5 Einige Stunden später landeten sie in einem dichten Wald in den Außenebenen. Eine Gegend, die Keita recht gut kannte. Zu gut. Es war der Ort, den ihre Tante vor ein paar Jahrhunderten gewählt hatte, um in Ruhe und anonym zu leben. Die Tante, die ihre Mutter und ihr Hofstaat immer noch als Verräterin betrachteten.
Mit einem Anflug von Panik sah sie zu Ren hinüber, der nur mit den Achseln zucken konnte.
»Schlagen wir hier das Nachtlager auf?«, fragte sie den Warlord, während ihr kleiner Bruder loszog, um für sie alle etwas Warmes und Blutiges zu essen zu suchen. Und zum ersten Mal seit sie außerhalb von Bampours Land gestartet waren, sprach Ragnar mit ihr: »Nicht, wenn es nicht sein muss.«
»Dann machen wir hier also nur Pause?«
»Ja.«
Sie wartete auf mehr, aber er ignorierte sie und begann, mit seinem Bruder zu flüstern. Als Ragnar fertig war, ging er weg, und zwar in eine Richtung, die Keita gar nicht gefiel.
Keita schmiegte sich scheinbar spielerisch an Ren und verschränkte ihren Schwanz mit seinem. Doch während sie kicherte und ihn neckte, beugte sie sich zu ihm und flüsterte: »Siehst du, wo er hingeht?«
»Aye.«
»Ich bringe ihn um. Du kümmerst dich um die anderen beiden.« Sie wollte Ragnar folgen, doch Ren zog sie zurück.
»Müssen wir wirklich immer wieder darüber diskutieren?«
»Was würdest du denn vorschlagen, Fürst Ich-Töte-Nicht?«
»Du hältst König Überheblich auf. Ich kümmere mich um den Rest.«
»Na gut.«
Ren küsste sie auf die Wange und ging dann hin und her, bis er die Aufmerksamkeit der anderen beiden Blitzdrachen auf sich gezogen hatte. Es war nicht schwer – sie beobachteten Ren, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatten, mit etwas, das Angst sehr nahe kam. Zumindest mit so viel Angst, wie ein Nordländer sich anmerken lassen würde. Sie wussten nur, dass Ren anders war; und »anders« machte sie eindeutig nervös.
Während sie ihn beobachteten, lehnte sich Ren an einen kleinen Hügel – und war verschwunden.
»Was zum …«
Keita wusste, dass die Blitzdrachen jetzt Ewigkeiten nach ihm suchen würden, also folgte sie Ragnar.
Dagmar Reinholdt, unter ihren Landsleuten in den Nordländern auch als Die Bestie bekannt, machte ihre mittägliche Runde zu den Zwingern, um nach den Hunden zu sehen. Ihr neuester Wurf Welpen entwickelte sich gut, und die Männer, die sie eigens ausgesucht hatte, damit sie mit den Hunden trainierten und sie im Kampf führten, waren besser, als sie gehofft hatte.
Wie immer dachte sie voraus und plante, mit starken Kampfhunden für die Südland-Königin und ihre Soldaten bereitzustehen.
Sie vergewisserte sich, dass die Tiere gefüttert worden waren, dass alle gesund aussahen und dass sie frisches Wasser in ihren Ausläufen hatten. Als das erledigt war, ging sie die Reihe entlang, sprach mit jedem Tier, achtete auf Veränderungen und dachte über seine Ausbildung nach.
Doch als sie den letzten Zwinger erreichte, wurden die bellenden Hunde, die immer so lebhaft waren, wenn sie in der Nähe war, plötzlich still, und Dagmar spürte, wie sich ihr fast unmerklich die Nackenhaare sträubten.
»Muss das denn immer sein?«, fragte sie nach einem Augenblick.
