7 Schwerter wurden auf Rücken und um Hüften geschnallt. Streitäxte und Bogen wurden an Sätteln befestigt. Tiere, die Pferden ähnelten, aber gebogene Hörner und rote Augen hatten, scharrten auf dem eisbedeckten Boden mit den Hufen, weil sie es nicht erwarten konnten, endlich aufzubrechen. Haustiere, die an ihrer Seite reisten, wurden mit einem Pfeifen oder Heulen gerufen.
Jene, die einst Menschen waren, wurden aus Käfigen geholt und bekamen Halsbänder angelegt. Auf allen vieren laufend, würden sie ihnen den Weg weisen wie eifrige Hunde; ihr Wille war seit Langem gebrochen, seitdem sie diejenigen herausgefordert hatten, von denen sie nie gedacht hatten, dass sie sie fürchten müssten.
Ein niemals endender Eissturm tobte, doch das machte ihresgleichen nichts aus. Denn sie hatten einen Auftrag, der ihnen von ihren mächtigen Göttern übertragen worden war. Sie verehrten ein paar davon, wurden aber von allen respektiert. Denn wenn man ihnen eine Aufgabe übertrug, hielt sie nichts, absolut gar nichts von deren Ausführung ab.
Auf den Rücken ihrer Bestien, ihre treuen Haustiere an ihrer Seite, während die Menschen fast auf allen vieren liefen – so öffneten sich die Tore ihrer Eislandfestung, und sie wurden wie Dämonen aus der Unterwelt losgelassen auf ein nichtsahnendes Land. Und sie würden den Edikten ihrer Götter folgen, selbst wenn es den Tod für alle und jeden bedeutete, der ihnen in die Quere kam.
Das Geräusch von mächtigen Hufen, die auf steinhartes Eis stampften, noch im Ohr, wachte Keita auf und stellte fest, dass Ragnar der Listige auf sie herabsah.
Sie quiekte überrascht auf und rief: »Das Böse steigt aus der Hölle auf, um mich zu vernichten!« Anscheinend mehr aus Verwirrung denn aus Wut runzelte er die Stirn, und Keita drehte sich um und vergrub ihren Kopf an der schuppenbedeckten Brust hinter ihr.
Ren streichelte mit fellbedeckten Klauen ihren Rücken und sagte: »Na, na, Kleine. Es gibt nichts zu befürchten. Nur ein furchterregender Nordland-Drache, der alles, was du liebst, zerstören möchte.«
Sie zitterte und flüsterte laut genug, dass alle es hören konnten: »Er macht mir Angst. Mach, dass er weggeht.«
»Husch!«, sagte Ren, und das zwang Keita, ihre Schnauze noch tiefer in seiner Brust zu vergraben, um den Lachanfall zurückzuhalten, der in ihrer Kehle aufstieg. »Husch!«
»Wir brechen in fünf Minuten auf.«
»Wir werden bereit sein«, versprach Ren.
Als der Blitzdrache davongestapft war und seiner Verwandtschaft Befehle zubrüllte, prustete Ren vor Lachen, und Keita kicherte an seiner Brust.
»Würdet ihr zwei mal mit dem Quatsch aufhören?«, tadelte sie Éibhear, der damit beschäftigt war, den Lagerplatz zu säubern. »Ihr seid unmöglich!«
Keita rollte sich auf den Rücken und betrachtete stirnrunzelnd ihre Krallen, als sie entdeckte, dass eine einen Riss in der Spitze hatte. »Wer? Wir?«
»Ja. Ihr. Noch schlimmer könnte es nur sein, wenn Gwenvael auch noch hier wäre.«
Keita und Ren seufzten. »Aaah, Gwenvael«, sagte sie.
»Das waren noch Zeiten«, fügte Ren hinzu.
»Aye. Das stimmt. Wir drei zusammen, und wir haben Chaos gesät, wohin wir auch kamen.« Keita setzte sich auf, einen Unterarm übers Knie drapiert. »Er ist nicht wirklich vergeben, oder?«
»Doch. Und sie ist toll«, sagte Éibhear.
