22.

Sie war nicht mehr dort, sondern stand wieder auf der Museumsgalerie des Tannoreth-Palastes, an genau der gleichen Stelle, an der sie gestanden hatte, als sie verschwunden war. Wend wollte die Statue gerade wieder wegschließen, fuhr zusammen und starrte Maewen an.

Wend sah sauberer, gepflegter und besser aus denn je. Maewen wurde sich augenblicklich bewusst, dass sie schmutzig war und klamm von den Regenschauern, die sie schon seit Tagen nicht mehr beachtet hatte. Ihre Kettenrüstung roch nach Rost. Ihre Stiefel waren schmutzig. Die Wassersturzer Montur miefte nach nasser Wolle, Pferd und Mensch. Ihr Haar unter dem kleinen Helm fühlte sich feucht und verfilzt an.

»Du bist wieder da!«, rief Wend.

»Ja.« Die schier animalische Scharfsicht, die Maewen während ihrer Reise erlangt hatte, verriet ihr, dass Wend nicht erwartet hatte, sie wiederzusehen. Das stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, während er die Statue behutsam auf ihren Regalplatz stellte und die Glastür verschloss. Maewen sah ihm das deutlich an, obwohl es sie ein wenig ablenkte, dass ihre Gefolgsfrauenmontur sich auflöste und sie in schmuddligen Hosen und Hemd zurückließ. Das Haar fiel ihr wieder auf die Schultern, aber es fühlte sich feucht und verfilzt an. Das schrill fiepende Funkgerät an Wends Uniform fesselte ihre Aufmerksamkeit noch stärker, und doch bemerkte sie Wends Irritation genau.

»Was ist passiert?« Wend rasselte beiläufig mit den Schlüsseln. Maewens Wahrnehmung ließ jedoch keinen Zweifel daran, wie neugierig er in Wirklichkeit war.

»Hestefan der Barde hat Noreth ermordet, bevor sie auch nur nach Adenmund aufbrechen konnte«, sagte Maewen. Sie schämte sich ihrer Wahrnehmung – denn sie merkte dadurch, dass Wend erfüllt war von Wut und Frustration, die er sorgfältig verbarg –, aber sie konnte nichts dafür, sie merkte es. Sie alle hatten diese Wahrnehmung besessen: Moril, Mitt, Hestefan, Navis, einfach jeder. So lebte man damals eben.

»Ich dachte, es wäre … einer der anderen gewesen«, sagte Wend, während das Piep-piep-piep aus dem Funkgerät auf seiner Brust gellte.

Du hast gedacht, Mitt hätte den Mord auf dem Gewissen, meinst du!, dachte Maewen. Wieder die Wahrnehmung. Der Lärm aus dem Funkgerät begann ihr auf die Nerven zu gehen, deshalb sagte sie: »Ich glaube, du solltest darauf antworten.«

Wend nahm das Funkgerät ab und legte den Schalter um. »Hier Orilsohn. Ende.«

Major Alksens Stimme plärrte aus dem Lautsprecher. Sie klang, als spreche er in eine Blechdose. »Das wird aber auch Zeit. Wend, gehen Sie so schnell Sie können zum Vorhof. An Amils Grab ist irgendetwas los – ein Tier, oder jemand ist darin eingeschlossen worden. Ende.«

»Ich bin schon auf dem Weg, Herr Major«, sagte Wend. »Ende und aus.« Er befestigte das Funkgerät wieder an seiner Uniform, lächelte Maewen gezwungen an und sagte: »Erzähl mir alles auf dem Weg.«

Maewen sah zu, wie er die Galerie entlanghastete. Tanamoril, Osfameron, Mallard der Magier – jeder einzelne dieser Helden aus den vielen Gesichten war er gewesen, und er konnte gut einer ihrer eigenen Vorfahren sein – und wie endete er? Als Museumswächter, der mit Kankredin im Bunde stand. Sie wusste genau, was Moril für Hestefan zuletzt empfunden hatte: einen Abscheu, der bis ins Mark ging. Spielte ihr im Zug den Retter vor, damit sie ihm vertraute. Pfui Teufel!

Es war, als wüsste man das Lösungswort eines Kreuzworträtsels instinktiv im Voraus und würde es sich dann schrittweise erarbeiten. Dieses Foto. Tante Liss hatte es an Vater geschickt. Als Wend es sah, wusste er, dass Maewen aussah wie Noreth. Wend musste sie verraten haben. Wie hätte Kankredin ahnen sollen, sich das Foto anzusehen?

Maewen blickte die goldene Statue an, ein buttriges Leuchten hinter der Glasscheibe. Sie war sich recht sicher, dass sie, wenn sie nur lange genug die Vitrinen absuchte, irgendwo auch einen schiefen Silberbecher fände und einen Ring mit einem großen roten Stein, der das Profil des Adons zeigte – vielleicht sogar zwei solche Ringe. Ihr fehlte aber die Energie zum Suchen. Ihre Stiefel waren wieder zu Sandalen geworden, aus denen ihre braunen schmutzigen Zehen herausschauten. Sie brauchte ein Bad. Sie musste sich die Haare waschen. Maewen betrachtete ihren Daumen. Wo der falsche Ring gesteckt hatte, umgab ihn sauberes weißes Band. Ja, es würde zwei Ringe geben. Der Eine hatte sämtliche Pläne auf den Kopf gestellt – Wends, Kankredins, Graf Kerils, die Ränke dieses Grafen von Andmarks, Maewens Ideen – und sie gegen ihre Urheber gewendet. Maewen hatte nicht die Geschichte ändern können – sie hatte nur dazu beitragen können, dass sie verlief, wie sie verlaufen sollte.

Sie brauchte wirklich dringend ein Bad.

Stattdessen begann sie der Galerie zu folgen; im Bogen ging sie auf die Reihe riesiger Fenster zu, die den Vorhof überblickten. Sie wollte eigentlich nicht in die Glaskästen schauen, an denen sie vorbeiging, aber das Schwert sah sie dennoch. Trotz seiner dunklen Farbe schien es ihr in seiner schäbigen, nüchternen Scheide von selbst ins Auge zu springen. Maewen wich einen Schritt zurück, nachdem sie schon fast daran vorbeigelaufen war, und las das Schildchen:

EINES VON MEHREREN SCHWERTERN,
VON DENEN ES HIESS,
SIE HÄTTEN DEM ADON GEHÖRT.
DEN LEGENDEN ZUFOLGE KANN NUR
DER RECHTMÄSSIGE HERRSCHER DAS SCHWERT
DES ADONS AUS DER SCHEIDE ZIEHEN.

