17.

Durch die Binsen gelangten sie auf ein kleines verwildertes Feld mit einem Steintrog in der Mitte. Hühner scharrten im Boden. Ein Stück weiter waren zwei Ziegen angebunden, und hinter ihnen lag ein Gemüsegarten. Das Bauernhaus war eine niedrige Steinkate, die zwischen Obstbäumen und Lilien an den Felsenspitzen lehnte. Es war warm hier, und es duftete angenehm, denn die Felsen umgaben das Häuschen wie ein hohes Hufeisen und ließen nur den milden Westwind passieren.

Wend durchquerte den Garten mit langen Schritten und klopfte an die Haustür. Fast augenblicklich wurde ihm von einer alten Frau geöffnet, die sich auf einen Stock stützte.

»Seine Schwester?«, fragte Navis und musterte die beiden, die freudig miteinander redeten.

»Eher seine Oma«, meinte Mitt. »Trotzdem, vielleicht können wir heute Nacht in einem Bett schlafen.« Und ein Schlafzimmer hatte eine Tür, die man verriegeln konnte – nur für den Fall, dass Kankredin Noreth überredete, ihre Morde in dieser Nacht zu begehen.

O ja!, dachte Maewen. Und ein Bad!

Navis blickte nervös den Pfad entlang. »Hier finden sie uns nicht«, sagte Moril zu ihm. »Versprochen.« Navis warf einen Blick auf Morils Quidder, aber nicht etwa so, als sei er restlos überzeugt.

Wend kam zurückgeschlendert. Er wirkte fast so sorglos wie zu der Zeit, als er die Quidder in seine Obhut genommen hatte. »Sie erlaubt euch, auf dem Feld zu übernachten«, sagte er fröhlich. »Und wenn die jungen Leute zu ihr an die Tür kommen, nachdem sie sich um die Pferde gekümmert haben, hat sie Milch, Eier und Käse für euch.« Ein einfaches Lied pfeifend, band er die Ziegen los und führte sie hinter das Haus.

Schade!, dachten Mitt und Maewen, jedoch aus unterschiedlichen Gründen.

»Ich sehe schon, die alte Dame schätzt ihre Abgeschiedenheit«, sagte Hestefan mürrisch. Offensichtlich hatte auch er auf ein Bett gehofft.

»Das Haus ist nicht besonders groß«, sagte Moril, als er das Maultier ausspannte. Außer Wend freute er sich als Einziger über die Entscheidung der alten Frau. Navis bewachte weiterhin den Weg und bestand darauf, das Lager an einer Stelle aufzuschlagen, wo es jemand, der sich vom See her näherte, nicht sehen konnte. Daher mussten sie eine lange Strecke durch das Gras zum Wassertrog stapfen, was Mitt für recht überflüssig hielt. Er war es nämlich, der Wasser holen musste. Der Trog indes schlug ihn in seinen Bann. Die ganze Zeit blubberte sauberes Wasser hinein, und dennoch floss er aus irgendeinem unerfindlichen Grund kein einziges Mal über.

Als die Pferde abgerieben waren und grasten, machte Moril eine Kopfbewegung zum Haus hin. Mitt blinzelte und überließ es Navis, sich um den Rest zu kümmern. Sie fühlten sich ein wenig bedrängt, als sie bemerkten, dass Noreth ihnen zu den Obstbäumen folgte. Für die beiden gehörte sie nicht mehr zu den jüngeren Leuten.

Es dauerte nicht lang, und Maewen begriff, dass sie einen Patzer begangen hatte; ohne nachzudenken hatte sie sich Mitt und Moril angeschlossen, und nun war es wohl zu spät, wieder umzukehren. Außerdem war sie neugierig auf Wends Schwester.

Wend öffnete ihnen die Tür. »Kommt nur herein«, sagte er. »Hier entlang.«

Er führte sie rasch durch eine Küche und öffnete eine Tür in den rückwärtigen Teil der Kate. Maewen blickte sich neugierig um, doch sah sie in der Eile nichts außer einem sauber geschrubbten Holztisch und einem frisch geschürten, qualmenden Torffeuer, über dem ein Kupferkessel pfiff. Im hinteren Raum war es zunächst noch schwerer, etwas zu erkennen. Er hatte nur ein Fenster, das halb ein großer Webstuhl verdeckte, auf dem Wollstoff gewoben wurde. Es roch nach warmem Holz und noch ein wenig mehr nach leicht öliger Wolle. Die niedrige Decke ruhte auf dicken Sparren. Die Wände waren mit altem, dunklem Holz getäfelt – sehr hübsch mit einer Vielzahl von nur schlecht erkennbaren Motiven beschnitzt –, und überall in diesem finsteren Zimmer stapelten sich hohe, rundliche Gebilde aus Holz. Diese hölzernen Gegenstände schienen den Wollgeruch auszudünsten. Offenbar handelte es sich um riesige Spindeln mit Wollgarn in allen erdenklichen Farben.

