11.

Moril hob die Quidder vorsichtig auf, damit sie nicht durch seine Kleidung feucht wurde. »Kannst du lesen, was vorne auf ihr steht?«

Mitt sah längs der Saiten Schnörkel und Punkte aus Perlmutt in das Holz eingelegt. Er erkannte es als Alte Schrift, doch das war auch alles. »Kann ich nicht«, sagte er. »Ich brauche schon sehr lange, um die übliche Schrift zu entziffern.«

»Ich kann auch nicht lesen«, gestand Moril. »Aber mir wurde gesagt, dass ein Teil davon lautet: ›Ich singe für Osfameron‹ – und das ist außer Tanamoril mein zweiter Vorname –, und ein anderer: ›Ich schreite in mehr als einer Welt‹.«

»Was soll das heißen?«, fragte Mitt. »Meinst du, wir sind in einer anderen Welt?«

»Ich … weiß es nicht«, gab Moril zu. »Mit der Quidder muss man immer die Wahrheit sprechen. Sie arbeitet mit dem, was du denkst, wenn du sie spielst.«

»Dann sollten wir uns klar machen, was wir beide denken«, schlug Mitt vor. Er blickte auf das Wasser, das kochend den Felsblock umspülte. »Du hast gedacht, dass du am liebsten zusehen würdest, wie dieser Südländer im tiefen Wasser absäuft. Stimmt’s?«

Moril zog voll Unbehagen den nassen Kopf ein. »Nicht ganz. Wenigstens hatte ich wohl mehr die See im Sinn. Ich dachte: Soll dieser Südländer doch dahin verschwinden, wo er herkommt, und ich wusste, dass du übers Meer gekommen bist…«

»Woher?«, verlangte Mitt zu wissen.

»Letztes Frühjahr habe ich in Lavreth von dir gehört«, antwortete Moril. »Im ganzen Norden hatte es sich herumgesprochen, dass ein Südländer auf der Straße des Windes gekommen sei, vor und hinter sich die Unvergänglichen, die ihn beschützten. Die Barden nennen das Meer in vielen alten Liedern die Straße des Windes.«

»Das habe ich gar nicht gewusst!«, rief Mitt. »Und in gewisser Weise ist es sogar wahr!«

»In Adenmund erzählte man mir, dass du es wärst«, fuhr Moril fort, »und ich konnte dich nicht leiden, weil ich dir ansah, dass du etwas Übles im Schilde geführt hast.«

Mitt erschauerte. Er empfand immer größere Ehrfurcht vor Morils scharfen Sinnen, ganz zu schweigen von der Quidder. Moril wäre ein gefährlicher Gegner gewesen, wenn sie sich nicht zufällig zusammen in diesen Schlamassel gebracht hätten. »Das sah wohl ein Blinder, was?«, fragte er kläglich. »Man sollte glauben, dass ich mich besser verstellen kann, schließlich habe ich mein Leben lang Geheimnisse und ein schlechtes Gewissen gehabt. Also gut. Du wolltest mich also zurück aufs Meer schicken.«

»Und du hast die Saiten ebenfalls berührt, und deshalb sind wir beide auf diesem Fluss. Was hast du dir dabei gedacht?«, fragte Moril.

Mitt stand auf und blickte finster auf die Schaumstreifen, die vom nächsten gezackten Felsblock in die Strömung hingen. Er glaubte mit Bestimmtheit, dass er längst nicht so zornig auf Moril gewesen wäre, wenn er sich nicht selbst so gefangen gefühlt hätte. Schließlich hatte Moril mit seiner Frage: »Hat dir etwa niemand befohlen, vor ihr auf dem Bauch zu rutschen?« das Fass zum Überlaufen gebracht. Diese Frage hatte Mitt zwei Bilder vor Augen geführt. Das eine zeigte die Gräfin, wie sie aufrecht auf ihrem Stuhl saß und Mitt klar machte, er habe zu tun, was Keril verlange. Das andere zeigte Alk, wie er massig genau diesen Stuhl auffüllte und die ganze Angelegenheit mit seinem Versprechen auf den Kopf stellte, Mitt aber das gleiche Gefühl des Gefangenseins vermittelte, weil der Eine an der Sache ein Interesse haben musste.