Das ist wahr, dachte sie. Ich konnte es nicht ziehen. Mitt musste es beide Male tun. Mit einem schweren Gewicht auf dem Herzen trödelte sie zu den Fenstern. Das alltägliche Leben war so schrecklich alltäglich. Alles war jetzt vorbei.

Als sie zum ersten Fenster kam, lugte sie vorsichtig an der Ecke hindurch. Unter sich sah sie den weiten, gepflasterten Hof mit den Steinmustern und der absurden, zwiebelförmigen Kuppel in der Mitte, ein sehr hübsches Beispiel amlischer Steinbildarbeit. Major Alksen und alle seine Leute einschließlich Wends umstanden dort das Grab in einem weiten Kreis und bewegten sich zögernd darauf zu. Was glaubten sie wohl, was darin sei?

Was immer darin war, es quiekte – ein lang gezogenes, abschwellendes Wie-hie-hie. Maewen hörte es selbst durch das Glas ganz deutlich. Ein Pferd. In ihrer Kehle begann etwas zu pochen, und sie merkte, wie sie erblasste, während sie begriff, welches Pferd es war. Viel gewiehert hatte es nicht, doch Maewen wusste viel über Pferde, und dieses spezielle Pferd kannte sie besser, als ihr lieb war. Fast hätte sie sich aus dem Fenster gelehnt und Major Alksen zugerufen: ›Gehen Sie nicht näher! Das da drin ist Kankredin!‹ Wend muss Bescheid wissen!, durchfuhr es sie. Er ließ sie alle gegen das Grab vorgehen, ohne dass sie ahnten, mit wem sie es zu tun bekamen. Major Alksen hatte das Grab nun erreicht. Er legte die Hand an die Gittertür, die den Eingang sicherte.

Über den kleinen Kuppeln auf dem Dach des Grabes begann die Luft zu zittern. Major Alksen sah nichts davon. Die Unruhe war kaum auszumachen, nur ein schwaches Nachbild des trompetenförmigen Wirbelwinds, den Mitt heraufbeschworen hatte. Durch ihre neue Klarsicht aber war Maewen darauf vorbereitet; mit dergleichen hatte sie gerechnet. Sie beobachtete die Windhose, wie sie spiralig aufstieg, bis sie die Höhe des Palastdaches erreicht hatte; dort schwebte sie auf der Stelle. Wend neigte den Kopf leicht zur Seite, als auch er die Windhose entdeckte, doch sein Gesicht blieb ausdruckslos, und er sagte kein Wort. Unterdessen riss Major Alksen zuerst die Gittertür und dann die eigentliche Tür auf, während eine Assistentin im gleichen Moment beides am anderen Ende öffnete. Sie gingen hinein. Sie kamen heraus. Ihre Bewegungen verrieten Verblüffung, Verwirrung, Irritation. Im Grab war nichts. Die anderen Palastwächter, die noch immer im Kreis standen, kamen unschlüssig einen Schritt näher, unschlüssig, aber auf irgendeinen Trick vorbereitet.

Maewen entdeckte, dass sie immer nur ganz kurz hinschaute und sich meist mit dem Rücken gegen die Wand drückte, damit die schwebende Wolke, die Kankredin war, sie nicht sehen konnte. Ihre Kehle pochte noch stärker, und ihre Beine fühlten sich schwach an, als sie begriff, dass ihre neue Scharfsicht sie dazu trieb, sich so und nicht anders zu verhalten. Er ist hinter mir her!, dachte sie. So schnell wird er mir nicht vergeben! Ob er von Wend herbeigerufen worden war? Oder hatte etwa ihre Reise zweihundert Jahre zurück und wieder vorwärts in der Zeit Kankredin den Weg geöffnet? Oder sollte sich Kankredin mit einer Verschlagenheit, die der des Einen vergleichbar war, die Macht zunutze gemacht haben, die Mitt gegen ihn geworfen hatte, um den Weg durch die Zeit zu beschreiten? Es konnte kein Zufall sein, dass Kankredin ausgerechnet in dem Augenblick eingetroffen war, in dem sie die goldene Statue berührte. Es musste einen Zusammenhang geben.

Maewen hatte wirklich sehr große Angst.

Sie fand es schlimmer als alles, was ihr während der Reise über die Grünen Straßen widerfahren war. Sie fand es schlimmer als die beiden Mordanschläge in Auental. Warum eigentlich? Zuerst glaubte Maewen, es sei so, weil sie damals nur von Hestefan angegriffen wurde und nun von Kankredin. In Auental hatte sie aber gar nicht gewusst, dass ihr Angreifer ein ältlicher Barde war. Nein … es lag daran, dass es nun in ihrer eigenen Zeit geschah, in der modernen Zeit, in der sich so etwas nicht ereignen durfte. Vor allem aber war sie allein. Alle Freunde, die ihr vielleicht geholfen hätten, waren seit zweihundert Jahren tot.

Da traf es sie erst wirklich. Tot. Seit zweihundert Jahren. Worauf sie blickte, wenn sie nach unten in den Hof sah, das war Mitts Grabmal.

Die Trauer traf sie wie ein Donnerschlag, so hart und unaufhaltsam wie der große Wasserfall von Wassersturz. Unter ihrem Anprall floh Maewen die Galerie entlang, die Treppe hinauf, zur anderen Treppe und hoch in die Wohnung ihres Vaters. Dort ließ sie sich ein Bad ein. Obwohl sie beide Hähne ganz aufgedreht hatte, floss das Wasser noch längst nicht so stark wie die Trauer auf Maewen eindrang. Sie setzte sich in die Wanne und wusch sich und ihr Haar, ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken. Stattdessen ging sie im Geiste noch einmal die ganze Reise durch, von Adenmund bis Karnsburg. Sie stellte fest, wie viele Erinnerungen an Mitt sie besaß, von denen sie bis zu diesem Augenblick noch gar nichts geahnt hatte.

Dass das Wasser kalt geworden war, bemerkte sie schlagartig, sprang aus der Wanne und trocknete sich ab, dann fönte sie sich das Haar. Als es so weit war, hatte sie alles schon zweimal überdacht und begann eine dritte Runde. An einigen Stellen konnte sie sogar lachen – zum Beispiel, wo der Ring auf Mitts Finger festsaß. Die Trauer hatte aufgehört, sich über sie zu ergießen, und war zu einem bleibenden Schmerz geworden, von dem ihr Kehle und Brust wehtaten, so als sei sie von Gram sosehr erfüllt, wie Gram einen Menschen nur erfüllen kann. Wie immer trocknete ihr Haar zu einer unbändigen, flauschigen und wogenden Mähne. Es war einen guten Zoll gewachsen. Tante Liss wäre das sofort aufgefallen, doch Maewen war sich ziemlich sicher, dass Vater es nicht bemerken würde. Es hatte nun mehr als nur ein bisschen von Cennoreths – oder Kialans oder Kankredins – Strubbligkeit angenommen. Maewen zog sich ihr hübschestes Kleid an. Sie wollte Mitt nicht enttäuschen, wenn sie sich Kankredin allein zu stellen hatte. Sie betrachtete sich im Spiegel, und was sie sah, gefiel ihr gut.