»Was denn?«
Sie drehte sich zu der Göttin um, die hinter ihr stand. Inzwischen besuchten viele Götter sie gern, egal, wie sehr Dagmar ihre Anwesenheit störte oder wie dumm und inhaltslos ihre Gespräche sein mochten, doch Eirianwen, Menschengöttin und Gefährtin des Drachenvatergottes Rhydderch Hael, nannte Dagmar gern ihre »Freundin«. Das war seltsam, denn Dagmar verehrte keine Götter. Sie waren einfach viel zu nervtötend, um verehrt zu werden. »Schleich dich nicht immer so an mich heran!«
»Ich bin eine Göttin, Dagmar. Ich schleiche mich an niemanden heran. Es ist nicht meine Schuld, dass ich einfach erscheinen kann, wo immer ich will.«
Dagmar neigte den Kopf zur Seite. »Wo ist dein Arm?«
Eir musterte ihre linke Schulter. »Oh. Ach ja. Hab ich in einem Kampf verloren.« Sie zuckte mit der rechten Schulter. »Er wächst ja wieder nach.«
»Wie schön für dich.«
Nicht gerade ein angenehmer Anblick kurz vor dem Mittagessen. Natürlich hätte es schlimmer sein können. Ein paar Monate zuvor hatte der Göttin der halbe Kopf gefehlt, als sie aufgetaucht war. Nachdem Dagmar damit fertig gewesen war, sich zu übergeben, hatten sie allerdings noch ein sehr nettes Gespräch geführt.
»Also, wie läuft’s?«, fragte Eir.
»Ganz gut.«
»Und deine Königin?«
Dagmar wusste, dass die hinterlistige Kuh nicht nur da war, um nach ihr zu sehen. »Ihr geht’s gut.«
»Lügnerin.«
»Aber das kanntest du doch schon von mir.«
»Stimmt auch wieder.« Eir kam auf sie zu und hinterließ dabei eine Spur von Exkrementen, Blut und Schlamm. Ihrem Aussehen nach musste sie direkt von irgendeinem Schlachtfeld kommen. »Ich dachte, ich hätte deutlich gemacht, meine Freundin, dass deine Königin härter werden muss.«
Verärgert, dass die Göttin die Stirn hatte, das zu sagen, antwortete Dagmar: »Wenn sie noch härter wäre, würde sie nur noch aus Muskeln, Augen und einem Schwert bestehen.«
»Ich meine nicht körperlich, und das weißt du auch.«
»Sie tut ihr Bestes. Du kannst ihr keinen Vorwurf machen, dass sie sich um ihre Kinder sorgt. Nicht nach dem, was dein Gefährte getan hat.«
»Gib nicht ihm die Schuld.«
»Warum nicht? Es ist schließlich seine Schuld.«
»Du hast ihm immer noch nicht verziehen, oder?«
»Dass er mich den Minotauren in die Arme geschickt hat? Das soll wohl ein Witz sein!«
»Ihr Menschen nehmt immer alles so verflucht persönlich.«
»Wenn man mich Minotauren vorwirft – dann hast du wohl recht.«
»Na schön. Wie du meinst.«
Die Tür hinter Dagmar ging auf, und Eir rauschte an ihr vorbei hinaus.
Dagmar sah ihr nach und fragte schließlich. »Und wo ist Nannulf?« Sie konnte sich nicht erinnern, die Göttin jemals ohne ihren treuen Wolfsgott-Weggefährten gesehen zu haben.
»Der ist unterwegs und kümmert sich um andere Dinge.«
Dagmar verschränkte die Arme vor der Brust und blickte finster. Das gefiel ihr gar nicht.
Ragnar stapfte durch den Wald zu Esylds Haus. Er hasste das. Er hasste es, derjenige sein zu müssen, der sie in die Dunklen Ebenen zurückbrachte. Aber er hatte schon einen Plan.
Ursprünglich hatte er überlegt Esyld zu sagen, sie solle weglaufen, um Rhiannon dann zu berichten, sie sei nicht zu Hause gewesen. Doch er hatte das Gefühl, dass die Königin ihm das nicht glauben würde, und die Horde war seiner Meinung nach noch nicht bereit, sich bei ihr unbeliebt zu machen. Außerdem bestand das Risiko, dass Esyld gar nicht weglief. Sie hatte so etwas an sich. Als sei sie entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Das bewunderte er an ihr.