Keita warf Ren einen Blick zu und zwinkerte leicht. Éibhear war in einer Phase, in der alles toll oder interessant oder schön war. Natürlich war Keita weniger als ein Jahr nach dem Schlüpfen aus dieser Phase herausgewachsen, und wenn es stimmte, was man ihr erzählt hatte, hatten ihre ältesten Brüder, Fearghus und Briec, diese Phase überhaupt nie durchgemacht. Also war Éibhear vielleicht der Ausgleich für sie alle. Alle bis auf Morfyd natürlich. Die perfekte, makellose, liebevolle Morfyd.
»Sie ist so klug. Extrem klug.«
»Liest viel, oder?«, fragte Ren, was ihm einen Rippenstoß von Keita einbrachte.
»Ja. Aber es ist nicht nur das. Sie ist wahnsinnig rational. Überhaupt nicht wie du, Keita.«
Ren, der sich aufgesetzt hatte, fiel lachend wieder auf den Rücken, während Keita die Klauen in die Luft warf.
»Ich zeige dir gleich, wie rational ich bin!«
Während er die Knochen, die von ihrer Mahlzeit am Vorabend übrig waren, auf dem Boden verteilte, damit die Raubtiere der Umgebung haben konnten, was sie nicht mehr brauchten, schüttelte Éibhear den Kopf und bemerkte: »Ich kann dir versichern, dass Dagmar Reinholdt nie auf dem Richtblock gelandet wäre.«
»Reitest du immer noch darauf herum?«, wollte Keita wissen.
»Du hättest jederzeit da rauskommen können, aber du musst ja immer deine kleinen Spielchen machen.«
»Du bist gut. Wenn ich mich hätte exekutieren lassen, wärst du wütend gewesen. Aber wenn ich die Stadt niedergebrannt hätte, wärst du noch wütender gewesen.« Keita stand auf und schlug Ren dabei scheinbar versehentlich mehrmals mit dem Schwanz ins Gesicht, weil er immer noch lachte. »Ich kann es dir nie recht machen!«
Éibhear sah sie über die Schulter an. »Du wärst gar nicht in dieser Lage gewesen, wenn du den Mann nicht umgebracht hättest.«
»Welchen Teil von ›Ich war’s nicht‹ kapierst du nicht?«
Ihr kleiner Bruder legte den Kopf schief, und Keita entblößte die Reißzähne, bevor sie schrie: »Ich war’s nicht!«
Éibhear richtete eine Kralle auf sie. »Aber hattest du vor, ihn zu töten?«
»Was hat das denn damit zu tun?«
»Es tut mir leid«, unterbrach Ragnar sie. »Aber soll das etwa eine Antwort sein?«
Keita warf ihm einen bösen Blick zu. Götter, war er groß. Er verdeckte komplett die beiden Sonnen mit seinem großen Körper und seinem noch größeren Dickschädel! Und all dieses Lila. Was für eine nervtötende, seltsame Farbe! »Und an welcher Stelle hast du dich eingeladen gefühlt, dich an unserem Gespräch zu beteiligen, Kretin?«
»Keita!«, schnauzte Éibhear und stellte sich sofort auf die Seite des Blitzdrachen. »Das war unhöflich. Entschuldige dich!«
Keita wollte Éibhear gerade sagen, wohin er sich seine verdammten Entschuldigungen stecken sollte, als Ren ihr ins Ohr flüsterte: »Hast du deine Wette schon vergessen, meine Freundin?«
Verdammt. Sie hatte sie wirklich vergessen. Aber das, genau wie die meisten Dinge, war nicht ihre Schuld. Es war früh, und sie hatte noch nichts gegessen. »Außerdem müssen wir es noch ein paar Tage mit ihnen allen aushalten. Es kann nicht schaden, ein bisschen nett zu sein«, fügte Ren leise hinzu.