Vielleicht wäre ich Königin geworden, dachte sie, um es auszuprobieren, und beobachtete sich dabei. Und sie sah, wie sie den Kopf schüttelte. Aus irgendeinem Grunde hatte das nie zur Debatte gestanden. Also würde ich mich vielleicht auch dann so fühlen, wenn Alk die Statue jemand anderem gegeben und ich sie niemals berührt hätte, sagte sie sich, doch auch das konnte sie nicht glauben. Was immer sie glaubte, es war sinnlos, über das Wenn und Hätte nachzudenken. Das Jetzt war genug – schlimm genug.

Mitt hatte ihr ein Erbe hinterlassen, obwohl sie es nicht kannte (als ihr das Wort ›Erbe‹ in den Sinn kam, glaubte Maewen einen Moment lang, sie würde zu weinen beginnen, doch schien sie zum Weinen nicht fähig zu sein; innerlich war sie hart und trocken). Sie wusste noch das Wort, das Mitt gebrüllt hatte, um den Wirbelsturm herbeizurufen, und bezweifelte nicht, dass es ihr damit ebenfalls gelingen würde. Sie könnte es gegen Kankredin einsetzen, wenn es sein musste – oder gegen Wend.

Draußen auf dem Bleidach landeten die Tauben, hoben wieder ab und kreisten voll Unbehagen. Sie wussten Bescheid. Kankredin schwebte als fast unsichtbare Wolke ganz in der Nähe. Doch bevor Maewen sich ihm zum Kampf stellte, wollte sie noch einiges unternehmen.

Sie verließ die Wohnung wieder und eilte die Treppen hinunter, ganz nach unten, bis sie in den alten Teil des Palastes kam, wo die Bilder aufgehängt waren. Sie hatte zu viel Zeit in der Badewanne verbracht. Die Kunststudenten waren schon da, und Maewen musste sich um ihre Staffelein winden und über sie hinwegsteigen, wenn sie auf dem Boden des Ballsaals liegend die Gemälde an der Decke und an den Wänden betrachteten.

Über den hellhaarigen Amil in seiner purpurnen Hose konnte sie nur den Kopf schütteln. Wer immer das gemalt hatte, besaß nicht den leisesten Schimmer, wie Mitt ausgesehen hatte. Oder vielleicht doch?, fragte sie sich und dachte an König Hern. Sollte es Absicht sein?, überlegte sie und blickte auf die Schlachtenmalereien an der Decke. Navis war dort zu sehen, auch ein riesiger Mann, der wohl Alk sein sollte, und eine grimmig wirkende Frau. War das die Gräfin von Aberath? Sie sah ein wenig wie ein Pferd aus. Nun, da Maewen wusste, nach wem sie suchen sollte, entdeckte sie auch Kialan und Ynen, die allerdings nicht sehr gut getroffen waren – und der junge Mann mit den roten Haaren, der eine Quidder in den Händen hielt und sich halb hinter einer Gruppe Pferde verbarg, sollte gewiss Moril sein, aber er sah ihm gar nicht ähnlich. Wer aber der wilde, in Pelze gekleidete Mann im Süden sein sollte, konnte sie nach wie vor nicht sagen.

Von Mitt gab es kein echtesPorträt, so viel wusste sie nun. Dennoch ging sie in den kleineren Raum, in dem die Porträts hingen. Er war voller Menschen, große Männer aus Haligland, die alle ein wenig aussahen wie Kialan, sich in einer fremden Sprache unterhielten und ihre alberne Nationaltracht trugen – Kilts und Wappenzeichen; sie mussten zu einer Tagung hier sein. Maewen drängte sich, von äußerster Neugierde erfüllt, zwischen ihnen hindurch. Da hingen sie, die beiden uralten Porträts des Adons – und genau: an dem einen stand, es sei aus Holand, das andere stamme aus Aberath –, und beide sahen sie Mitt bestürzend ähnlich, oder genauer, sie zeigten einen Mitt, den jemand gemalt hatte, ohne ihn wirklich richtig zu treffen. Maewen sah gleich, weshalb Mitt nicht gewollt hatte, dass jemand ihn porträtierte. Dieses knochige, kranke Aussehen. Doch war das wirklich der Grund?

Daneben aber sah sie Navis als Herzog von Karnsburg, wie er zwingend und hochmütig über die eigene Schulter blickte. Der Künstler hatte Navis ganz genau getroffen. Sie ging weiter zu Moril. Moril wirkte auf dem Bild mehr als nur verraten: Er sah aus, als habe man ihm das Herz gebrochen. Maewen fragte sich, ob er je darüber hinweggekommen sei, was Hestefan ihm angetan hatte, aber sie vermutete, dass es ihm nicht gelungen war. Maewen erschien es eigenartig, denn Moril hatte Hestefan eigentlich nicht besonders gemocht. Nein, dachte sie, während ihr Blick auf die Quidder in dem Bild fiel; es lag daran, dass sie beide Barden waren. Als Barde tat man bestimmte Dinge einfach nicht.

Maewen schob sich zwischen zwei breite Haligländer und betrachtete die echte Quidder in der Vitrine. Jawohl, es war wirklich Morils Instrument. Als sie es das letzte Mal gesehen hatte, sah es so viel neuer und benutzter aus als jetzt. Was für eine Schande, dass ein solch machtvolles Instrument langsam in einem Glaskasten verrottete. Doch obwohl Maewen mit Nachnamen Bard hieß, wusste sie genau, dass sie nicht die geringste Chance hatte, die Quidder so zu gebrauchen, wie sie gebraucht werden konnte. Eine Schande. Solch eine Verschwendung.