Wends Schwester stand vom Webstuhl auf und schritt zwischen den Spindeln hindurch auf die vier zu. Sie war hochgewachsen und bewegte sich flink. Als sie nahe genug herangekommen war, um deutlich gesehen zu wer den, glaubten Mitt, Moril und Maewen einen Augenblick lang, die alte Frau an der Tür müsse Wends alte Mutter gewesen sein; dann aber wurde ihnen klar, dass es die gleiche Dame war. Obwohl sie nun jünger wirkte als eben, sah sie noch immer viel älter aus als Wend. Sie hatte ein schmales Gesicht mit nur wenigen Runzeln und eine gewaltige Masse weißen, lockigen, widerspenstigen Haares. Sie trug es mit Kämmen zurückgesteckt, die inmitten der Weiße schwarz glänzten. Mitt fand, dass sie entfernt der Gräfin ähnelte. Allerdings machte sie einen erheblich freundlicheren Eindruck als die Adlige. Auch Maewen fühlte sich an jemanden erinnert, aber sie konnte nicht sagen, an wen. Sie dachte, dass Wends Schwester in ihrer Jugend atemberaubend schön gewesen sein und gewiss flachsblondes Haar gehabt haben musste. Die Augen der Dame waren noch immer überwältigend schön, riesig groß und blaugrün.

»Ich freue mich, euch kennen zu lernen«, sprach sie in einem weit gebildeteren Ton, als Wend ihn anschlug, und auch darin erinnerte sie Mitt an die Gräfin. »Wie ich höre, sucht ihr des Adons Schwert.«

»Ach, hat Wend dir das erzählt?«, fragte Maewen. »Ja. Wir haben schon seinen Kelch und«, sie hob die Hand mit dem Ring am Daumen, »diesen Ring.«

»Dann reitet einer von euch wahrlich die Straße des Königs«, sagte die Dame und blickte mit großer Anteilnahme von Maewen zu Moril und zu Mitt. »Endlich! Ich glaubte schon, niemand würde diese Reise je wieder auf sich nehmen! Sehr gut. Das Schwert ist hier. Ihr seht besser selbst, ob ihr es herunterbekommt.«

»Das Schwert ist hier?« Moril war so verblüfft, dass seine Stimme plötzlich gicksend überkippte.

Die Dame fuhr zu ihm herum. »Warum bist du deswegen so überrascht?«

»Na ja«, sagte Moril voll Unbehagen, »ich habe gehört… die Barden sagen… dass die Frau des Adons – Manaliabrid – das Schwert versteckt hat, als sie wieder zu den Unvergäng … – zu ihrem eigenen Volk zurückkehrte.«

»Und so war es auch«, sagte Wends Schwester. »Meine arme Tochter. Sie glaubte, ihr Adon wäre ebenfalls ein Unvergänglicher – und wie ich ihr sagte, hätte er nach allem, was wir wussten, tatsächlich ein Unvergänglicher sein können, doch wenn ein Mann sich zum König macht, dann lenkt er die Meuchler auf sich, und früher oder später hat einer von ihnen Glück. Es gibt viele Möglichkeiten, die Unvergänglichen zu töten, wenngleich sie nicht leicht sterben.«

»Manaliabrid ist deine Tochter?«, fragte Moril.

»Das ist richtig«, sagte die Dame. Sie verschränkte die Arme und blickte amüsiert in Morils ehrfürchtiges Gesicht. »Und der Name, unter dem ihr alle mich kennen werdet, lautet Cennoreth. Habe ich Recht?«

»Dann bist du eine Hexe«, sagte Mitt.

»Du bist die Weberin«, sagte Moril.

Beide sahen sie Wend an. »Meine Schwester ist beides«, sagte er.

»Das will ich doch meinen!«, fauchte Cennoreth.

»Aber du …«, sagte Moril zu Wend.

»Er hieß Tanamoril«, sagte Cennoreth und zwängte sich energisch zwischen den Spindelstapeln hindurch, »er hieß Osfameron, Oril, Wend, Mallard der Magier – wenn jemand lange lebt, dann häufen sich die Namen an. Also, wollt ihr das Schwert nun haben, oder doch nicht? Hier ist es.«

Dem Fenster gegenüber befand sich ein gemauerter Kamin in der Wand, der genauso hübsch gemeißelt wie die Vertäfelungen beschnitzt waren. Über dem Kaminsims hing ein langer, dunkler Gegenstand an der holzvertäfelten Wand. Maewen und Mitt hielten ihn zunächst für einen ausgestopften Fisch, doch nachdem sie sich zwischen den Spindeln hindurch dem Kamin genähert hatten, sahen sie, dass es wirklich ein Schwert war, ein recht einfaches offenbar, das in einer Scheide aus schwärzlichem Leder steckte. Die Waffe war deswegen so schwer in dem halbdunklen Zimmer zu erkennen, weil sie mit unzähligen langen Lederstreifen an die Wand gebunden war. Die Riemen hatte jemand an etwa hundert rostige Nägel festgeknotet, die oberhalb und unterhalb des Schwertes aus dem Holz ragten. Die Streifen waren verknotet, ineinander geschlungen und nochmals verknotet worden, bis das Schwert in einer Art Korb aus Ledergurten hing.