In dem Bewusstsein, dass ihr Freund recht hatte, wedelte Keita mit den Klauen in der Luft herum. »Ihr Götter! Es tut mir leid, Lord Ragnar. Wie du siehst, bin ich nicht gerade ein Morgendrache, und ich werde vor dem Frühstück manchmal ein bisschen schnippisch. Ich bitte vielmals um Entschuldigung.«
»Das kann jedem mal passieren«, murmelte Meinhard, während er seine Reisetasche packte.
»Macht nichts«, warf Vigholf ein.
»Ich kann für mich selbst sprechen – und konnte es auch schon immer«, sagte Ragnar, den Blick immer noch auf Keita gerichtet.
»Also, du verzeihst mir doch, oder, Mylord?« Sie ging zu ihm hinüber, und ihr Schwanz schwang hinter ihr hin und her, bis sie nahe genug war, dass die Spitze sich seine Brust hinaufbewegen konnte. »Es wäre schrecklich, wenn du mir noch böse wärst.«
Ragnar starrte ihren Schwanz an, während sein Bruder und sein Vetter kerzengerade dastanden und sie anblickten … was ungefähr der Moment war, als ihr Bruder sie am Schwanz packte und sie in den Wald zerrte.
»Wir sind gleich zurück«, sagte er, während er sie ein gutes Stück wegzog und dabei alle Bäume und Büsche ignorierte, die sie auf dem Weg umknickten oder vollkommen zerstörten.
»Éibhear, du kleiner Scheißer! Lass mich los!« Er tat es, indem er ihren Schwanz von sich schleuderte, dem ihr restlicher Körper dann naturgemäß folgte.
»Was führst du im Schilde?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Lüg mich nicht an, Keita!« Er beugte sich vor und zeigte mit einer Kralle auf sie. »Du und Ren gemeinsam, das ist selten gut für Außenstehende. Also frage ich dich noch einmal: Was führst du im Schilde?«
Keita stand auf und bürstete sich mit den Vorderklauen die Walderde von den Schuppen. »Ich führe gar nichts im Schilde, kleiner Bruder.«
»Komm mir nicht so. Du solltest besser nicht schon wieder Spielchen spielen.«
»Was für Spielchen?«
»Keita …«
»Oh, was denn, kleiner Bruder? Du warst zwei Jahre weg und glaubst jetzt, dass du mich herumkommandieren kannst, wie Fearghus und Briec es tun?«
Éibhear blinzelte. »Sie kommandieren dich herum?«
»Sie haben es versucht. Sie sind gescheitert. Du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass es dir nicht besser ergehen wird.«
»Hör mal.« Er nahm sie an der Schulter, zog sie noch etwas weiter weg und senkte die Stimme. »Ich verstehe, dass du gute Gründe hast, diesen Drachen zu hassen. Er hat dich entführt, als Geisel festgehalten und versucht, mit Mum um dich zu feilschen.«
Keita zuckte die Achseln. »Ich bin darüber weg.«
Éibhear ließ sie los. »Was meinst du damit, du bist darüber weg? Wie kannst du darüber hinweg sein?«
»Weil ich es bin. Im Gegensatz zum Rest meiner Sippe bin ich nicht nachtragend. War ich nie. Sie sind langweilig. Du weißt, wie …«
»Ja!«, unterbrach er sie. »Ich weiß, wie sehr du es hasst, dich zu langweilen.«
»Dann musst du dir keine Sorgen machen, dass ich auf Rache aus bin. Er hat mir nie körperlich wehgetan. Sein Bruder und sein Vetter waren sehr nett angesichts der Lage. Also … ich bin darüber hinweg und will für alle Beteiligten nur das Beste.«
»Ach, Keita.« Éibhear vergrub das Gesicht in den Klauen. »Du versuchst, ihn ins Bett zu kriegen, oder?«
»Ich weiß gar nicht, was du …«
Sein Kopf schoss hoch; silberne Augen sahen sie zornig an. »Keita!«
»Der Einsatz ist ein Thron! Und was geht es dich an, auf wen oder was Ren und ich wetten?«
»Weil ich mich noch gut erinnere, wie hässlich es werden kann, wenn du mit so etwas anfängst. Und ich will, dass ihr beide sofort damit aufhört.«
»Ich lasse mir von niemandem Befehle geben, Bruder, vor allem nicht von dir. Abgesehen davon will ich diesen Thron wirklich.« Sie wollte gehen, doch Éibhear stellte seine Hinterklaue auf ihren Schwanz.