Sie wich zurück und drängte sich zum Ausgang durch. Dabei fiel ihr ein anderes Porträt ins Auge, eines, dem sie bislang nicht mehr als einen flüchtigen Blick geschenkt hatte: das Porträt einer Frau – einer dünnen Frau mit blassem Gesicht, schwarzem, zu einer Hochfrisur aufgetürmtem Haar und einer kleinen Zornesfalte zwischen den Augenbrauen. Hildi. Du großer Einer! Das Elend donnerte erneut auf Maewen herab, stärker, als sie es je für möglich gehalten hätte – und dabei hatte sie gedacht, ihr sei schon so elend zumute wie es nur ging. Mit dem Elend kamen Erinnerungen hoch: wie Mitt in der Rechtsakademie an dem feuchten Fleck herumwischte, den ihre Tränen auf seiner Brust hinterlassen hatten; wie sich Mitts strähniges, fettiges Haar anfühlte, als sie ihm die Krone wieder aufsetzte; seine unglaublich dicken Fingerknöchel…

Als Maewen zur Besinnung kam, rannte sie schon wieder die Treppen hinauf, drängte sich an zwei großen Touristengruppen vorbei und trampelte schließlich allein nach oben weiter. Als sie durch die Tür des Verwaltungsbüros stürmte, hatte sie kaum noch genügend Luft zum Keuchen. Sie stützte sich an der Wand ab, um wieder Atem zu schöpfen, und beobachtete die übliche hektische Betriebsamkeit: Leute eilten hin und her, Papiere wurden herumgereicht, es wurde getippt, und die Telefone klingelten. Ihr Vater spürte, dass sie dort war. Er legte den Hörer auf, blickte sie über die Schulter hinweg an und hob fragend das Kinn.

Diese Haltung! Jetzt wusste Maewen plötzlich, an wen Navis sie die ganze Zeit erinnert hatte. Beide waren kleine Männer. Und genau wie Vater war auch Navis ganz in seinem Element, wenn er Anweisungen erteilte und sich um tausend Dinge gleichzeitig kümmerte. Kein Wunder, dass Mitt Navis zum Herzog gemacht und sich von ihm das Königreich hatte organisieren lassen! Vater sah, dass sie etwas brauchte, und kam zur Tür. Auch darin glich er Navis.

»Was ist los, Maewen?«

›Nichts‹, hätte sie am liebsten geantwortet. ›Ich bin nur in einen König verliebt, der vor über hundert Jahren gestorben ist.‹ So etwas Dummes. Halte bloß den Mund. »Vater, wen hat Amil der Große geheiratet?«

Er zog die eine Braue hoch, doch im Gegensatz zu Navis konnte er das nur, indem er die andere ebenfalls ein Stückchen hob. »Ist das so wichtig? Schon gut, ich sehe es dir an. Nun, seine Frau ist niemals sehr hervorgestochen. Anscheinend war sie von eher zurückhaltender Wesensart, denn über sie ist nur wenig bekannt außer dem Umstand, dass sie sehr groß war, und ich glaube, sie hatte auch ein sehr freundliches Gemüt…«

»Sag mir ihren Namen, Vater!«, unterbrach ihn Maewen, »und halt mir keinen Vortrag.«

»Nannte ich ihn nicht?«, fragte er überrascht. »Enblith – aber selbstverständlich darf man sie nicht mit Enblith der Schönen verwechseln.«

»Danke!«

Man stelle sich das vor!, dachte Maewen, während sie die Treppe wieder hinunterrannte. Biffa! Biffa! Na, wenigstens hat Mitt dabei einmal ein wenig Vernunft bewiesen! Und eine gute Wahl getroffen, überlegte sie, während sie auf der Museumsgalerie patrouillierte und darauf wartete, dass Kankredin sich zeigte. Biffa war nett gewesen – so nett sogar, dass Maewen sich gut vorstellen konnte, wie Mitt und sie glücklich bis an ihr Ende zusammen gelebt hatten. Maewen versuchte, darüber froh zu sein. Doch gleich darauf sagte sie sich: »Ich denke, am nächsten Tag oder so hatte er mich schon vergessen. Ich bezweifle, dass er in seinem Leben auch nur noch einmal an mich gedacht hat.«

Verdrießlich und verletzt klang ihre Stimme. Sei nicht so albern!, tadelte sie sich. Ein König muss heiraten. Außerdem muss er sich an dich erinnert haben, sonst hätte er nicht diesen riesigen Wegstein bauen lassen. Schließlich habe ich Moril erzählt, dass er in der Zukunft so groß sein würde. Und außerdem … Nun, der Wegstein war eigentlich doch keine Nachricht, denn er musste doch dort sein; plötzlich aber blieb Maewen stocksteif auf der Stelle stehen und fragte sich, ob Mitt ihr vielleicht nicht doch eine Nachricht hinterlassen hatte, die in der Geschichte vergraben lag. Sie war schon wieder auf dem Weg nach oben, bevor die Idee sich in ihrem Kopf vollständig bilden konnte.

»Vater!«, rief sie von der Bürotür.

Vater las gerade in einem Papierstapel, aber er kam zu ihr. »Ja?«

»Vater, woher hat der Tannoreth-Palast seinen Namen?«

»Amil hat ihn so genannt«, antwortete er. »Ich bin mir aber sicher, dass ich dir das schon am ersten Tag erzählt habe. Niemand weiß genau, wie er auf den Namen kam. Die Vorsilbe Tan ist das alte Wort für ›jung‹ oder ›jünger‹, und wir nehmen an, dass Amil an Herns alten Palast gedacht hat, der vielleicht einst an der gleichen Stelle stand.«

»Und das Noreth?«, fragte Maewen.

»Das weiß niemand. Anscheinend ist es nur ein Name – Maewen, entschuldige bitte, aber ich muss diese Papiere lesen, bevor mich das Sekretariat der Königin deswegen zurückruft.«

Maewen eilte wieder die Treppe hinunter und dachte: Junge Noreth – nein, die jüngere Noreth! Nicht Noreth, sondern die Noreth, die jünger war. Großer Einer! Er hat einen ganzen Palast nach mir benannt, und ich kann mich nicht einmal bei ihm bedanken! Ihre Augen begannen zu jucken, und der drückende Schmerz in ihr wurde davon wärmer, ohne dass er leichter zu ertragen gewesen wäre. Zweimal umrundete sie die Galerie und erfreute sich an Mitts Botschaft. Dann fielen ihr andere Dinge ein, die sie unbedingt wissen musste. Und wieder schoss sie die Treppe hoch.