Also war seine nächste Option zwar nicht perfekt, aber besser als nichts. Er würde ihr anbieten, ihren Fall vor Rhiannon und den Ältesten der Südländer zu verhandeln. Er kannte sich in den Gesetzen der Feuerspucker ein bisschen aus, und mit der Hilfe einer guten Freundin – zumindest hoffte er, dass sie immer noch Freunde waren – hatte Ragnar das sichere Gefühl, genug Beweismaterial zusammentragen zu können, um Esyld zu beschützen.
Ja, es erschien ihm das Gerechteste und Logischste, und jetzt durfte sich nur Esyld keine Sorgen machen. Das würde nicht einfach werden, da war er sich sicher, aber er würde alles in seiner Macht Stehende tun, damit sie nicht in Gefahr geriet. Denn falls Rhiannon ihre Schwester wirklich tot sehen wollte, hätte sie die Sippe ihres Gefährten geschickt, um Esyld zu holen, und nicht ihn.
Überzeugt von seiner Entscheidung stapfte er weiter.
In der Nähe der Lichtung, die zu Esylds Haus führte, blieb er stehen. Er ging noch nicht viel länger als zehn Minuten, aber dennoch …
Er drehte den Kopf und schaute über seine Schulter. Sie saß mitten auf seinem Rücken auf ihrem Hinterteil, ihr Schwanz und die Flügel hingen auf der einen, ihre überkreuzten Hinterbeine auf der anderen Seite herunter. Sie benutzte eine Metallfeile, um ihre Krallen zu schärfen – und sie summte vor sich hin.
Wie lange ist sie schon da hinten?
Ragnar war immer stolz auf seine scharfen Sinne gewesen. Die zuckende Nase eines Kaninchens auf eine Meile Entfernung hören, einen Falken in zwanzig Meilen Höhe erspähen oder frische Rinder in hundert Meilen Entfernung riechen. Aber wie konnte es sein, dass er nicht merkte, dass eine verzogene Prinzessin ihn als Lastesel benutzte? Wie hatte er dieses götterverdammte Summen überhören können?
Er beschleunigte, um sie abzuschütteln, aber sie fragte nur: »Wo gehen wir hin?«
»Ich muss mich um eine Angelegenheit kümmern.«
»Eine Angelegenheit? Hier draußen? Allein?« Sie hob die Klaue und blies auf ihre Krallen.
»Ich wäre gleich zurückgekommen.«
»Ja, aber du könntest in Gefahr geraten. Ich könnte helfen.«
Klar. Natürlich könnte sie das. »Es wäre besser, wenn du zu meinen Brüdern zurückgehst.«
Sie glitt von seinem Rücken, wobei ihr Schwanz immens lang brauchte, um an ihm hinauf- und wieder herunterzugleiten, während sie um ihn herumging.
»Lord Ragnar, darf ich dir eine Frage stellen?«
»Wenn du möchtest.«
»Magst du mich nicht?«
Ragnar wusste nicht, wo das hinführen sollte, und sagte nur: »Ich dachte, unsere Beziehung sei vor zwei Jahren entschieden worden, Prinzessin.«
»Aber das ist so lange her. Es gibt keinen Grund, warum wir jetzt keine Freunde sein sollten.«
»Freunde? Du und ich?«
Sie strich mit ihrer Klaue an seiner Schulter entlang, seine Brust hinab, und ihre Krallen kratzten über die Narbe, die ihr Schwanz hinterlassen hatte. Ein Teil von Ragnar wollte ihr aus reinem Trotz jede einzelne Kralle abbrechen. Doch ein anderer, weicherer Teil von ihm wollte einfach die Augen schließen und stöhnen.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte sie, und ihre Krallen konzentrierten sich jetzt auf die Narbe. »Dass ich zu gut für dich bin. Und natürlich würden dir gewisse Kreise da absolut recht geben. Aber ich bin eine sehr fortschrittliche Prinzessin, und ich lasse mich nicht von Kleinigkeiten wie wenig beeindruckenden Blutlinien und barbarischen Tendenzen davon abhalten, die Freunde zu haben, die ich will.«
»Das ist sehr großzügig von dir.«
»So habe ich immer schon gedacht.« Sie drückte ihre Klaue auf seine Brust; die verdammte Narbe darunter erwachte wütend pochend zum Leben. »Ich fand schon immer, dass es wichtiger ist, Freunde zu haben, denen man vertrauen kann«, murmelte sie, »als Freunde, die einem nur in allen anderen wichtigen Dingen ebenbürtig sind.«
Nein. Er konnte nicht. Er konnte nicht länger mit diesem charakter- und geistlosen Weib sprechen. Egal, wie sehr sich sein Körper nach ihr sehnte – und Götter, sein Ding schrie ihn im Moment förmlich an! –, es überstieg seine Fähigkeiten als Drache und Nordländer, dieses Weib zu ertragen. Und nicht nur das … was in allen heiligen Höllen tat sie da mit ihrem Schwanz?