»He, Moril!«, rief Mitt.

Der Bardenjunge stand noch immer an der Tür und starrte Wend voll Staunen und Verwunderung über die Schulter hinweg an. Mitt verstand ihn gut. Nach diesem Mann war Moril gleich zweimal benannt: dem Helden der Hälfte aller Geschichten, die Barden zu erzählen lernten. Zu alledem war er noch Morils Ahnherr. Wend trat befangen auf der Stelle, als ob er – ganz wie ein gewöhnlicher Mensch – nicht recht wüsste, was er sagen sollte. Als Moril sich nun Mitt zuwandte, war Wend offensichtlich erleichtert.

Moril drängte wie ein Schlafwandler grinsend durch die Spindeln, und Wend sagte unbeholfen: »So etwas kommt vor … wenn man lange genug lebt. Mach dir deswegen keine Gedanken – oder wenigstens nicht allzu viele.«

»Sich deswegen keine Gedanken machen!«, rief Moril und sah zum Schwert und dem Riemenkorb hoch. »Das ist ja wohl ein bisschen viel verlangt! Diese Lederbänder sind verknotet und bilden Kreuze. Das muss doch einen Haken haben.«

»Sehr richtig.« Cennoreth stand mit verschränkten Armen am Kamin. »Du bist ein sehr aufmerksamer Junge. Ihr müsst aber wissen, dass ich nichts mit dem Schwert zu tun habe. Meine Tochter hat es dort oben festgenagelt. Vergesst nicht, dass sie verrückt war vor Trauer – obwohl ich annehme, ihr alle seid noch zu jung, um zu wissen, wie das ist. Ihr müsst versuchen, ihr zu vergeben. Sie war auch sehr enttäuscht von ihren Kindern. Sie hat zu viel von ihnen erwartet, aber ich bin nur ihre Mutter, und wie das so ist, konnte ich sagen, was ich wollte, es spielte keine Rolle. Sie hängte also das Schwert für die Kinder ihres Blutes und des Adons dort oben mit Kreuzen und Knoten auf, wie der Rotschopf richtig bemerkte. Von diesen Kindern gibt es heute sehr viele, und ich hatte ihr gesagt, dass es so kommen würde, wenn nur genügend Zeit vergeht, aber auch da wollte sie nicht auf mich hören.«

»Wo ist denn nun der Haken?«, fragte Mitt.

Cennoreth zuckte mit den Achseln. »Die Knoten müssen gelöst werden, ohne dass man das Schwert oder die Scheide berührt, und das Schwert muss gezogen werden, bevor es Holz, Stein oder Erde berührt. Meine Tochter hat auch von ihren Kindeskindern zu viel erwartet, wenn ihr mich fragt, aber meine Ansicht war ihr gleich.«

Alle hoben den Blick zu dem Schwert, das in seinem Fadenspiel aus Leder an der Wand hing. Die Riemen waren vom Alter schwarz, und dicker Staub hing auf ihnen. Maewen konnte genau erkennen, dass jeder einzelne Knoten von Anfang an sehr straff gezogen und im Laufe der Jahre – wie vieler? Zweihundert? – steif geworden war, sodass es fast unmöglich sein musste, ihn zu lösen. Schon der Gedanke an das tiefe Elend, das jemanden zu solch einem Schritt bewegte, war ihr unerträglich. Ob man das Leder anfeuchten und die Knoten auf diese Weise lösen konnte? »Was geschieht, wenn man die Regeln bricht?«, fragte sie.

»Das hat meine Tochter nicht gesagt«, antwortete Cennoreth.

»Aber du kannst davon ausgehen, dass du das Schwert dann nicht bekommst, Herrin«, fügte Wend hinzu, der noch immer auf der anderen Seite des Zimmers stand.

Erneut starrten sie das Schwert an. Es hing hoch außerhalb von Maewens Reichweite. Wenn ich mich auf den Kaminsims knie … das Leder könnte schon so alt sein, dass es mir unter den Fingern zerkrümelt, wenn ich es berühre. Außerdem brauche ich dieses Schwert doch eigentlich gar nicht… auch wenn es eine Schande wäre, nachdem ich nun schon den Ring und den Kelch habe.

Moril überlegte eine Weile. Dann setzte er sich auf den nächsten Stapel Spindeln und begann, die Quidder aus der Hülle zu nehmen.

»Was machst du da?«, fragte ihn Mitt.

»Das Leder ist zu Anfang glatt gewesen«, antwortete Moril. »Die Quidder könnte die Wahrheit sprechen und es wieder glätten.«

Das wäre wirklich möglich!, begriff Mitt. Mit einem trockenen Knacken ordneten sich vor seinen Augen die Teile des Rätsels, und er sah nun, dass Moril und er viel zu überrascht gewesen waren, um die Angelegenheit in Ruhe zu überdenken. Warum denke ich nie genau nach?, fragte er sich ärgerlich. Kankredin sprach zu Noreth und Noreth hatte ihm ihr ganzes Leben lang zugehört. Auch wenn Moril und er mit Kankredin fertig werden sollten – eine kühne Hoffnung, wo doch sogar der Eine selbst nicht dazu in der Lage war –, als Allerletztes sollten sie Noreth helfen, Königin zu werden. Das ganze Land fiele sonst Kankredin in die Hände. Also – Manaliabrids Anweisungen missachten, und zwar schnell.