»Vater!«

Sie vergaß, wie oft sie zum Büro hinaufrannte und in welcher Reihenfolge sie die anderen Fragen stellte. Jedes Mal war Vater erstaunlich geduldig – wie auch Navis es war, wenn man wirklich etwas benötigte. Oder sollte es etwa so sein, dass Navis auf irgendeine verwirrende Weise eine Art Verwandtschaftsgefühl zu Maewen empfunden hatte? Eines der ersten Dinge, die sie fragte, war jedenfalls: »Vater, wen hat der Herzog von Karnsburg geheiratet?«

Vater runzelte die Stirn. »Ich kann mich wirklich nicht an den Namen seiner ersten Frau erinnern. Seine zweite Frau war aber die Witwe des Barons von Adenmund.« Er schnippte mit den Fingern. »Wie hieß sie gleich? Jawohl, Eltruda, das war ihr Name!«

»Vielen Dank, Vater.« Noreths Tante. Es passt alles zusammen. Und wieder lief sie treppab, um auf der Galerie zu patrouillieren.

Bei einem ihrer neuerlichen Besuche im Büro drückte ihr eine von Vaters jungen Damen ein Käsebrötchen in die Hand und sagte, es sei Zeit fürs Mittagessen. Maewen hatte keinen Appetit. Sie trug das Brötchen mit sich herum, während sie die Galerie abschritt. Sie hatte es noch immer, als sie Wend näher kommen sah und sich vor ihm im Büro versteckte. Dort musste sie das Brötchen essen, auch wenn es ihr im Halse stecken zu bleiben drohte, sonst wäre die junge Dame bestimmt beleidigt gewesen.

»Vater? Wen hat Hild… – ich meine, die älteste Tochter des Herzogs von Karnsburg geheiratet?«

»Hildrida. Meine Güte. Du scheinst ja besessen zu sein von dieser Familie«, sagte Vater. »Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Geheiratet hat sie gewiss, denn ihre Nachfahren sind noch immer Hüter der Heiligen Inseln, aber … Nicht dass Hildrida je viel Zeit auf den Inseln verbracht hätte. Amil war viel öfter dort, und auch Hildridas Bruder Ynen, der dort unsere Marine aufgebaut hat. Deswegen ist Dalemark überhaupt zu einer großen Seemacht geworden, weißt du. Ynen hat auf den Heiligen Inseln die ersten Dampfschiffe getestet.«

Gesegnet seien Vater und seine Vorträge!, dachte Maewen. Man bekam immer doppelt so viele Antworten, wie man Fragen gestellt hatte. Bei manchem dieser Besuche im Büro erfuhr sie sogar mehr als sie wissen wollte, zum Beispiel, als sie fragte, wer Hobin gewesen sei. Dieser Vortrag fing an mit: »Du meinst den Blutigen Hobin von Holand? Er war zu Beginn von Amils Herrschaft der Auslöser des Aufstands im Süden. Und wie so viele Revolutionäre geriet er schließlich außer Kontrolle …« Maewen hörte ihm bei diesem Vortrag nicht sehr aufmerksam zu, denn es ging nur um Hobin und nicht um Amil.

Manchmal aber hörte sie auch so gut wie gar nichts, wie etwa, als sie fragte: »Moril der Barde, Vater? Weiß die Geschichte etwas über ihn?«

»Nein«, antwortete Vater. »Ich habe noch nie von ihm gehört.«

»Und Hestefan der Barde?«

»Nichts«, sagte Vater. »Du darfst nicht vergessen, dass sich das Land während Amils Herrschaft sehr rasch verändert hat. Zu der Zeit, als er starb, waren Barden völlig überholt.«

Der arme Moril. Als Maewen das nächste Mal nach oben stürmte, fragte sie: »Graf Keril von Hannart, Vater. War er Amil eine große Plage?«

Mit hochgezogenen Augenbrauen wie ein Abbild von Navis sagte Vater: »Schreibst du an einem historischen Roman, oder was ist los? Nicht dass ich dich davon abbringen möchte, aber bitte lass uns dann auch genau sein. Wie die meisten nordländischen Grafen unterstützte auch Keril von Hannart Amil, doch Amil scheint ihm nie sehr großes Vertrauen geschenkt zu haben. Die Historiker führen den Niedergang Hannarts gewöhnlich auf diese Periode zurück.«

»Danke.« Aha. Also war Keril als nur einer unter vielen Politikern in die Geschichte eingegangen, der einen Fehler begangen hatte. In gewisser Weise stimmte das zwar, und doch war es so falsch.

Maewen ging nachdenklich davon. Sie war müde. Der heutige Tag hatte buchstäblich zweihundert Jahre gedauert. Doch selbst wenn sie entspannt genug gewesen wäre, um sich hinzusetzen und auf Kankredin zu warten – bei ihrem Elend hätte sie niemals stillhalten können. Deshalb zog sie ihre Kreise durch den Palast immer weiter und verbrachte so die Zeit bis in den Nachmittag hinein.

Als der Nachmittag halb vorüber war, begannen im ganzen Palast die Lautsprecher der Rundsprechanlage zu knistern. Jetzt geht es los!, dachte Maewen und blieb stocksteif stehen, wo sie war, irgendwo zwischen zwei Schlafzimmern für Staatsbesuche.

»Achtung, Achtung. Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit.« Die Stimme gehörte Major Alksen. »Soeben haben wir die Meldung erhalten, eine Bombe sei auf dem Palastgelände versteckt. Ich wiederhole: Soeben haben wir die Meldung erhalten, irgendwo auf dem Palastgelände liege eine Bombe versteckt. Ich muss Sie alle auffordern, das Gelände so rasch wie möglich zu verlassen. Bitte bewahren Sie Ruhe. Diese Anweisung gilt für Besucher und Beschäftigte gleichermaßen. Bitte verlassen Sie umgehend den Palast und das Palastgelände. Vorn und hinten sind Türen und Tore geöffnet worden. Bitte benutzen Sie die nächste Tür, die Sie finden. Bitte kehren Sie nicht zurück, bevor Entwarnung gegeben wurde. Achtung, Achtung …«

Die Durchsage wurde immer wieder aufs Neue wiederholt.

Der Palast hallte von den leisen Schritten hunderter Menschen wieder, die durch die Räume hetzten, die Treppen hinuntereilten und nach den Türen suchten. Wahrscheinlich waren auch Vater und seine Damen auf dem Weg nach draußen. Maewen wollte sich dessen vergewissern. Einmal mehr führten ihre Füße sie auf den vertrauten Weg zum Büro. Die Treppe wurde jedoch von dem Büropersonal blockiert, das die Stufen herabgestürmt kam.