Ragnar trat kräftig mit dem Hinterlauf auf den Schwanz der Prinzessin, bevor dieser weiter irgendwohin glitt, wo er nicht hingehörte.
»Au!« Sie riss ihren Schwanz zurück und rückte von ihm ab.
»Tut mir leid. War das dein Schwanz? Ich dachte, es sei eine Schlange.« Er schnappte ihren Arm und drehte sie herum. »Wenn du jetzt bitte zurück zu meinen Brüdern gehst …«
»Nimm deine Pfoten von mir, du Bauer!«
»… verspreche ich, dass es nicht lange dauern wird, und wir können all deine progressiven Ansichten über Bauern und Königshäuser diskutieren, so viel du willst.« Er schob sie in Richtung seiner Sippe. »Und jetzt geh, Prinzessin, bevor ich gezwungen bin …«
Die verrückte Prinzessin klammerte sich an seinen Kopf und hielt sich fest, schnitt ihm das Wort ab und löste ein leises Seufzen bei ihm aus.
»Was tust du denn jetzt?«
»Offensichtlich zwinge ich dich zur Unterwerfung!«
»Ist dir dieses Theater denn überhaupt nie peinlich?«
»Nicht so peinlich, wie es dir sein wird, wenn ich mit dir fertig bin.«
Ragnar bekam ihren Flügel zu fassen, zog die Prinzessin von sich hinunter und schleuderte sie weg.
Sie überschlug sich und quiekte, rappelte sich aber schnell wieder auf. Sie duckte sich zu einem jämmerlich aussehenden Angriff.
»Prinzessin Keita, ich will nicht …«
Sie griff ihn an und umschlang erneut seinen Kopf.
Ehrlich, er hatte keine Zeit für so etwas. Und es war nicht gerade hilfreich, dass sie ziemlich gut roch für eine Frau, die wer weiß wie lange mit menschlichen Männern in einem Kerker eingesperrt gewesen war.
Er schnappte wieder nach ihr, um sie so weit wie möglich fortzuschleudern, aber da sagte eine Stimme neben ihnen: »Sie ist nicht da.« Ragnar erkannte die Stimme des Fremden.
Keitas Kopf tauchte auf. »Was meinst du mit: Sie ist nicht da?«
»Sie ist nicht da.«
Während dieses dämliche Weib Ragnar abgelenkt hatte, hatte der Fremde sie überholt. Als ihm klar wurde, dass er getäuscht worden war, riss Ragnar die Prinzessin von sich und knallte sie auf den Boden.
»Autsch!«, kreischte sie. »Du grober Bastard!«
Ragnar ignorierte sie, erhob die Klaue gegen den Fremden und entfesselte einen mächtigen Windstoß, der ihn gegen den Baum hinter ihm schleudern und ihm klarmachen sollte, dass mit Ragnar nicht zu spaßen war. Doch außer das Fell auf seinem Kopf zurückzuwehen, bewirkte er nichts, und der fremde Drache blickte ihn nur an.
Nachdem er Ragnar zugesehen hatte, wie Gras, Blätter und Bäume sich durch die Energie, die er entfesselt hatte, bewegt hatten, schaute er auf seine Klaue hinab und wieder zum Reisegefährten der Prinzessin auf.