Mitt war als Einziger groß genug, um das Schwert anfassen zu können. »Nein. Das dauert doch viel zu lange«, sagte er zu Moril.

Morils Finger erlahmten und zupften ungeschickt an den Saiten der Quidder. Mitt erkannte daran, dass auch Moril die Gefahr erkannt hatte. Er wandte sich von dem Bardenjungen ab und zog sein Messer, zwängte sich zwischen Maewen und Cennoreth hindurch, hob den Arm und durchtrennte längs des Schwertes so schnell als möglich so viele Knoten, wie er konnte.

»Pass auf! Fang es, wenn es fällt!«, rief er fröhlich.

Eigentlich hatte er zu spät rufen wollen. Doch zu seinem Verdruss gaben die vom Alter spröden Riemen nicht alle sofort nach. Er war gezwungen, erneut zu schneiden, und dann noch einmal. Selbst dann hatte er erst die spitze Ende der Scheide gelöst. Mitt beobachtete zufrieden, wie sie sich langsam auf den Kaminsims senkte und die anderen Riemen durch ihr Gewicht zerriss.

Maewen rief: »Vorsicht!«, und warf sich, beide Arme ausgestreckt, nach vorn. Sie kam gerade rechtzeitig, um die Spitze zu fangen. Die Quidder dröhnte, als Moril sie hastig abstellte und ebenfalls vorstürzte, um ihr scheinbar zu helfen. Tatsächlich behinderte er Maewen kunstvoll und packte die Schwertscheide. Maewen indes gab nicht nach. Moril gelang es schließlich, unauffällig die lange Kaminbürste mit dem Eisengriff zu lösen, die neben dem Rost hing. Klappernd geriet sie Maewen zwischen die Beine.

Meine Güte!, dachte Mitt. Bei Hadds Unterhosen! Er packte das Schwert beim Heft und riss trotz der Riemen daran. Dadurch musste er es doch ablösen und gleichzeitig dafür sorgen können, dass es dabei die Wand oder den Kamin berührte.

Die fallende Kaminbürste löste eine Lawine aus. Das Kaminbesteck stürzte laut klirrend um: Rührlöffel, Röstgabeln, ein geschlitzter Löffel, Schaufeln, zwei Schürhaken, ein gewaltiger Grillspieß, eine Reihe von Haken für Kessel. Cennoreth schien die Ausstattung eines Schmiedes an ihrem Kamin aufzubewahren. Maewen und Moril stolperten über einen Kaminbock. Eine lange Zange verhakte sich zwischen Mitts Beinen, und er taumelte zur Seite. Damit zerriss er den letzten Riemen. Moril und Maewen stürzten vor Cennoreths Füßen zu Boden, und beide versuchten sich zu retten, indem sie sich an der Schwertscheide festhielten. Mitt hielt ein blankes Schwert in der Hand.

Es war wirklich eine ganz einfache Klinge, wie er sah. »Ich schätze, wir haben hier sämtliche Regeln gebrochen«, sagte er mit gespieltem Bedauern.

»Du hast wenigstens ein halbes Dutzend Knoten berührt«, keuchte Moril voller Hoffnung.

Cennoreth machte ein seltsames Gesicht. Wahrscheinlich verkniff sie sich ein Lachen. »Nein, das hat er nicht«, sagte sie. »Ich habe ihn genau beobachtet. Wer von euch soll das Schwert bekommen?«

»Sie«, sagte Moril.

»Dann gebt es ihr bitte und räumt danach meinen Kamin auf«, sagte Cennoreth. »Ich kümmere mich lieber wieder um meine Webarbeit.«

Maewen erhob sich auf die Knie und streckte die Schwertscheide vor. Mit einer ärgerlichen, schwungvollen Gebärde schob Mitt das Schwert hinein. Auf diese Weise wirkte es zeremoniell. Mitt hegte nicht den geringsten Zweifel, dass Manaliabrid der Ansicht wäre, Noreth habe das Schwert errungen. Er wandte sich voll Abscheu ab, um Moril zu helfen, das Kaminbesteck aufzusammeln und lautstark neben dem Rost zu stapeln. Klirr. Gar nicht so einfach, Kankredins Pläne zu durchkreuzen. Klonk. Bing. Na ja, wie konnte es auch leicht sein? Kankredin war ein Unvergänglicher, also besaß er große Macht. Der Alte Ammet war so stark, dass man nur einen seiner Namen zu sagen brauchte, und schon … Ach du lodernde Unterhose! Mitt hielt mit den Schüreisen vor der Brust inne und blickte zu den baumelnden, abgeschnittenen Lederriemen und ausgerissenen Nägeln hoch. Darum hatte der Erderschütterer ihn an diese Namen erinnert! Und ihm war nicht in den Sinn gekommen, einen davon zu benutzen. Klirr – verdammt! – KLONK! So, fertig.