»Dein Vater, Liebes?«, fragte jemand, ohne stehen zu bleiben. »Herr Bard ist hinunter ins Wachbüro gegangen. Vermutlich bleibt er dort, bis das Bombenräumkommando eintrifft. Du kommst am besten mit uns.«

Maewen ließ sich zurückfallen und alle an sich vorbeigehen, bis die Treppe wieder frei war. Vater war nicht in Sicherheit, doch daran konnte sie nichts ändern. Sie ging leise wieder nach unten. Der Palast wirkte nun eigenartig leer, viel leerer als sie ihn je gekannt hatte. Während sie die Treppe hinabstieg, lief Maewen im Zickzack zwischen den hinteren und den vorderen Fenstern hin und her, ohne dass jemand sie daran hinderte, und kehrte schließlich zu den hinteren zurück. Menschen stürzten durch die Gärten hinter dem Palast und über den Vorhof. Bevor nicht jeder fort war, würde nichts geschehen, da war Maewen sich sicher. Kankredin hatte es auf sie abgesehen und niemanden sonst. Vielleicht würde er als späte Rache an Mitt auch den Palast zerstören, aber niemals würde er die vielen Touristen ermorden. Kankredin war auf die Macht über die Menschen aus, und wenn alle tot waren, konnte er sie nicht mehr ausüben.

Sie stieg weiter die Treppe herab und ließ dabei die Fenster nicht aus den Augen. Mittlerweile war sie in dem Stockwerk, das sich vorn zu den Balkons mit den Säulengängen öffnete. Die Fenster bestanden aus großen Glastüren, die Maewen durchqueren musste, um auf einen überdachten Gang zu gelangen, der auf dünnen Säulen ruhte. Sie lehnte sich über die Brüstung und blickte hinunter in den Vorhof. Als sie vom höchsten Balkon hinunterschaute, eilten noch immer einzelne Menschen über den Hof und durch das überwölbte Tor hinaus. Als sie vom nächsttieferen Stockwerk aus schaute, waren sie alle fort. Alles war leer und still – nein, doch nicht!

Maewen lehnte sich auf die Brüstung und wagte nicht, sich zu bewegen. Über den vielen Kuppeln von Amils Grabmal wogte und wand sich eine große Wolke aus etwas nahezu Unsichtbarem. Maewen entdeckte sie hauptsächlich dadurch, dass sie die Mauer und die Gebäude der Stadt dahinter in hässlichen, glasigen Wellen verzerrte. Die Wolke hatte nicht die Gestalt eines Menschen – noch nicht. Kankredin hatte es eilig, sich zusammenzufügen. Maewen befeuchtete ihre Lippen. Die Wolke war gewaltig. Kankredin schien von irgendwo her mehr seiner selbst hergeholt zu haben. Der widerliche Schimmer hatte gut die fünffache Größe des Gespensterwesens, das ihr Pferd gewesen war. Sie nahm an, sie sollte das Wort nun brüllen, doch sie hatte das Gefühl, dass das Ungetüm, das dort schwebte, schon zu groß sei, um ihm damit beizukommen.

Auf der anderen Seite des Vorhofs schlossen sich die Tore des Haupteingangs langsam. Sie wurden vom Wachbüro aus ferngesteuert und sperrten Maewen mit Kankredin ein. Aber auch Vater war hier gefangen. Sie musste etwas unternehmen.

Bevor die Tore ganz zugeschwungen waren, schlüpfte ein Mann in einer alten Lederjacke zwischen den Flügeln hindurch und schob sie mit dem Rücken ganz zu. Das musste der Bombenräumexperte sein. Maewen hatte gehört, dass diese Männer Draufgänger waren, die sich völlig unordentlich kleideten und es genossen, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Das Dumme war nur, diesmal bekam er es nicht mit einer Bombe zu tun. Sie sah, dass er es begriff. Er stand genauso steif da wie Maewen und starrte zu der schwellenden, unsichtbaren Wolke hoch. Dann schnellte sein Kopf herum … Etwas war merkwürdig … Noch jemand war auf dem Hof und rannte. Maewen hörte die schnellen Schritte. Dann sah sie, wer kam. Es war Wend, und er rannte auf Amils Grabmal zu.

Der Mann am Tor brüllte ihn laut an. »ZURÜCK MIT DIR, DU BLÖDER NARR!«

Die Stimme gehörte Mitt! Maewen hing mit gesenktem Kopf über der Brüstung, ohne bemerkt zu haben, dass sie sich bewegte. Sie wusste aber, dass sie Recht hatte. Nur dass es nicht wahr sein konnte. Der Mann war einfach nicht schlaksig genug – oder?

Als Maewen sich bewegte, schwang die Wolke herum, die sich über dem Grabmal ringelte und sich schon wallend und windend angeschickt hatte, den Mann am Tor zu umfließen, und wandte sich ihr zu. Maewen sah – nein, sie spürte mitten darin Augen. Augen, die sie erkannten. Augen, die sie hassten. Augen mit dicken Lidern, das wusste sie.

Mitt schrie ein Wort. Es war nicht das Wort, das Maewen kannte. Bei diesem Wort versteifte sich das Gehirn und zog vor zu vergessen, es je gehört zu haben. Dieses Wort lockte Schauder von tief, tief unter der Erde hervor. Die Unsichtbarkeit über dem Grab warf sich hastig herum und wollte sich auf den Rufer stürzen.

In diesem Herumwerfen wurde Kankredin gepackt und festgehalten und hoch, ganz hoch in die Luft geworfen, wurde mit einem gewaltigen Wasserstrahl vermengt und ging in ihm auf, in einer unvorstellbaren Springflut. Als gewaltiges dunkles Horn brach Wasser aus dem Grabmal und schleuderte Teile des Bauwerks beiseite, als hätten sie zu einem Kartenhaus gehört. Maewen starrte mit verrenktem Hals auf die unfassliche Wassersäule, die am Himmel hing und immer dunkler wurde, die sich auflösenden Fetzen der schlängelnden Wolke verschlang und an seiner Spitze hoch, hoch oben alles zu gelben Schaum aufwühlte.

Dann stürzte sie zusammen.

Maewen warf sich hinter der Brüstung flach hin. Trotzdem war sie augenblicklich bis auf die Haut durchnässt. Der offene Balkon schwankte unter ihr. Salzwasser brannte ihr in den Augen. Salzwasser? Das Brüllen, mit dem viele tausend Tonnen Wasser niederstürzten, war ohrenbetäubender als jede Bombenexplosion, und es wollte nicht aufhören, es vermischte sich mit dem Bersten von Stein. Während es noch anhielt, rappelte Maewen sich auf; im Augenblick konnte sie sich keine Gedanken darum machen, dass sie stocktaub war. In der Nähe fehlten drei Säulen, auf denen der Balkon eigentlich ruhen sollte, und wo sie sich über die Brüstung gelehnt hatte, klaffte nun eine Lücke. Auch das konnte sie nicht kümmern, und sie überquerte den schwankenden, knirschenden Balkon, bis sie die erste unbeschädigte Säule erreicht hatte. Daran klammerte sie sich fest und sah in den Hof hinunter, der von wütenden, grauen, hohen Wellen bedeckt war. Das Tor war weggeschwemmt worden, der Durchgang lag in Trümmern. Wasser schoss brüllend auf die Königsstraße hinaus. Das Salz auf Maewens Gesicht stammte zum Teil aus Tränen. Niemand konnte das überlebt haben.