»Verdammt! Warum müsst ihr alle immer meinen Schwanz festhalten?«
»Weil er der gefährlichste Teil von dir ist. Und ich kann nicht glauben, dass du mit Ren darum wettest, wen du ins Bett kriegen kannst. Bist du für so etwas nicht zu alt?«
»Nicht, wenn es um einen Thron geht!«
Knurrend sagte ihr Bruder: »Jetzt hör mir zu. Wenn das Fest vorbei ist, will ich mit Lord Ragnar und den anderen zurückgehen. Verdirb mir das nicht.«
»Zurückgehen? In die Nordländer? Wozu das denn?«
»Ich lerne viel. Ich werde nie so gut wie Briec oder Fearghus, wenn ich hierbleibe.«
»Mir fällt auf, dass du Gwenvael in deiner Aufzählung vergessen hast.«
»Er hat wahrscheinlich seine guten Momente. Wenn er nicht gerade heult.«
Keita beugte sich vor und flüsterte: »Du wirst aber nicht wie die Nordländer, oder?«
»Was meinst du damit?«
»Du willst dir keine Gefährtin suchen und ihr die Flügel abhacken oder so etwas, oder?«
»Das machen sie nicht mehr.« Keita schnaubte höhnisch, und ihr Bruder beharrte: »Wirklich nicht!«
»Solange du keine seltsamen Vorstellungen entwickelst. Oder, du weißt schon, versuchst, jemand Bestimmtem aus dem Weg zu gehen, indem du in die Nordländer zurückkehrst.«
»Ich gehe niemandem aus dem Weg.«
»M-hm. Auch nicht hübschen, großgewachsenen Nichten, die eigentlich gar nicht blutsverwandt sind?«
»Nicht schon wieder dieses Thema!«
»Hübsche, großgewachsene Nichten, die eigentlich gar nicht blutsverwandt sind, aber das bezauberndste Lächeln haben, das Menschen und Götter je gesehen haben?«
»Können wir einfach gehen?«, schnauzte er und stürmte an ihr vorbei.
»Nein, nein, Bruder. Ich glaube, ich habe mich geirrt. Du gehst eindeutig niemandem aus dem Weg.«
Ragnar wartete darauf, dass sie aufbrechen konnten, während die zwei Sonnen höher stiegen und es immer später wurde. Er tippte ungeduldig mit einer Kralle, als die Geschwister zurückkamen. Der große blaue Königssohn stampfte daher wie ein launisches Kind, und seine Schwester rannte hinter ihm her und schrie: »Gib’s doch zu! Gib doch einfach zu, was du fühlst!«
Der Blaue nahm seine Reisetasche auf. »Lass es gut sein, Keita.«
»Gib es einfach zu! Dann fühlst du dich besser.«
»Halt. Die. Klappe.«
»Zwing mich doch.« Sie stellte sich auf die Hinterbeine und hob die zu Fäusten geballten Vorderklauen. »Na los. Hier und jetzt. Du bist nicht so groß und hart, dass ich nicht immer noch mit dir fertigwerden würde.«
Vigholf beugte sich herüber und flüsterte Ragnar zu: »Sie hat keine Ahnung, wie recht sie hat.«
Meinhard trat Vigholf mit der Hinterklaue.
»Au!«
Mit der Eleganz eines verwundeten Tieres tänzelte die Prinzessin um ihren Bruder herum. »Komm schon! Zeig mir, was du kannst, kleiner Bruder!«
»Ich schlage dich nicht.«
Sie duckte sich, sie wich aus. Und all das ziemlich schlecht.