Niedergeschlagen folgte Mitt Moril und Maewen ans Fenster. Wend stand an den Webstuhl gelehnt und beobachtete Cennoreth, die ihr gerade erst gewobenes Tuch glättete. Maewen sah nun deutlich, wie sehr sie einander ähnelten, obwohl Wend so glatt und jung wirkte. Sie bemerkte jedoch noch eine andere Gemeinsamkeit. Die hingebungsvoll verträumte Art, mit der Cennoreth arbeitete, erinnerte sie an ihre Mutter, wenn sie eine neue Statue modellierte. Sie waren in etwa gleich gebaut, wenn Mutter auch glatteres, dunkleres Haar hatte. Cennoreth schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf, während sie über die Wolle strich, auch das ganz wie Mutter. Ein Kamm rutschte ihr aus dem Haar, und sie schob ihn ungeduldig zurück. »Das ist ja ein hübsches Knäuel«, sagte sie.

Das Tuch war sehr eigenartig – noch eigenartiger als Mutters Skulpturen, die Maewen insgeheim für ziemlich verrückt hielt. Auf den ersten Blick sah es aus, als habe die Hexe wahllos jede Farbe auf ihren vielen Spindeln benutzt und sie so oft gewechselt, dass alles zu einem rötlichbraunen Brei verschwamm. Schaute man aber eine Weile hin, so hoben sich kleine, enge Buchstaben aus dem Gewebe und schienen fast Wörter bilden zu wollen. Glaubte man, ein Wort entdeckt zu haben, sprangen stattdessen Muster ins Auge, große und kleine Muster, die sich in verschiedenen hellen Farben gewunden über das gesamte Tuch zogen. Das Knäuel, das Cennoreth gerade glättete, war von einem Rostorange, das plötzlich in Hellrot überging. Dieser Übergang kam so abrupt und unvermutet, dass auf dem Webeschiffchen noch scharlachrotes Garn zu sehen war. Das Schiffchen hing in einer Reihe anderer Schiffchen, die für die nächste Zeile benutzt werden sollten, von der halbfertigen Kante herab.

»Ihr braucht gar nicht so zu gucken«, sagte Cennoreth. »Mein Großvater hat mich gebeten, mit dem Weben weiterzumachen. Was dabei herauskommt, liegt nicht in meiner Hand. Seht euch das nur an. Ich kann mir gar nicht erklären, was du mit dem Schwert meines Schwiegersohns machst, junge Dame. Du bist nicht, wer du sein solltest. Wie heißt du wirklich?«

Die anderen starrten Maewen an, und der Schreck auf ihren Gesichtern war selbst im schwachen Licht zu sehen, das durch das Fenster einfiel. Moril stand der Mund offen. Wend war weiß im Gesicht. Mitt und er wichen von Maewen zurück, und Mitt runzelte sinnend und erhellt zugleich die Stirn, weil mehrere Rätsel sich lösten, über die er noch gar nicht richtig nachgedacht hatte.

Maewen wich ebenfalls zurück; sie hielt das Schwert umklammert. Wenn sie es nicht gehabt hätte, um sich daran festzuklammern, wäre sie wohl vor Entsetzen in Ohnmacht gefallen. »M-Maewen«, gestand sie. Cennoreth blickte sie an. Unter diesen anklagenden blaugrünen Augen meinte Maewen, sich korrigieren zu müssen. »Äh, Mayelbridwen Bard, um genau zu sein.«

»Hm. Das klingt mir ganz nach einer fremdartigen Fassung des Namens, den meine Tochter trug«, sagte Cennoreth. »Woher kommst du?«

»Aus der Gegenwart – eurer Zukunft, meine ich«, gestand Maewen.

Alle waren bestürzt. »Das kann doch nicht möglich sein!«, rief Wend.

»O doch – es ist zumindest wahr«, sagte Cennoreth. »Dieses rote Knäuel stammt von keiner Spindel in diesem Raum. Ich überlege schon lange, wie ich an den Farbstoff komme, um einen solchen Faden herzustellen, aber ich habe es noch nicht geschafft – ich nehme aber an, dass es mir schon bald gelingen wird. Ich dachte mir gleich, dass etwas seltsam sei, als ich gestern das Schiffchen vorbereitet habe, aber es war neblig, und ich hatte schlechtes Licht. Eben erst konnte ich es richtig sehen.«

Wend wirkte völlig niedergeschmettert. Mit einem Mal sah er älter aus als seine Schwester. »Trenn es auf – trenn es auf!«, flehte er plötzlich. »Bevor es zu spät ist! Schnell, Tanaqui! Trenn es auf!«

»Sei nicht albern«, schalt ihn seine Schwester.

