.« Athol warf Ragnar einen Blick zu und meinte: »Alter Scherz.«

Ragnars Erwiderung war ein so intensives Starren, dass Lord Reidfurd zum ersten Mal, seit Keita sich erinnern konnte, unbehaglich auf seinem Sessel herumrutschte, und das nicht, weil jemand nackt war und zu seinem Vergnügen ausgepeitscht wurde.

»Aber es würde dir doch nichts ausmachen, wenn wir uns umsehen, oder, Athol?« Zur Sicherheit zog sie einen winzig kleinen Schmollmund. »Bitte?«

Keita beobachtete jede Bewegung des Elfs, wie er atmete, was seine Hände taten, ob Körperteile zuckten. Sie beobachtete alles, sodass sie wusste, dass er log, als er »Natürlich nicht« antwortete. Es machte ihm sehr wohl etwas aus. Zu schade, dass es sie nicht kümmerte.

Sie klatschte in die Hände. »Großartig!«

 

Das Einzige, was Keita zu ihm sagte, bevor sie ihren Rundgang durch Castle Moor begannen, war: »Iss und trink nichts.« Ragnar wusste, dass vergiftet zu werden nur ein Teil ihrer Sorge war. Sie wollte auch nicht, dass Ragnar versehentlich irgendein Aphrodisiakum nahm, das ihn dazu brachte, sich auf dem Boden zu räkeln wie eine große Katze.

Nach dieser Warnung gingen sie von Zimmer zu Zimmer, von Stockwerk zu Stockwerk – und wonach sie suchten, wusste Ragnar immer noch nicht. Doch er hörte bald damit auf, groß darüber nachzudenken, als er sich davon ablenken ließ, was um ihn herum vor sich ging.

Er hatte noch nie so viel Sex zur selben Zeit am selben Ort gesehen, seit er vor mehreren Dekaden an einem magischen Massen-Sexritual teilgenommen hatte. Und obwohl all dieser Sex um ihn herum sein Ding steif werden ließ und seinen Blick auf Keitas perfekt proportionierten Hintern fixierte, ohne dass es Hoffnung auf Erleichterung gab, war er trotzdem froh, dass er seinem Instinkt gefolgt und mit ihr gekommen war. Wie die Wölfe, die sich am Vorabend an ihren Schwanz geschmiegt hatten, wurden die Männer an diesem Ort von ihr angezogen. Sie unterbrachen, was auch immer sie gerade taten, und strichen mit ausgestreckten Händen und offenen Mündern um sie herum.

Sie wies jedes männliche Wesen – und ein paar weibliche – jedoch mit Leichtigkeit ab. Mit einem Lächeln und einem Abwinken oder Kopfschütteln oder indem sie einen gutaussehenden Nackten vor sich zog, um diejenigen abzulenken, die ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollten.

Sie schickte einen weiteren lüsternen Mann weg und sah sich in dem Ballsaal im ersten Stock um, in dem sie nun angekommen waren. Falls sie all den Sex um sie herum sah, zeigte sie es eindeutig nicht. Stattdessen runzelte sie die Stirn.

In diesem Moment erkannte Ragnar etwas in Keitas Blick, das er nur bei wenigen anderen gesehen hatte. Bei seiner Mutter, bei Dagmar und bei ein paar seiner Cousinen.

Und dieses Etwas war kühle, schonungslose Berechnung.

»Was hoffst du zu finden?«, fragte er.

»Meine Tante.«

Vielleicht, aber Keita suchte nicht nur nach ihrer Tante – sie suchte nach Antworten. Antworten über ihre Tante, ja, aber mehr als das. Es war ein feiner Unterschied, aber dennoch immens in seiner Komplexität.

Ragnar sah sich um. »Hier? Du hoffst, Esyld hier zu finden?«

Sie schnaubte und stemmte die Hände in die Hüften. »Und was soll das nun heißen?« Obwohl Ragnar nicht vorhatte, in diese Falle zu treten, warf Keita die Hände in die Höhe, als wäre er gerade dabei, es doch zu tun. »O nein. Ich wette, ich kann es erraten. Nur eine Hure würde hierherkommen, richtig? Und im Gegensatz zu mir ist meine Tante keine Hure.«

»Das habe ich nie gesagt.«

»Dann ist meine Tante also eine Hure?«

Warte. »Und das habe ich auch nie gesagt.«

»Dann bin also nur ich eine Hure, und Esyld ist eine Heilige?«

»Das habe ich auch nicht gesagt.«

Keita warf ihm ein »Hm!« hin und marschierte davon. Ragnar wollte ihr folgen, doch eine junge Frau fiel vor ihm auf die Knie.