Vigholf seufzte. »Das passiert, wenn man zulässt, dass Frauen glauben, sie könnten kämpfen wie Männer.«
»Ich habe gehört, die Menschenkönigin sei gut«, bemerkte Meinhard.
»Sie ist nicht übel«, warf der Ostland-Drache ein. »Auch wenn ich gehört habe, dass sie kein Freund der Minotauren ist.«
Vigholf schnaubte. »Unsere Tante Freida mit ihrem einen Arm und dem fehlenden Fuß wäre auch gut, wenn sie fünftausend Soldaten hinter sich hätte.«
»Nein, Keita!«, kreischte der Blaue. »Nicht kitzeln! Hör auf!«
»Meinst du, wir müssen den Prinzen vor seiner Schwester retten?«, fragte Meinhard Ragnar.
»Wenn wir vor Ende der Zeiten aufbrechen wollen …«
Briec der Mächtige, Zweitältester des Hauses Gwalchmai fab Gwyar, Vierter in der Thronfolge der Weißen Drachenkönigin, jetzt, wo sein ältester Bruder seine Dämonenausgeburten von Zwillingen ausgebrütet hatte, Schutzheld der Drachenkriege, ehemaliger Verteidiger des Throns der Drachenkönigin, gütiger Herrscher über das Herz der schönen Talaith und stolzer Vater zweier großartiger Töchter, die perfekt waren, einfach nur, weil sie seine Töchter waren, fand seinen ältesten Bruder in der Kommandozentrale.
Fearghus stand hinter dem großen Tisch, eine großflächige Karte vor sich. Brastias, General von Königin Annwyls Armeen, zu seiner Linken, und Dagmar Reinholdt, das einzige weibliche Wesen, das seinen jüngeren Bruder Gwenvael ertragen konnte, zu seiner Rechten. Eine kleine Gruppe von Annwyls Elitesoldaten stand um den Tisch herum.
Fearghus blickte von der Karte auf. »Was ist los, Briec?«
»Ich habe eben Nachricht von Éibhear bekommen. Er ist auf dem Heimweg.«
»Gut.« Fearghus konzentrierte sich wieder auf die Karte.
»Und Keita ist bei ihm.«
»Jawoll!«
Fearghus’ Kopf hob sich wieder, und sowohl er als auch Briec sahen hinüber zu mehreren Soldaten, die grinsten und sich gegenseitig auf den Rücken schlugen. Als Briec schwarzen Rauch aus seinen Nasenlöchern quellen ließ, wandten sie den Blick ab und hörten auf zu grinsen.
Briec trat weiter in den Raum hinein. »Was ist das?«, fragte er und deutete auf die Karte.
»Dagmar hat von Ghleanna gehört …«, begann Fearghus.
»Izzy?«, fragte Briec sofort.
»Ihr geht es gut, Bruder. Entspann dich.«
Briecs Älteste, Iseabail, eine Soldatin in Annwyls Armee, war schon seit fast zwei Jahren mit seiner Tante Ghleanna und ihren Soldaten unterwegs. Und obwohl er nicht Izzys leiblicher Vater war, machte er sich jeden Tag Sorgen um sie. Blutsverwandt oder nicht: Izzy war seine Tochter. Sie würde immer seine Tochter sein.
»Was ist es dann?«, fragte Briec.
»Noch mehr Probleme im Westen. Ganze Städte in der Nähe der Aricia-Berge sind zerstört.«
»Ich dachte, die Armee hätte die Barbaren im Westen im Griff.«
»Die in der Nähe der Westlichen Berge schon, aber wir sind noch nicht einmal über sie hinausgekommen.«
»Immer noch nicht? Wie schwer ist es, barbarische Schwachköpfe in die Lehmhütten zurückzutreiben, aus denen sie gekrochen sind?« Er warf einen Blick zu Dagmar hinüber. »Nichts für ungut.«
Kalte graue Augen, die von kleinen Glaskreisen beschirmt waren, schauten von der Karte auf. »Da mein in Lehmhütten lebendes barbarisches, schwachköpfiges Volk nicht aus dem Westen stammt … kein Problem.«
»Wir bekommen Bitten um Beistand von den westlichen Königen«, erklärte Brastias.