»Aber du hast schon vorher aufgetrennt, was du gewebt hattest!«

»Nicht oft und schon seit Jahrhunderten nicht mehr«, entgegnete sie. »Und damals nur, wenn der Eine mich darum gebeten hat.«

»Aber das letzte Mal habe ich dich darum gebeten!«, schrie Wend. Er wirkte sehr verzweifelt. »Weißt du nicht mehr? Ich habe dich darum gebeten, nachdem der schmierige Verräter den Adon getötet hatte. Und du hast die Fäden aufgetrennt!«

»Entchen, damit habe ich einen Todesfall ungeschehen gemacht«, sagte sie mit großem Ernst. »Du wirst doch nicht von mir verlangen, dass ich einen lebendigen Menschen ungeschehen mache.«

»Warum denn nicht?«, verlangte Wend zu erfahren. »Sie ist eine Schwindlerin. Trenne die Fäden auf. Schick sie zurück! Ich will sie hier nicht haben!«

Maewen packte das Schwert fester und blickte vom einen zum anderen. Wend war also doch verrückt. »Aber du willst mich hier haben!«, wandte sie ein. »Du hast mich hierher geschickt! Du hast mir im Palast gesagt, du möchtest, dass ich Noreths Platz einnehme.«

Wend wandte sich ihr zu, so wütend und groß und voll unheimlicher Macht, dass sie erneut einen Schritt zurückwich. »Ich will dich hier nicht haben! Warum sollte ich dich hierher schicken?«

»Weil«, sagte Maewen stockend, »weil die echte Noreth verschwunden ist und du weißt, dass ich aussehe wie …«

»Verschwunden!«, rief Wend. In seinem Blick lag kein Wahnsinn, begriff Maewen, sondern so viel Trauer und Schrecken und Wut, dass seine Augen glänzten, als sehe er sie gar nicht richtig.

»Ich dachte, du wüsstest das schon«, sagte sie. »Wegen dem, was du mir gesagt hast, du weißt schon, beim Wegstein … bei Adenmund …«

»Wie bitte?«, rief Wend. »So lange schon?« Er fuhr zu seiner Schwester herum. »Wo ist Noreth von Kredinstal?«

Cennoreth fuhr mit den Fingern am rostfarbenen Muster entlang und über den scharlachroten Wollknoten, bis der Faden im Schiffchen verschwand. »Das steht hier nicht. Das ist noch nicht gewoben.« Wend schrie wütend auf. »Verstehst du nicht, Entchen?«, fragte Cennoreth. »Ich weiß es auch nicht.«

Maewen hätte schwören können, dass Wend weinte, als er zu den Jungen herumfuhr und sie anfunkelte. »Und wisst ihr es?« Mitt und Moril schüttelten den Kopf. »Woher auch!«, rief Wend verächtlich. »Ihr denkt nur an euch selbst. Begreift ihr denn nicht? All meine Hoffnung ruht auf Noreth. Es hätte wieder eine Königin geben können.«

»Nein, hätte es nicht«, sagte Maewen unklug. »Es wird einen Kön…«

Wend fuhr herum und brüllte sie an: »Was weißt denn du davon? Du bist nicht Noreth! Du bist niemand! Du bist nicht die, für die ich all die Jahre die Grünen Straßen gepflegt habe! Du kannst vergehen, und die Grünen Straßen mit dir! Keinen Schritt gehe ich noch mit irgendeinem von euch!«

Er kehrte ihnen den Rücken zu und stürmte aus dem Zimmer; mit langen Schritten stakste er von einer Lücke zwischen den Spindeln zur anderen. Mit einem Knall fiel die Tür zur Küche hinter ihm ins Schloss.

Zutiefst erschüttert blickte Maewen Mitt und Moril an. Sie fürchtete, sie wären genauso zornig auf sie wie Wend. Was sie jedoch in ihren Gesichtern las, war einfache, innigste Erleichterung. Mitt warf ihr sogar ein unsicheres Grinsen zu, während er Cennoreth fragte: »Hat dein Bruder das öfter?«

Cennoreth blickte stirnrunzelnd aus dem Fenster auf die Felsen und die Apfelbäume, während sie sich geschäftig und geistesabwesend zugleich mit ihrer Webearbeit befasste und einen Faden dunkelgrünen Garn neben dem baumelnden scharlachroten Schiffchen abband. Fast wie Mutter, wenn sie sich über etwas ärgert, dachte Maewen. Auf Mitts Frage hin zuckte Cennoreth zusammen und blickte auf das, was ihre flinken Finger gerade taten. »Ach je«, sagte sie. »Ihr müsst Nachsicht mit meinem Bruder haben. Manchmal hat er einfach das Gefühl, dass jede einzelne sterbliche Seele ihn im Stich lässt. Er kann sich so benehmen, wenn er wirklich mit dem Herzen bei einer Sache ist. Ich nehme an, er sucht jetzt nach dem richtigen Mädchen.« Sie seufzte. »Ich glaube, ihr geht lieber und holt euch die Lebensmittel, die ich euch versprochen habe; sie liegen auf dem Küchentisch. Eure Freunde warten schon auf euch.«

Sie wandte sich wieder dem Webstuhl zu. Mitt und Moril nickten sich zu, und die drei schlängelten sich zwischen den Spindeln hindurch zur Küchentür. In der Küche war nichts von Wend zu sehen, doch auf dem Tisch standen ein irdener Krug mit Milch, dazu Butter, eine Schale Eier und ein runder Ziegenkäse. Maewen fragte sich, ob Wend das Essen dorthin gestellt hatte, und hob den Kopf. Mitt und Moril sahen sie über den Tisch hinweg vielsagend an. Jetzt geht’s los!, dachte sie.