»Oh«, antwortete der Fremde und klang dabei fast gelangweilt. »Hätte ich davon mit rudernden Armen rückwärts umfallen sollen? Entschuldige. Ich merke es mir fürs nächste Mal.«
Die Prinzessin kicherte, und Ragnar brachte sie mit einem finsteren Blick zum Schweigen. Es war nicht die Tatsache, dass er ausgelacht wurde, die ihn störte; es war die Macht, die er nicht von diesem Drachen ausgehen spürte. Eine Macht, von der Ragnar jetzt wusste, dass der Fremde sie besitzen musste, da er es schaffte, sie vor ihm zu verbergen. Hatte die Prinzessin eine Ahnung davon? Und warum sollte ein so starker Magier überhaupt seine Zeit mit jemandem verschwenden, der so geistlos war wie sie? So nutzlos? So hübsch? Moment mal. Er meinte so dumm. Nicht hübsch. Wo kam jetzt dieses Hübsch her?
Der Fremde ging um ihn herum und half der immer noch entrüsteten Prinzessin auf die Klauen.
»Geht’s dir gut?«
»Mir geht es nicht gut!«, beschwerte sie sich. »Dieser Barbar ist gewalttätig geworden, und dabei habe ich mir den Hintern an ein paar Felsen aufgeschürft.« Sie versuchte, sich den Schaden anzusehen, schaffte es aber nur, sich im Kreis zu drehen.
»Deine Tante ist weg, Keita. Und zwar schon eine ganze Weile, würde ich sagen.«
»Das ist unmöglich.« Sie hörte auf, ihren Hintern sehen zu wollen, und entschied sich, ihn stattdessen zu reiben. »Esyld verlässt ihr Haus nie, außer um in die Stadt zu gehen.«
»Soweit du weißt. Es ist ja nicht so, als würdest du sie jeden Tag sehen.«
Einen Augenblick lang sah sie reuevoll aus, ihre Schultern sackten ein wenig nach vorn, doch dann richteten sich ihre braunen Augen auf Ragnar. »Was willst du von meiner Tante, Warlord?«
»Das ist eine Frage an deine Mutter. Sie hat mich hergeschickt.«
Einen schmerzlichen Moment lang hatte Ragnar das Gefühl, als habe er die Prinzessin geschlagen, so verletzt sah sie aus. Er hätte nichts gesagt, wenn er gewusst hätte, dass seine Worte so eine Reaktion hervorrufen würden.
»Meine Mutter? Meine Mutter hat dich hergeschickt? Um meine Tante zu töten?«
»Ich bin kein Mörder, Mylady. Ich sollte deine Tante nur abholen und sie und deinen Bruder zu Königin Rhiannon zurückbringen. Was deine Mutter von da an tut, weiß ich nicht.«
»Und du hast zugestimmt?«
»Es hieß, entweder ich oder die Sippe deines Vaters. Ich nahm an, dass sie bei mir sicherer wäre.«
Der Ostländer warf ihr einen Blick zu. »Da hat er nicht unrecht, Keita.«
Keita ging zum Haus ihrer Tante, nahm im Gehen ihre menschliche Gestalt an und öffnete die Haustür. Sie suchte nach einem Zeichen ihrer Tante oder wohin sie gegangen sein mochte. Nachdem sie sich kurz im Raum umgesehen hatte, ging sie durch die Hintertür hinaus in den Garten.
»Ich habe dir gesagt, dass sie nicht da ist, Schatz.«
»Wo ist sie dann, Ren?«
»Ich weiß es nicht, aber sie ist schon eine Weile weg.«
»Woher weißt du das?«
»Auf allem liegt eine feine Staubschicht – und ihre Präsenz hat schon angefangen, von hier zu schwinden.«
Mit dem Rücken zu Ren und eine Hand auf den Magen gepresst, fragte Keita: »Ist sie tot?«
»Ich weiß nicht. Aber wenn sie es ist, ist sie nicht hier gestorben.«
Rens Instinkte täuschten ihn nie, und er log Keita niemals an. Falls jemand ihre Tante getötet hatte, wüsste er es und würde es ihr sagen.