»Ein Mönch«, schnurrte sie und sah ihn lüstern an. »Was für ein ungezogener Leckerbissen!«

Sie griff nach seinem Gewand, und Ragnar schnappte ihre Hände, aus Angst, er würde sie nicht mehr bremsen können, wenn sie ihre Hände erst einmal an ihn gelegt hatte. Er war nur ein Drache – kein Heiliger.

»Nein, nein«, sagte er rasch. »Nicht anfassen.«

»Bist du schüchtern?«, neckte sie ihn.

Schüchternheit war nicht das Problem – und etwas sagte ihm, dass er diesen Raum nie verlassen würde, falls er dieser Frau sagte, er sei ein schüchterner Mönch –, aber Keita aus den Augen zu verlieren, wenn sie um eine Ecke bog, war definitiv ein Problem.

»Nicht schüchtern. Verflucht.« Auch das brachte ihre Augen zum Leuchten, deshalb fügte er rasch hinzu: »Verflucht mit einer Krankheit. Einer ansteckenden.« Sie riss ihre Hände weg, und Ragnar ging um sie herum und hinter Keita her.

Er sah sie am Ende des Flurs, wo ein nackter Mann ihren Arm ergriffen hatte. Doch im Gegensatz zu vorher, als Keita sich mühelos ihren Weg aus diesen unangenehmen Situationen gebahnt hatte, ließ dieser Mann sie nicht los. Und was noch beunruhigender war: Er riss sie an sich und zog sie zur Hintertür hinaus.

Den Kopf gesenkt, folgte Ragnar und stürmte durch dieselbe Tür, blieb aber abrupt stehen – das musste er auch, bei all den Schwertern, die auf ihn gerichtet waren.

 

»Und wer ist das dann?«, wollte Lord Sinclair DeLaval wissen, als Ragnar aus der Hintertür gestürmt kam wie ein wütender Bulle. »Noch ein Liebhaber?«

»Ein unschuldiger Mönch«, beruhigte ihn Keita. »Nichts weiter.«

Ihr Götter, was für ein Fehler DeLaval gewesen war. Zwölf Jahre, und der Mensch hatte ihre eine Nacht immer noch nicht abgehakt. Sie sah ihn nicht oft, aber wenn sie es tat, dann versuchte er, sie mit Schmeicheleien, Geschenken und Charme zurückzuerobern. Alles, um sie wieder in sein Bett zurückzuholen. Aber eine Nacht hatte gereicht. Er war nicht schlecht gewesen. Tatsächlich war es eine vergnügliche Nacht gewesen – wenn sie sich recht erinnerte. Doch die, die hinterher unbedingt klammern mussten, machten sie immer nervös.

Und das war der Grund.

Keita lächelte Sinclair an, doch ihr Blick war auf das Tor hinter ihm konzentriert. Im Moment konnten weder sie noch Ragnar ihre wahre Gestalt annehmen oder ihre natürlichen Gaben nutzen. Athol sorgte dafür, denn er mochte keine Überraschungen in seinem Gutshaus. Doch hinter dem Tor konnte nichts die beiden Drachen zurückhalten. Das Problem war nur, zu dem Tor zu kommen. DeLaval hatte als Adliger Athols Erlaubnis, seinen kleinen Wachtrupp als Schutz mitzubringen. Und weil DeLaval so gut zahlte, konnte er sich frei auf dem Gelände bewegen. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, wurde Keita bewusst, dass einer der vielen Gründe, warum sie aufgehört hatte, nach Castle Moor zu kommen, DeLaval mit seiner notgeilen, verzweifelten Art gewesen war. Aber sie war so auf ihre Tante, ihre Mutter und den verdammten Blitzdrachen konzentriert gewesen, dass sie DeLaval ganz vergessen hatte. Jetzt saßen sie und Ragnar beide in der Falle.