»Wer bist du wirklich? Du hast gesagt, du bist eine Bardin«, fragte Moril.

»Bard – das ist mein Nachname«, erklärte Maewen. »Mein Vater sagt, wir hätten Bardenblut in den Adern. Glaubt es oder nicht, aber er hat mir an dem Abend, bevor ich fort bin, unseren Familienstammbaum gezeigt, aber der Teil, der in diese Zeit reicht, ist ziemlich verworren, deshalb weiß ich nicht, ob ich mit dir verwandt bin.« Es tat so gut, wieder sie selbst sein zu können, dass sie noch eine Viertelstunde hätte weiterplappern können. »Ich heiße zwar Bard, dabei kann ich nicht mal singen …«

»Wie fern in der Zukunft lebst du?«, fragte Moril.

»Oh. Äh, zweihundert Jahre, glaube ich.«

Moril und Mitt blickten sich an. »So lange!«, sagte Mitt. »Dann musst du doch wissen, was hier passieren wird, richtig?«

»Nein, eigentlich nicht«, gestand Maewen. Sie war ein wenig enttäuscht, dass die beiden sich anscheinend nur für die unmittelbare Zukunft interessierten. Sie hatte sie mit Flugzeugen, mit Computern und Fernsehgeräten beeindrucken wollen. »Die Geschichte weiß gar nichts von den Unvergänglichen oder den Grünen Straßen«, erklärte sie. »Es geht dabei hauptsächlich um Könige und Politik. In der gesamten Geschichte, die ich gelernt habe, kommt keine Noreth vor, aber ich will euch sagen, wer: Amil der Große. Ich bin mir fast sicher, dass er bald auftaucht.«

»Wer?«, fragte Mitt.

»Amil«, sagte Moril in anklagendem Ton. »Das ist kein Name für einen König. Das ist einer der geheimen Namen des Einen.«

»Was ist mit ihm?«, fragte Mitt. »Erzähl.«

Maewen sammelte ihre Gedanken. »Nun, es gab einen großen Aufstand, und Amil der Große gewann die Krone und einte ganz Dalemark. Er hat sehr lange geherrscht und Karnsburg wieder aufgebaut und das ganze Land verändert.«

»Aha«, sagte Moril. Das klang gut. Wenn er und Navis daran nur teilnahmen, konnten Keril und die Gräfin ihnen gestohlen bleiben. »Wann geht dieser Aufstand los?«

»Ich habe das Datum vergessen«, gab Maewen zu – so etwas Dummes, wenn man bedachte, wie oft sie es im Palast gehört hatte –, »aber es kann nicht mehr als ein Jahr in der Zukunft liegen. Ich habe mir die ganze Zeit gesagt, dass ich nur so lange durchhalten muss, bis Amil kommt.«

»Wo taucht er denn zuerst auf?«, fragte Mitt. Er wollte wissen, wohin er sich begeben musste.

Maewen zerbrach sich erneut den Kopf und wurde allmählich ärgerlich, dass sie offenbar einzig und allein dazu aus ihrer Lügengeschichte befreit worden war, um sich in Geschichte prüfen zu lassen. Das hätte sie Mitt auch entgegnet, wenn sie nicht der Meinung gewesen wäre, ihnen etwas schuldig zu sein. Das Dumme war nur, dass sie sich nur sehr verschwommen erinnerte. »Ich glaube, im Süden ging es los, irgendwo an der Küste … nein, denn ich meine mich zu entsinnen, dass auch die Nordtäler und Wassersturz daran beteiligt waren. Und Karnsburg, glaube ich. Ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass einiges davon in der Nähe von Karnsburg begonnen hat.«

»Karnsburg.« Mitt und Moril tauschten wieder einen Blick. Maewen sah ihnen an, dass sie angestrengt nachdachten. »Kialan bringt Ynen mit nach Karnsburg, wo wir uns treffen wollen«, sagte Mitt zu Moril. »Wenn er kann.«

»Kialan«, sagte Moril, »würde einen guten König abgeben.«

»Mein Geld setze ich auf Ynen«, entgegnete Mitt. »Ich gebe zu, dass Kialan sich sehr königlich gibt, aber Ynen bringt den richtigen Charakter mit.« Beide Jungen blickten Maewen an. »Ich schätze«, sagte Mitt, »unsere Aufgabe besteht darin, dorthin zu reiten und einem von ihnen dieses Schwert und den Ring und den Kelch zu übergeben.«

»Ja«, stimmte Moril ihm zu. »Ich glaube, wir können unsere Reise nicht abbrechen. Der Eine selbst hat ein Interesse daran. Das merkt man schon am Namen des Königs.« Stirnrunzelnd sah er den kleinen weißen Ziegenkäse auf dem Tisch an. »Aber eins begreife ich nicht. Was ist aus Noreth geworden?«