Und doch, er war am Leben geblieben. Er musste zur Seitenmauer hinübergeschwemmt worden sein. Sie sah ihn gerade noch am Rande ihres Blickfelds, wo es von der gezackten Kante des Balkons begrenzt wurde, wie er sich an der Mauer hochzog; zuerst stand er bis zu den Schultern im Wasser, dann nur noch bis zu den Hüften. Währenddessen lief das Wasser reißend schnell ab und versickerte unter der Erde. Maewen hörte schwach das Brausen und Grollen, mit dem es hinunterrann. Sie aber starrte auf das durchnässte, strähnige Haar. Es sah wirklich aus, als gehöre es Mitt.

Dann hatte er sich außer Sicht gezogen. Maewen hatte sich umgedreht und wollte in den Hof davonlaufen, als sie ihn sprechen hörte. Er war direkt unter dem Balkon. »Komm schon, steh auf, du Narr. Auf die Beine.« Das war Mitts Stimme, kein Zweifel.

Wends Stimme antwortete. »Lass mich los. Ich verdiene es zu ertrinken.«

Und Mitts Stimme entgegnete: »Wenn das so wäre, hätte der Erderschütterer dich nicht am Leben gelassen. Komm schon, steh auf.«

Maewen hörte Plätschern und Husten. Wend fragte: »Begreifst du denn nicht? Ich habe mit Kankredin zusammengearbeitet.«

Mitt antwortete: »Nun, du hattest immerhin so viel Verstand, mich anzurufen und einzuweihen, nachdem du bemerkt hattest, wie viel von ihm sich hier gesammelt hatte. Auf dem Gebiet der Erpressung und der Versuchung und alldem ist er ein wahrer Meister. Hör auf, dich selbst zu geißeln. Ich will nur eins wissen … – Pass auf! Die Stufen sind alle zerborsten.« Maewen hörte Platschen und das Geräusch von nassem Kies. Dann erklang Mitts Stimme unter ihr an der Palasttür. »Ich möchte gern wissen, wie hat er dich überzeugt?«

»Noreth«, sagte Wend. Maewen hörte, dass er weinte. »Meine Tochter Noreth! Die ganzen Jahre habe ich gedacht, du hättest sie ermordet.«

»Wie konntest du solch dummes Zeug glauben?«, entgegnete Mitt. »Es gab mehrere hundert Leute, die du bloß hättest fragen müssen!«

Maewen wurde sich klar, dass sie nicht mehr warten konnte. Bis jetzt hatte sie nicht gewagt zu glauben, dass es wirklich Mitt war, aber diese Worte bewiesen es. Sie eilte durch die offenen Türfenster zurück in den Palast und rannte durch den Ballsaal zur nächsten Treppe. Auf halbem Weg nach unten aber blieb sie stehen – hopste dabei ungeduldig auf der Stelle, weil es so eitel war – und betrachtete sich, durchnässt wie sie war, in den großen Spiegeln: nass, mit salzverkrusteten Haaren, einem tränenüberströmten Gesicht und den triefenden Fetzen ihres besten Kleids. Na, er hat mich schließlich schon genauso unordentlich gesehen, und er weiß, dass ich erst dreizehn bin. Doch während sie weiter hinuntereilte, ertappte sie sich dabei, wie sie wiederholte: Erst dreizehn. Er ist zweihundert Jahre alt. Ich bin erst dreizehn. Aus und vorbei.

Sie rannte durch die schlüpfrignasse Halle. Unter ihren eiligen Füßen schlitterte Geröll zur Seite, und sie platschte durch Pfützen aus Seewasser. Und endlich sah sie die offene Tür, durch die man auf durcheinander geworfene Pflastersteine und dampfendes Wasser blickte. Ein Hauch Seeluft blies herein. Maewen raste hinaus und blieb stehen. Sie sah nur Wend, der durchnässt an einer Säule lehnte. Weit entfernt, jenseits von ausgerissenen Pflastersteinen, auf denen der Seetang klebte, olivgrün auf blutrot, kletterte Mitt gerade über die Trümmer des Eingangstores.

»Mitt!«, schrie sie.

Er hörte sie. Er hielt inne. Sie sah, wie er darüber nachdachte. Er drehte sich um und winkte ihr fröhlich zu, bevor er von dem Trümmerhaufen sprang und über die Königsstraße davonging.

Maewen blieb zurück und stierte ihm hinterher. Zwischen ihr und den Überresten des Tores erstreckte sich ein schlammigschaumiger, unregelmäßig geformter Teich, über den schmutzige Wellen zogen. Noch während sie zusah, versickerte er langsam im Boden. Dort hatte sich natürlich das Grabmal befunden, einer von Mitts größten Scherzen. Als er es bauen ließ, musste er schon gewusst haben, dass er ein Unvergänglicher war. Kein Wunder, dass er solch eine Absurdität errichtet hatte. Trotz ihres Elends hätte Maewen fast gelächelt. Er ist zweihundert Jahre alt. Ich bin dreizehn.

Sie drehte sich Wend zu. Wend starrte geradewegs nach vorn. Er tropfte. »Ich schulde dir eine Entschuldigung«, sagte er.

»Ja«, stimmte Maewen ihm zu. »Hast du die Arbeit im Palast angenommen, um auf mich zu warten?«

»Nein«, sagte Wend. »Ich wusste nie genau, woher du kommen würdest. Ich nahm die Arbeit an, um etwas zu tun zu haben. Man hat so viel Zeit, weißt du.« Er sagte es in einem furchtbar düsteren Ton. Maewen konnte sehen, wie sich die Zeit dehnte und dehnte, vor ihm und hinter ihm.

»Warum hast du Noreth erzählt, sie sei die Tochter des Einen?«, fragte sie.

»Das habe ich nicht. Auf diese Idee ist ihre Mutter gekommen.« Wend lachte, ein hässlicher, abgehackter Laut, der wie ein schlimmer Husten klang. »Der Eine hatte mir gesagt, sie würde der Straße des Königs folgen. Er hat mich angelogen.«

»Bist du dir sicher, dass es nicht Kankredin gewesen ist?«, fragte Maewen.