Natürlich sprach sie immer noch nicht mit Ragnar – nur wenige hatten es geschafft, sie so wütend zu machen wie er, und dann gleich zwei Mal –, aber es würde ihrer Beziehung zu ihrer Mutter auch nicht förderlich sein, wenn der Drachenlord aus den Nordländern auf Südland-Territorium getötet wurde. Und sie wollte nicht, dass er starb, das musste sie sich eingestehen. Dass er auf dem Boden kroch vielleicht, aber nicht, dass er starb.

»Komm mit mir zurück, Keita«, bat DeLaval. »Komm mit mir nach Hause. Ich will nur reden.«

Der Mann stand nackt und mit einer Erektion vor ihr und wollte nur reden. Ehrlich, damit zeigte er ihr nur wieder einmal, warum sie die Anhänglichen so hasste!

Sie wusste, dass sie hier raus musste, und zwar schnell. Sie konnten sich nicht verwandeln, und damit waren sie und Ragnar diesen scharfen Waffen ausgeliefert.

»Sinclair, Liebling.« Sie legte ihre Hand an seine Wange. »Das würde ich zu gern tun, aber ich muss zuerst nach Hause. Wir können uns später treffen.«

DeLavals Kiefer spannte sich, und Keita wurde klar, dass sie ihn gleich hätte anlügen sollen, und sei es nur, damit er sie hinter dieses verdammte Tor brachte. Doch statt eines weiteren Anlaufs, bei dem DeLaval flehte, vor ihr im Staub kroch und ihr Geschenke machte, bis Keita ihn stehen ließ – was bisher immer so geschehen war –, würde es jetzt ganz anders werden. Vor allem, wenn seine Männer zusahen.

DeLavals Griff um ihren Oberarm wurde fester und ließ Keita schmerzlich das Gesicht verziehen.

»Lass uns das drinnen besprechen«, sagte er und zog sie zurück zur Tür, während Athol tatenlos zusah.

Keita sah sich rasch um, ob es einen einfachen Ausweg gab, doch bis auf Athols Assistenten – der ziemlich besorgt aussah, aber seinen Herrn so sehr fürchtete, dass er niemals einschreiten würde – sah sie niemanden, der einer einsamen Frau und ihrem mönchischen Begleiter helfen würde. Denn das waren sie DeLavals Meinung nach. Der Adlige hatte nie die Wahrheit über sie erfahren – viele menschliche Adlige kannten die Wahrheit nicht. Und sie brachten sie selten mit den königlichen Drachen in Verbindung, die bei der Menschenkönigin der Dunklen Ebenen lebten. Trotzdem, wollte ihr niemand an diesem verdammten Ort helfen?

Andererseits war das die Art von Unterhaltung, die viele von Athols Gästen angeblich liebten. Diese Gerüchte hatte sie immer abgetan, weil sie nie einen Beweis dafür gesehen hatte – bis zu diesem Moment. Bis sie den Blick in Athols Gesicht sah, während er kühl zusah, wie DeLaval versuchte, sie wieder ins Schloss zu zerren.

Im Gegensatz zu DeLaval wusste Athol genau, wer und was sie war. Er wusste auch, was Ragnar war, selbst wenn er seinen Titel und seine Blutlinie nicht kannte. Und Athol wusste, dass diese Situation sich leicht in beide Richtungen entwickeln konnte, je nachdem, wie gut Ragnar in Menschengestalt kämpfen konnte und wie schnell DeLaval sie in Ketten legte.

Wenn sie die Wahrheit über Athol gewusst hätte, hätte sie schon vor langer Zeit Spaß daran gehabt, das Gebäude um den Elf herum niederzubrennen. Dafür war es aber jetzt zu spät. Zu spät für Reue.

»Keita?« Sie hörte die Frage in Ragnars Stimme und durchschaute, was hinter den andächtig gefalteten Händen und dem geneigten Kopf steckte. Er mochte ein Drachenmagier sein, aber er wusste, wie man ein Schwert, eine Streitaxt, eine Pike benutzte – als Drache und als Mensch.

Zu wissen, dass sie sich keine allzu großen Sorgen um den Blitzdrachen machen musste, erleichterte ihr die Sache ein klein wenig. Aber nur ein klein wenig.