Briec verstand das Problem nicht. »Dann schick ihnen mehr Soldaten.«
»Ich mag das nicht«, brummelte Fearghus.
»Du magst nie etwas.«
»Dich natürlich nicht, aber ich lüge und erzähle meiner Mutter, es sei anders.« Fearghus sah Dagmar an. »Hast du etwas gehört?«
»Wieso glaubst du, dass ich …« Das ungläubige Schnauben aller Männer im Raum unterbrach die Nordländerin. »Ich wollte zuerst noch mehr Informationen einholen«, gab sie zu.
»Mehr Informationen worüber?«
»Mögliche Probleme, die von jenseits der Aricia-Berge kommen könnten.«
»Jenseits?« Stirnrunzelnd studierte Briec die Karte. »Das Einzige hinter den Aricia-Bergen ist …«
Im Raum wurde es still, und Dagmar hob beschwichtigend die Hände. »Lasst mich mehr Informationen beschaffen, bevor wir vorschnelle Schlüsse ziehen.«
»Ein Problem, das so weit aus dem Westen kommt«, murmelte Brastias, »kann Annwyl nicht ignorieren.«
»Sie ignoriert gar nichts.« Briec konnte die Schärfe in Fearghus’ Stimme hören. »Ganz und gar nicht.«
»Welchen Teil von ›Lasst mich mehr Informationen beschaffen, bevor wir vorschnelle Schlüsse ziehen‹ habt ihr alle nicht verstanden?«, fragte Dagmar.
»Na schön. Beschaff die Informationen. Dann kann Annwyl entscheiden, was sie tun will.«
Die menschlichen Krieger mussten keinen Ton sagen. Allein ihr Schweigen sprach Bände.
»Was?«, fragte Fearghus. »Was ist los?«
»Falls Annwyl vorhat, sich die nächsten sechzehn Jahre hier zu verkriechen, Fearghus, wirst du jemand anderen finden müssen, der unsere Männer in den Krieg führt. Falls«, fügte Brastias mit einem Blick auf Dagmar hinzu, »ein Krieg auf uns zukommt.«
»Ist das nicht deine Aufgabe, General?«
»Meine Aufgabe ist, die Soldaten in die Schlacht zu führen. Aber Annwyl ist unsere Königin. Sie muss uns in den Krieg führen.«
Fearghus seufzte laut. »Und das kann sie nur tun, indem sie ihre Kinder verlässt?«
»Nein. Aber sie kann auch nicht ewig Kriege meiden. Wenn sie versucht, mit einer Truppe hier und einer Legion da Probleme zu flicken, tut sie keinem einen Gefallen. Es reißt nur ihre Armee auseinander.«
Briec beobachtete seinen Bruder. Fearghus wusste, dass der General recht hatte, aber das machte die Lage nicht leichter für ihn.
Brastias’ Aufmerksamkeit auf sich ziehend, schlug Briec vor: »Vielleicht solltest du Morfyd vorwarnen, dass Keita nach Hause kommt.«
»Sie vorwarnen?«
»Vertrau mir, General. Warn sie.« Dann machte Briec eine leichte Kopfbewegung in Richtung Tür. Brastias nickte und ging mit seinen Männern hinaus.
Als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, ließ sich Briec seinem Bruder gegenüber auf einen Stuhl fallen und legte die Füße auf den Tisch. »Also gut, was ist mir entgangen?«
Fearghus murmelte etwas, aber anstatt ihn dazu zu bringen, sich zu wiederholen – auf Dauer eine lästige Angelegenheit, denn Fearghus war ein geborener Murmler –, konzentrierte sich Briec auf Dagmar.
»Annwyl fällt immer zögerlicher Entscheidungen, die uns in einen Krieg führen könnten«, sagte Dagmar.