Wend drehte sich ihr zu und starrte sie an, als wäre er noch gar nicht auf diese Idee gekommen. Hinter ihm sah sie in der Ferne Major Alksen, dem Vater folgte. Behutsam näherten sie sich dem klaffenden Loch, wo Amils Grabmal gewesen war.

»Komm mit«, sagte Maewen zu Wend. »Ich habe so eine Idee, was wir mit dir anstellen.« Als Wend sich nicht rührte, ergriff sie seine kalte Hand und zerrte daran. »Du musst dir wenigstens etwas Trockenes anziehen.«

»Nicht nötig«, entgegnete Wend. Seine Kleidung begann zu dampfen, als stünde er in der warmen Sonne. Trotzdem erhob er keinen Einwand, als Maewen ihn, gefolgt von einer Dampfwolke, durch die steinige Halle zur Treppe zog. Was für ein Glück, dachte sie. Bei dem, was sie vorhatte, wäre es besser, wenn Major Alksen und Vater draußen beschäftigt waren. Aber warum tue ich das überhaupt?, wunderte sie sich, während sie Wend nach oben zerrte. Er hat geglaubt, er schickt mich zurück, damit ich in der Vergangenheit ermordet werde. Er wusste, dass er mich zu Kankredin schickt. Versuche ich, mich als würdig zu erweisen? Doch eigentlich kannte sie den Grund. Sie wusste genau, wie Wend zumute war.

Sie zerrte ihn durch den Ballsaal in den kleineren Raum, wo die Bilder hingen, und schob ihn zu der Vitrine, in der die alte Quidder lag.

»Hol sie raus«, sagte sie. »Spiel sie. Sie gehört sowieso dir.«

»O nein«, sagte er. »Ich habe sie meinem Sohn geschenkt. Und nun ist sie Eigentum der Königin.«

»Wirklich?«, fragte Maewen. »Soviel ich weiß, hat Moril sie Mitt hinterlassen, aber nicht Amil, und da Mitt noch lebt, gehört sie immer noch ihm. Ich weiß, dass es ihn nicht im Geringsten stören würde, wenn du sie hättest. Es ist doch reine Vergeudung, wenn sie hier nutzlos herumliegt.«

»Vielleicht«, sagte Wend. Er sah das alte Instrument an, als kämpfe er gegen eine sehr große Versuchung. »Aber irgendjemand wird es merken, wenn ich sie entwende.«

»Allmählich machst du mich wütend!«, rief Maewen. »Nach allem, was ich gehört habe, bist du einer der größten Magier, die es je gegeben hat. Gewiss kannst du es einrichten, dass es so aussieht, als wäre die Quidder noch immer da? Niemand wird je versuchen, auf ihr zu spielen, meinst du nicht auch?«

»Das ist wahr.« Wend blickte an seiner Uniform hinunter, die wieder schmuck und trocken war. Mit einer hoffnungslosen, umständlichen Gebärde pflückte er ein Stück getrockneten Tang ab und starrte das rotbraune Zweiglein einen Augenblick lang an, als hätte er so etwas noch nie gesehen. Plötzlich lächelte er. Er zog die Schlüssel aus der Tasche, schloss den Glaskasten auf und hob den Glasdeckel. Dabei schnippte er das Tangzweiglein hinein. Er nahm die Quidder auf; für Maewen sah es aus, als nehme er ein Gespenst der Quidder aus ihr selbst heraus. In der Vitrine lag noch immer eine Quidder, alt, bauchig und glänzend. Wend hatte genau die gleiche Quidder in der Hand und zog sich den Gurt über die Schulter.

»Den Gurt solltest du lieber ersetzen«, sagte Maewen. »Er ist schrecklich durchgescheuert.«

Wend glättete ihn. »Ich weiß schon. Ich habe den Gurt selbst gemacht. Er wird halten.« Sein Gesicht sah nun anders aus. Es wirkte frischer und glücklicher. Ernst mischte sich hinein, während er die Wirbel drehte und die Saiten stimmte. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck verträumter Glückseligkeit an, als er eine kurze Melodie spielte. Die Quidder summte, sie schnurrte fast vor Glück. »Verzeih mir«, sagte Wend. Er blickte zum Porträt Morils hoch, als wäre Moril tatsächlich da.

»Das wird er«, sagte Maewen. »Sie ist ihm immer eine Last gewesen.«

Wend seufzte. »Ja, und das ist das Merkwürdige daran. Oder doch nicht? Meine Macht war es, die ich in diese Quidder gelegt habe – gut die Hälfte davon.« Er klimperte eine andere hastige Weise. Danach stand er anders da, gelassener, und er wirkte stärker. »Ich hätte diese Macht niemals weitergeben dürfen«, sagte er und blickte so träumerisch drein, wie Moril oft ausgesehen hatte. Dann drehte er sich um und verließ den Raum.

»Solltest du nicht meinem Vater sagen, dass du gehst?«, fragte Maewen.

»Meine Kündigung liegt nun auf seinem Schreibtisch«, antwortete Wend und beschwor einen lichten Wasserfall aus Tönen, während er ging. Seine Uniform war verschwunden. Er trug nun eine schäbige Lederjacke ähnlich der, die Mitt angehabt hatte.

Er ging wirklich. Maewen rief sich rasch in Erinnerung, dass sie all dies auch aus Eigennutz getan hatte. »Wend! Wie kann ich Mitt erreichen?«

Wend blieb stehen. »Über Cennoreth, würde ich sagen.« Dann drehte er sich um und blickte sie über die Schulter hinweg an, wie Navis auf dem Porträt hinter ihr. Sein Gesicht war über das Stadium des Glücks hinaus, es war das Gesicht eines Mannes, der über Macht gebietet. Und das Eigenartige war, dass er dadurch freundlicher wirkte. »Mitt hat mir eine Nachricht an dich hinterlassen. Es tut mir Leid – ich hatte sie völlig vergessen. Ich weiß überhaupt nicht, was er damit meint. Er sagte: ›Sag ihr, sie soll aus den zwei Jahren vier Jahre machen, wegen der Inflation.‹ Ergibt das für dich irgendeinen Sinn?«

Ganz gewiss. Maewen hätte fast laut aufgelacht, während sie Wend hinterherblickte. Vier Jahre! Von wegen! Morgen würde sie in den Zug nach Sturzbachau steigen, und wenn sie erst einmal dort war, würde sie Cennoreth schon irgendwie finden.

[ENDE]