»Meine Männer werden dir Gesellschaft leisten, Mönch«, sagte DeLaval zu Ragnar. Er zerrte noch einmal an Keita, aber sie grub ihre nackten Füße in den Boden und ließ sich nicht von der Stelle bewegen. Denn sie wusste, wenn sie einmal im Haus war, würde DeLaval alle Hilfe haben, die er brauchte, um sie an eine von Athols Bühnen zu ketten.

DeLaval trat auf sie zu, sein Atem strich heiß über ihr Gesicht. »Ich lasse deinen Mönch töten, Mylady. Und ich erlaube meinen Männern, ihren Spaß mit ihm zu haben, bevor sie es tun.«

Und schwer seufzend, wusste Keita, was sie tun musste, um all dem ein Ende zu machen – auch wenn sie schon den Gedanken daran verabscheute.

 

Ragnar behielt die Männer im Auge, die Waffen auf ihn und Keita richteten. Sie weigerte sich mitzugehen, aber das würde sie nicht lange durchhalten. Noch erschreckender war, dass der Herr des Hauses tatenlos danebenstand. Das hätte Sinn ergeben, wenn Keita ihre Drachengestalt annehmen und sich ganz leicht selbst hätte retten können, aber Athol hatte schon dafür gesorgt, dass das nicht möglich war. Dadurch blieb ihnen beiden nur eine Möglichkeit.

Keita senkte den Blick, dann den Kopf und presste ihren Körper an den Adligen, der sie festhielt. Sie hob eine Hand von ihrer Hüfte und legte sie ihm an die Wange; ihre Finger krochen langsam an seinem Kieferknochen entlang, der Zeigefinger presste sich auf seine Lippen, bis er ihn in seinen Mund sog.

»Es tut mir leid«, sagte Keita mit sehr leiser Stimme. »Aber ich mag es nicht, zu etwas gezwungen zu werden. Früher hast du das gewusst – und respektiert.«

Sie zog ihren Finger aus seinem Mund, und DeLaval blinzelte auf sie hinab, stöhnte und machte einen Schritt zurück. Dann begann sein ganzer Körper zu zittern, und er sank auf die Knie, die Hände an seine Kehle gelegt.

Seine Männer wandten sich ihrem Herrn zu, und Ragnar erwischte den Arm des Wächters, der ihm am nächsten war. Er drehte das Handgelenk des Schwertarms, bis die Waffe in seine freie Hand fiel; dann drehte er weiter, bis er die Knochen vom Handgelenk bis hinauf zur Schulter brechen hörte.

Jetzt richteten DeLavals Männer ihre Aufmerksamkeit wieder auf Ragnar, aber es war zu spät. Er hatte eine Waffe und fast zwei Jahrhunderte mehr Übung als sie. Er schleuderte den Mann mit dem zerstörten Arm aus dem Weg und schlitzte dem Mann, der vor ihm stand, den Bauch auf. Organe klatschten auf den Boden, und Ragnar zog die Klinge heraus, wirbelte herum und schlug einen Kopf ab, wirbelte zurück, ging in die Hocke – womit er erfolgreich dem Kurzschwert auswich, das auf seinen Hals gezielt hatte – und schwang seine Klinge aufwärts in den Unterleib eines weiteren Wächters. Während er noch das Schwert herausriss, griff er mit seiner freien Hand die Kehle des nächsten Wächters, der auf ihn losging, und zerquetschte all die kleinen Wirbel und Knochen, bis der Mann nicht mehr atmen konnte.

Er ließ den zappelnden Mann fallen und trat von ihm zurück, das Schwert an seiner Seite gesenkt, aber bereit. Es waren noch vier Wächter übrig, die ihn jetzt umzingelten. Keita stand am Rand und sah ihm zu, während sich der Adlige zu ihren Füßen auf dem Boden krümmte. Hätte der Adlige nur früher gemerkt, dass sie das Interesse an ihm verloren hatte – und es akzeptiert –, würde er jetzt wahrscheinlich nicht im Sterben liegen.

Ragnar hob den Blick zu den restlichen Wächtern. »Holt mich doch«, sagte er. Und als sie ihn nur anstarrten: »Holt mich doch!«

 

Keita zuckte ein wenig zusammen, als der Nordländer brüllte. Sie hatte nicht gewusst, dass der versnobte Bastard fähig war, so … barbarisch zu sein.

Es gefiel ihr.