»Wurde sie entführt?«
»Das spüre ich nicht. Es ist sauber hier. Als wäre sie gerade gegangen.«
Keita wandte sich ihm zu. »Und wohin gegangen?«
»Ich weiß nicht, aber es sagt mir auch nichts, dass etwas nicht stimmt.«
»Außer dass meine Mutter weiß, dass Esyld hier ist.«
»Deine Mutter weiß viele Dinge. Ich bezweifle, dass sie auch nur auf ein Fünftel davon reagiert.«
»Aber hier geht es um Esyld die Verräterin.«
»Die zu holen die Königin einen Blitzdrachen geschickt hat.«
»Vielleicht hat sie gehofft, dass Esyld die Reise nicht überlebt.«
»Dann hätte sie die Sippe deines Vaters geschickt, deren Loyalität unbestritten ist – aber deren Ehre ein bisschen wacklig ist.«
»Du glaubst, dass ich mir unnötige Sorgen mache, oder?«
»Du machst dir selten Sorgen, meine Freundin. Wenn du dir also Sorgen machst, tust du das nie unnötigerweise. Aber ich weiß nicht so recht, was wir im Moment tun könnten.«
»Sie suchen?«
»Damit deine Mutter sicher weiß, wo sie ist?«
Er hatte recht. Wie immer.
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Nach Hause gehen.« Als sie schnaubte, fügte er hinzu: »Du wirst nie herausfinden, was deine Mutter vorhat, wenn du nicht gehst.«
»Und du glaubst, sie wird es mir sagen?«
»Das bezweifle ich. Aber deine Brüder werden es tun, wenn sie es wissen. Ihre Gefährtinnen. Deine Freunde bei Hof. Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wie man an Informationen herankommt, meine liebe Lady Keita.«
Jetzt wieder lächelnd, stellte sich Keita auf die Zehenspitzen und schlang Ren die Arme um den Hals. »Soso, mein lieber Freund, du schlägst also vor, dass ich am Hof meiner Mutter spionieren gehe?«
»Ich bin erschüttert, dass du so etwas auch nur von mir denkst!«
Sie lachten gemeinsam, bis Ren zur Tür deutete. »Lass uns gehen. Je früher wir nach Devenallt zurückkommen, desto schneller sind wir die barbarische Wacheinheit deines Bruders los.«
Der Gedanke daran ließ Keita praktisch zur Tür sprinten.
Als sie Esylds Haus wieder betraten, blieb sie im Türrahmen stehen und musterte den Barbar. Er stand nackt – bis auf die Reisetasche, die er immer bei sich hatte – mitten im Haus ihrer Tante und sah in seiner extrem großen und muskulösen menschlichen Gestalt unglaublich lecker und furchtbar unschuldig aus. Zu unschuldig.
»Was tust du da?«, fragte sie ihn.
»Nichts.«
Langsam richtete sich der Blick des Blitzdrachen auf sie, und sie starrten sich eine scheinbare Ewigkeit lang an. Er log – sie wusste, dass er log –, aber sie hatte keinen Beweis dafür.
»Bereit zu gehen?«, fragte Ren.
»Ja«, antwortete sie endlich. »Ich bin fertig.«
Ren ging hinaus, der Barbar hinter ihm her, und tief ausatmend folgte ihnen Keita. Doch als sie das Haus halb durchquert hatten, blieb sie stehen und suchte den Raum rasch mit Blicken ab. Sie hatte das Gefühl, dass etwas fehlte, aber ob es schon gefehlt hatte, als sie hereingekommen waren, oder erst, seit der Blitzdrache allein im Haus gewesen war, wusste sie nicht.
Da sie nichts feststellen konnte, dessen sie den Warlord hätte anklagen können – und schrecklich verärgert darüber –, ging sie hinaus und nahm ihre natürliche Gestalt an. Schweigend kehrten sie zu den anderen zurück, nur um festzustellen, dass die beiden verbliebenen Barbaren gegen die Felswand boxten, wo Ren verschwunden war.
Ren wandte sich mit bebenden Schultern ab, während Ragnar seine Verwandtschaft beobachtete und herauszufinden versuchte, was sie da taten. Keita sah ihren Bruder mit erhobenen Brauen an, doch Éibhear konnte nur hilflos die Schultern zucken.
Und Götter, ihr standen noch mehrere Tage mit ihnen bevor. Nur das Grauen, ihre Mutter zu sehen, war schlimmer, als mit so eindeutiger Dummheit festzusitzen.