Vor dieser Frage hatte Maewen sich gefürchtet. Beide Jungen beäugten sie und suchten die Züge heraus, die nicht mit ihrer Erinnerung an Noreth übereinstimmten – oder vielleicht fragten sie sich auch, ob sie eine Mörderin sei. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ehrlich nicht. Sie war fort, als ich an den Wegstein kam. Ich habe ihr Pferd gefunden – ich nehme jedenfalls an, dass es ihr Pferd ist –, es ist um den Wegstein herumgestrichen. Ich dachte, vielleicht hat einer der Grafen sie entführt.«

Erneut tauschten Moril und Mitt einen Blick. »Das könnte sein«, sagte Moril. »Ungefähr der einzige Graf im Norden, der sie nicht aufhalten würde, ist Graf Luthan.«

Mitt sagte: »Dann suchen wir nach ihr… später.«

Schweigen trat ein, in dem das leise Singen des Kessels über dem Torffeuer und das Klappern des Webstuhls hinter der Tür hörbar wurden. Nun, da sie Zeit zum Nachdenken hatte, überkam Maewen eine Erinnerung. »Mir fällt etwas ein! Als Wend mich im Palast dazu verleitete, hierher zu kommen, hat er mir gesagt, dass Noreth irgendwie Kankredin in die Hand gefallen sei.«

Beide stürzten sich sofort darauf. »Die Stimme«, rief Moril.

»Jetzt erzählen wir dir einmal etwas«, sagte Mitt. »Diese Stimme, die zu dir spricht. Du glaubst, sie gehört dem Einen, richtig?«

»Aber das ist nicht wahr«, sagte Moril. »Es ist Kankredins Stimme.«

»Woher wollt ihr das wissen?«, fragte Maewen schuldbewusst.

»Vor allem merkt man das an dem, was sie dir sagt«, erklärte Mitt.

»Aber ich bin die Einzige, die sie hören kann!«, wandte Maewen ein.

»Wir haben sie beide gehört«, eröffnete ihr Moril. »Und wir wissen, dass es Kankredins Stimme ist.«

Er und Mitt blickten einander wieder an. »Wenn er Noreth beseitigt hat«, sagte Mitt nachdenklich, »hat er dich hierher gebracht, weil er glaubt, dass du tun wirst, was er will. Willst du das?«

»Nein!«, rief Maewen inbrünstig. »Wenn ihr gehört habt … nein!«

»Dann sollten wir außerhalb dieses Daches nicht mehr darüber reden«, sagte Moril.

Maewen blickte von der Schale auf, in der große blaue Enteneier zwischen braunen Hühnereiern lagen und die sie die meiste Zeit angestarrt hatte, und sah sich in der Küche um. Niedrige Balken, an denen Zwiebelschnüre hingen und kupferne Pfannen, Stühle mit gestrickten Kissen und eine Wand mit einem Regal voller Glaskrüge mit farbigen Mixturen, die vielleicht Farbstoffe waren: Alles gehörte Cennoreth. Darum leuchtete es ein, dass Kankredin sie hier nicht hören konnte, auch wenn er sonst überall zu sein schien. Ihr schauderte. Diese Stimme. Sie war sich nun ganz sicher, dass sie Kankredin gehörte. Mit dieser Stimme hatte ihr der alte Mann im Zug solche Angst gemacht – diese Stimme, die von keiner Person zu kommen schien. Sie hatte es nicht begriffen, weil sie kein Gesicht gesehen hatte, mit der sie sie in Verbindung bringen konnte.

»Nein«, sagte sie. »Kein Wort kommt mir über die Lippen. Ihr wisst, dass ich… Insgeheim habe ich Angst gehabt, dass ich verrückt werde!«

»Du doch nicht!«, sagte Mitt. »Wir lassen ihn also in dem Glauben, wir wüssten nicht, dass er es ist. Richtig?«

»Richtig«, bekräftigte Maewen.

Plötzlich fühlten sie sich ganz übermütig vor Erleichterung. Maewen kam es vor, als hätte ihr lange ein Splitter unter dem Fingernagel geschwärt, bis schließlich jemand kam und ihn ihr herauszog. Lachend nahm Mitt die Schale mit den Eiern und den Käse an sich. »Noch eins«, sagte er. »Ich wette, du hattest die Idee bei den Bergleuten aus den Geschichtsbüchern, oder? Als du ihnen sagtest, sie sollten streichen.«

»Streiken«, sagte Moril und lachte, während er den Milchkrug nahm.

Damit blieb für Maewen der Laib Brot übrig, und sie schoss aus der Tür und rief: »Streck! Streich! Streik!« Sie eilte durch die Bäume und schwenkte dabei das Schwert in der einen und den Laib Brot in der anderen Hand. »Wir haben das Schwert!«, rief sie.

Mitt und Moril mussten ihr langsamer und behutsamer folgen, sonst hätten sie die Milch verschüttet oder Eier zerbrochen. Moril war wieder sehr ernst. »Was denkst du gerade?«, fragte Mitt.

»Sie hat niemals von Noreth gehört«, sagte Moril. »Was also geschieht mit Noreth? Sie hat keinen Platz in der Geschichte.«