Zu schade um diese armen, dummen Wachen. Hatten sie sich wirklich von seiner Mönchskutte täuschen lassen? Und was noch schlimmer war: Nachdem Ragnar mehrere ihrer Kameraden aufgeschlitzt und geköpft hatten, rannten sie immer noch nicht davon. Warum, war ihr ein Rätsel. Denn ihr Dienstherr zitterte und wälzte sich zu ihren Füßen auf dem Boden herum, Schaum quoll aus seinem Mund – bald würde es allerdings Blut sein – und er musste jeden Augenblick seinen letzten Atemzug tun; was nützte es also, weiterzukämpfen?

Vielleicht war das ein Männerding, denn Keita hatte nie Skrupel, aus einer gefährlichen Situation fortzugehen, wenn sie musste. Andererseits hatte ihr Bruder auch keine – und Gwenvael war männlich … zumindest überwiegend.

Und wie dumme Männer eben sind, ignorierten sie die Logik und griffen Ragnar an. Keita verzog ein bisschen das Gesicht und beobachtete, wie der Nordländer sich ohne jede Gnade oder Mitleid auf sie stürzte. Ein Kopf rollte vorbei, und Keita wickelte sich schnell den Umhang fester um den Körper, um ihr Kleid vor verirrten Blutspritzern zu schützen.

Der zweite Wächter wurde zweigeteilt. Der dritte verlor beide Arme. Der vierte bekam Ragnars Faust zu spüren. Nur ein Mal, aber das genügte, um sein Gesicht vollkommen zu zerstören.

Als alle Wachen tot, sterbend oder bewegungsunfähig waren, konzentrierte sich Ragnar auf Athol.

Keita rannte auf Zehenspitzen – und um eine endlose Menge Blut herum – zu Ragnar hinüber, stellte sich vor ihn und stemmte die Hände gegen seine Brust.

»Lass es gut sein.«

»Er hat dir nicht geholfen«, sagte Ragnar.

»Lass es gut sein.«

Sie sah, wie der Drachenlord, der voller Blut und menschlicher Einzelteile war, seine Wut unterdrückte und die vollkommene Kontrolle über seine Gefühle zurückgewann. Als er sich beruhigt hatte, nickte er, und Keita deutete zum Tor. Er ging hinaus, und Keita ging zu Athol hinüber.

Als sei nichts geschehen, sagte sie: »Also, ich muss gehen.«

»So früh?«

Keita zügelte ihren Drang, dem Elf das Gesicht abzubeißen. »Leider. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf, und wir müssen morgen früh aufbrechen.«

»Und hast du gefunden, wonach du gesucht hast, meine schöne Keita?«

»Nein. Aber vielleicht kann ich ein andermal wiederkommen und weitersuchen?«

»Jederzeit, alte Freundin. Das weißt du doch.«

Freundin? Wirklich? Doch Keita würde auch dazu nichts sagen. Jemand wie Athol war nützlich. Außerdem war er nicht wie die Menschen. Er wäre weder für sie noch für Ragnar einfach zu töten gewesen – nicht auf seinem eigenen Territorium.

Athol gab Keita einen Handkuss und zwinkerte ihr zu. Mistkerl. Seinem Assistenten wiederum schenkte Keita ein kleines, respektvolles Kopfnicken, denn sie konnte das ehrliche Bedauern im Gesicht des Jungen sehen. Sie wusste, dass er ihr hatte helfen wollen, und verstand, warum er es nicht konnte. Er trug vielleicht weder Halsband noch Leine wie einige von Athols Gästen, aber das hieß nicht, dass er nicht genauso zur Unterwerfung gezwungen war.

Sie ging durch das Tor und auf die Straße. Sofort spürte sie, wie Athols Macht von ihr abfiel, und es schockierte sie, dass sie bisher nie bemerkt hatte, wie beklemmend diese Macht war. Als das Tor sich hinter ihr schloss, atmete sie zitternd aus und rieb sich die Stirn.

»Bist du in Ordnung?«

Und was sie jetzt wirklich nicht brauchte, war, dass Ragnar nett zu ihr war. Sie hatte immer noch keine Ahnung, wo ihre Tante war oder ob sie den Thron verraten hatte; und sie mussten auch noch mindestens einen Tag lang fliegen, nur um sich dann am Ende der Reise ihrer Mutter stellen zu müssen.