»Ich habe deine Frau gesehen, Bruder. Für mich sieht sie kampfbereit aus.«
»Sie ist hin- und hergerissen«, gab Fearghus zu. »Sie ist bereit, alles niederzutrampeln, was die Gebiete in den Westlichen Bergen in Schrecken hält, aber sie hat furchtbare Angst, die Kinder zu verlassen.«
»Warum? Sie wären nicht allein. Sie haben uns. Den Cadwaladr-Klan. Sie könnte sich keinen besseren oder stärkeren Schutz wünschen.«
»Ich kann es nicht erklären, Briec. Sie spricht nicht mit mir. Ich weiß nur, dass es in letzter Zeit nahezu unmöglich ist, sie weiter weg als bis zu meiner Höhle zu bekommen.«
»Und«, fügte Dagmar hinzu, »Probleme zu besprechen, die Dinge außerhalb von Garbhán Isle betreffen, ist auch eine Herausforderung.« Dagmar ging um den Tisch herum und lehnte sich dagegen, die Arme vor der Brust verschränkt. »Es ist schwer, sie zu überzeugen, dass die Kinder eine kleine Weile auch ohne sie sicher sein werden, wenn wir es nicht einmal schaffen, ein Kindermädchen länger als einen oder zwei Monde zu halten.«
»Warte. Was ist mit dem letzten passiert?«, fragte Briec.
Dagmar schüttelte den Kopf, und Fearghus stieß einen langen Seufzer aus, bevor er sich zur Wand drehte.
Briec zog eine Grimasse. »Oh.« Zum Glück hatte Briec keine derartigen Probleme mit seiner jüngeren Tochter. Sein Mädchen war unvorstellbar lieb – das musste sie von ihm haben, denn von ihrer Mutter konnte sie diese Eigenschaft unmöglich geerbt haben. Also musste er sich keine Sorgen machen, wenn er sie mit jemandem allein ließ. Seine einzige Sorge war die Last, die sie anscheinend auf ihren winzigen Schultern trug. Er hatte noch nie ein so junges Wesen gesehen, das so ernst aussah – die ganze Zeit. Sie lächelte nicht. Nie. Sie sah nur alles um sich herum mit diesen Augen an, in denen man sich verlieren konnte. Er hatte einige sagen hören, sie hätten das Gefühl, dass sie direkt in ihre Seelen blickte, wenn sie sie ansah.
Um ehrlich zu sein, glaubte Briec, dass sie das tatsächlich tat.
Aber das alles half seinem Bruder jetzt nicht. Denn eine paranoide, gut trainierte, zu allem bereite Annwyl, die keinen Krieg oder keine Schlacht in Aussicht hatte, war nichts weniger als ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Jeder auf Garbhán Isle wusste das – und das machte alle so nervös.
»Ich bin mir sicher, dass wir eine Lösung finden. Vielleicht kann Keita helfen. Wenn sie hier ist.«
Fearghus schniefte. »Zwei Jahre, und kein Wort von ihr. Und sie wird wiederkommen, als sei nichts gewesen.«
»Du weißt, wie Keita ist. Sie hat uns alle ausgeschlossen, sogar Éibhear.«
»Ja, aber sie ist ja nicht Gwenvael.«
»Weil uns nicht egal ist, ob sie tot ist oder lebt?«
»Genau.«
»Ihr zwei wisst schon, dass ich neben euch stehe, oder?«, fragte Dagmar.
»Es geht nicht darum, ob wir wissen, dass du hier bist oder nicht«, erklärte Briec. »Es geht darum, ob es uns etwas ausmacht, ob du hier bist oder nicht. Und das wird dich sicher überraschen, winzige, zerbrechliche Menschliche: Es ist uns wirklich egal.«
Dagmar rückte ihre Augengläser zurecht. »Was mich wirklich wundert ist ja, um ehrlich zu sein, dass Talaith dich noch nicht im Schlaf umgebracht hat.«
Briec grinste und Fearghus lachte. »Aye. Das wundert sie selbst auch.«