Den Drachenlord zu beschimpfen war eine Möglichkeit, und sie dachte kurz darüber nach, aber auch dafür war sie einfach nicht in Stimmung.

»Mir geht es gut«, sagte sie.

»Was hast du mit ihm gemacht?«

»Mit DeLaval?« Sie hob den Zeigefinger, an dem sie ihn saugen lassen hatte. »Loeizkraut. Ich habe immer ein bisschen davon in der Tasche.«

»Um Leute zu vergiften?«

»Wenn sie aufdringlich werden … ja.«

 

Ragnar musterte die Drachin, die vor ihm stand, und langsam dämmerte es ihm.

Sie hatte diesem Adligen und dem Elf gegenüber ohne das kleinste bisschen Angst oder Panik gehandelt, auch wenn sie im Grunde in ihrer menschlichen Gestalt gefangen war. Und sie kannte nicht nur das seltene Loeizkraut, sondern hielt auch etwas davon versteckt und wusste, wie man es benutzte.

Er wusste das, denn Loeiz wurde in Essen oder Getränken vollkommen wirkungslos. Es musste direkt mit Speichel oder den Schleimhäuten reagieren, um schnell zu töten, oder in einen kleinen, blutenden Schnitt gegeben werden, wenn man Zeit brauchte zu verschwinden, bevor der Tod eintrat. Und sehr wenige kannten die Verwendung des Krautes als Gift, denn es war schwer zu finden, und man konnte es nur ganz kurz vor dem Aufblühen pflücken. Zu früh gepflückt, konnte man es wunderbar rauchen. Zu spät gepflückt, war es köstlich als Würze für Fleischgerichte.

Ragnar trat näher und sah ihr in die Augen. Sie war zu müde, um Spielchen zu spielen. Zu zornig, um ihn zu necken oder zu quälen. Und als er hinsah, sah er nur die Wahrheit. Vielleicht wäre er sich nicht so dumm vorgekommen, wenn er vorher schon genauer hingesehen hätte.

Denn sein Vetter und sein Bruder hatten die ganze Zeit recht gehabt – Ragnar hatte Prinzessin Keita falsch eingeschätzt. Zwar glaubte er immer noch, dass sie mit allem ins Bett gehen würde, was ihren Weg kreuzte, aber dumm war diese Drachin keineswegs. Gefährlich weit davon entfernt – wie dieser Adlige, der auf Athols gepflastertem Hof verblutete, jetzt wusste.

»Willst du sonst noch etwas fragen, Mylord?«

Er hoffte, ihr Gespräch wieder in Gang zu bringen, und fragte: »Was ist mit Esyld?«

Sie wandte den Blick ab. »Ich weiß nicht.« Dann murmelte sie tonlos: »Aber ich glaube, er weiß etwas.«

»Wer weiß etwas? Lord Reidfurd?«

Keita wollte etwas sagen und sah aus, als habe sie vor, sich ihm anzuvertrauen, aber dann bremste sie sich und zwang sich zu einem harmlosen, ausdruckslosen Lächeln. »Es ist nichts«, antwortete sie auf seine Frage.

Und innerhalb eines Augenblicks waren sie wieder die langweilige Adlige und der beleidigende Warlord.

Ragnar ertrug es nicht.

»Keita …«

»Wir sollten zurückgehen. Wir müssen morgen noch weit reisen, und ich brauche wirklich meinen Schlaf.« Sie neigte leicht den Kopf, wie es die königliche Etikette verlangte – und in ihm das Bedürfnis weckte, sie zu erdrosseln –, und sagte: »Vielen, vielen Dank für deine Hilfe heute Abend, Mylord. Ich weiß sie sehr zu schätzen.«

Aber er wollte es nicht so enden lassen. Er verzweifelte langsam, um ganz ehrlich zu sein. Ein Gefühl, das er nicht gewohnt war und das ihm auch nicht gefiel. »Keita, rede doch bitte mit …«

Aber ohne darauf zu warten, dass er seinen Gedanken zu Ende aussprach, machte sie sich auf den Weg, und Ragnar blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Wieder einmal.

 

Keita fand Ren ein paar Zentimeter über dem Boden schwebend beim Meditieren vor. Wie er das machte, wusste sie nicht. Sie brauchte zum Fliegen echte Flügel.

Ohne dass sie ein Wort sagte, spürte er ihre Gegenwart und senkte sich zur Erde ab.

»Wie ist es gelaufen?«

Sie schüttelte den Kopf und zog ihre Kleider aus. Dann machte sie einen Kopfsprung in den See, wechselte mehrmals zwischen ihrer menschlichen und ihrer Drachengestalt, bis sie sich für ihre menschliche entschied und an Rens Seite schwamm. Er war ebenfalls in Menschengestalt und wartete in der Nähe des Ufers im Wasser auf sie.

»Athol hat Spielchen gespielt«, sagte Keita, als sie durch die Wasseroberfläche brach. Sie hatte nicht vor, ihrem Freund zu erzählen, was mit DeLaval passiert war. Es hätte ihn nur aufgeregt, und jetzt konnte man schließlich sowieso nichts mehr machen, nicht wahr? »Das gefiel mir nicht.«

»Du glaubst, dass er etwas weiß?«

»Vielleicht. Ich weiß nicht. Er war immer schon ein bisschen komisch.«

»Vielleicht hat er gehofft, du würdest Tauschgeschäfte machen, wie es manche seiner Gäste tun.«

Keita kicherte. »Ich kann mit aller Ehrlichkeit sagen, dass ich niemals eine Körperöffnung gegen etwas eingetauscht habe, und ich werde jetzt nicht damit anfangen.«

Sie legte ihre Arme auf den Rand des Sees und ihre Wange darauf. »Vielleicht kann ich Gorlas eine Nachricht schicken, wenn ich heimkomme. Vielleicht kann er die Wahrheit für uns herausfinden.«

»Vielleicht.« Ren küsste ihre Schulter. »Was ist dort sonst passiert?«

»Oh, nicht viel. Aber dieser Idiot ist mir gefolgt.«

»Gut«, sagte Ren und überraschte sie damit. Er hatte eine ziemliche Wut auf den Warlord, seit Keita ihm gesagt hatte, dass ihre Wette hinfällig war und warum. »Es gefiel mir nicht, dass du allein hinwolltest.« Und Ren hatte mit seiner Sorge recht gehabt.

»Athol hätte dir nicht vertraut, Ren.«

»Aber dann ist alles gutgegangen? Mit dem Nordländer an deiner Seite?«

»Er kleidete sich als Mönch. So lief alles bestens.« Und Keita wurde bewusst, dass sie letztendlich ziemlich dankbar für Ragnars Anwesenheit gewesen war. Er hatte sie beschützt und ihr Sicherheit gegeben.

Zu dumm nur, dass er sich immer noch nicht bei ihr entschuldigt hatte. Stattdessen versuchte er ständig, mit ihr zu »reden«. Sie hasste das. Wenn Keita Mist baute, sagte sie, dass es ihr leid tat, und versuchte, es wieder gutzumachen. Sie versuchte nicht, sich herauszureden und zu erklären, was sie gesagt oder wie sie es gemeint hatte oder sonst einen Zentaurenmist, mit dem Männer wie Ragnar ankamen, statt sich einfach zu entschuldigen. Bevor er das nicht getan hatte, würde sie nicht mit ihm »reden«. Egal, wie rührend bekümmert er aussehen mochte.

 

Ragnar fand einen ruhigen Platz, der nahe genug am Lager war, um bei eventuellen Problemen eingreifen zu können, aber nicht so nah, dass das ständige Geschnatter eines gewissen großen blauen Drachen ihn ablenkte. Als er es sich gemütlich gemacht hatte, zum Glück inzwischen wieder in seiner Drachengestalt, tat er, was er immer tat, wenn er sich so fühlte – auch wenn er sich seiner Meinung nach noch nie so schlecht gefühlt hatte. Ragnar öffnete seine Gedanken und rief. Ein paar Sekunden später kam eine Antwort.

Mein Sohn.

Mutter.

Was ist los?

Ragnar hockte mit angezogenen Hinterbeinen auf dem Boden, die Ellbogen abgestützt, sodass er den Kopf in seine Klauen sinken lassen konnte.

Ich bin ein Idiot, erklärte er ihr schlicht.

Er hörte das liebevolle Lachen seiner Mutter in seinem Kopf und fühlte sich schon besser. Oh, mein süßer Junge. Dagegen kann ich leider nichts tun. Es liegt in deinen Genen. Genau wie der Blitz.