»Auf seltsame Weise«, sagte er, »habe ich vielleicht über den Einen nachgedacht. Auf jeden Fall war ich gerade dabei, als meine Hand die Saiten traf.«

Moril hob den Kopf. Seine Augen hatte er bestürzt zusammengekniffen. »Wirklich? Dann sind wir zurück in den Strom des Einen versetzt worden, in die Zeit, bevor er Kankredin vernichtete. Ich hoffe, er ist nicht allzu wütend auf uns.«

»Du meinst, wir sind in die Vergangenheit gereist?«, wollte Mitt wissen. »Oder sind wir tot?«

»Mehr … an der Stelle in den Geschichten, wo auch der Eine wirklich ist, glaube ich«, entgegnete Moril unsicher. »Es ist schwer zu erklären, aber die andere Welt, in der die Quidder wandelt, ist der Ort, wo die Geschichten sind.«

Mitt blickte wieder in die Strömung, die an ihrem Felsblock vorbeirauschte, und dachte, dass er nur selten etwas Realeres gesehen hatte. Ebenso real waren seine dampfenden, klammen Sachen. Ihm kam der Gedanke, der Eine ergreife die Gelegenheit, um deutlich zu machen, auch er sei real. Kein Wunder, dass Alk so vorsichtig gewesen war. »Kommen wir denn zurück, wenn wir uns entschuldigen und den Einen bitten, uns gehen zu lassen?«, fragte er.

Moril nickte. Er sah so nüchtern aus, wie Moril sich fühlte. »Ich werde fragen, wenn es dir recht ist, denn ich weiß, wie es geht. Halt dich bereit, noch einmal auf die gleiche Stelle zu schlagen wie vorhin, wenn ich nicke.«

»Ich weiß doch nicht mehr, wohin ich getroffen habe!«, rief Mitt. »Und wenn ich’s falsch mache, dann geht es schief, oder?«

»Du hast die tiefste Saite getroffen«, erklärte Moril. »Die hier – sie ist immer die Gefährliche –, und ich hatte sie nicht berührt, weil ich dich nicht umbringen wollte oder so etwas, aber ich habe sie gehört. Zupf einfach mit einem Finger daran, wenn ich dir ein Zeichen gebe.«

Mitt streckte zögernd einen Finger aus und kniete sich hin. Moril schien sich zu sammeln – nein, das war es nicht allein. Mitt spürte, wie die Macht sich in der Quidder aufbaute. Sie summte unter seinem zitternden Fingern. Nun empfand er noch größere Ehrfurcht vor dem Instrument.

Moril holte tief Luft und begann in der eigenartig steifen Art zu sprechen, die auch Hestefan benutzt hatte, als er am Mittsommer die Unvergänglichen anrief. »O großer Groß-Vater der goldenen Bande, o Ungebundener und Unvergänglicher, höre mein Flehen. Höre mich und helfe. Die Flut des Gestern ergriff uns und riss uns von unserem Weg. Sende uns zurück in unser Reich aus dem Fluss, den du geschaffen. Mitt und Moril bitten dich unterwürfig im Namen Manaliabrids und Cennoreths. Clennens Sohn fleht dich an, lass ab von deinem Zorn.« Er nickte Mitt zu: Jetzt.

Beherzt zupfte Mitt die dickste Saite. Er glaubte zu verstehen, wie man solche Wünsche auszudrücken hatte, und konnte nicht widerstehen, hinzuzufügen: »Beim Adon und bei Alhammitt und seiner ach so fruchtbaren Dame«, während er zupfte.

Morils Finger erzeugten den Rest des Klanges, eines vielstimmigen Gebrülls.

Das Tosen des Flusses schwoll anscheinend noch weiter an, bis es fast unerträglich laut wurde und nicht nur ihre Ohren, sondern auch ihre Augen betäubte. Ihnen kam es vor, als donnere der Fluss nun als Wasserfall einen Steilhang hinab, wo das Brüllen allmählich zu einem lang gezogenen, tiefen Ton verebbte und schließlich zu einem rollenden Dröhnen wurde. Je mehr der Donner nachließ, desto mehr schien er auch den Fluss mit sich zu nehmen. Das Wasser wurde neblig und ruhig. Der goldstichige weiße Nebel breitete sich über das ganze Flussbett aus, und für einen Augenblick sahen sie nur noch das durchscheinende Gespenst eines Flusses, der still über grünen Boden dahinströmte. Kaum hatte Mitt begriffen, dass dieses Grün tatsächlich Gras war, war der Fluss bis auf einen sehr schwachen Nachklang des Tones verschwunden, der immer noch zu hören war und ihn wie eine Strömung mit sich nehmen wollte. Bis er begriffen hatte, dass diese Strömung vielmehr den ganzen Fluss mit sich nahm, einschließlich des Wassers, das in seinen Schuhen stand und seine Kleidung durchtränkte, war er trocken. Moril ebenfalls. Morils Haar verfärbte sich von einem schmutzigen Braun zu echtem Rot. Und obwohl sie beide trocken waren, obwohl ein schwaches Sonnenlicht auf sie fiel, war die Luft mit einem Mal so viel kälter, dass sie beide noch immer zitterten.

Maewen sah nur, dass der Fluss genauso schnell verschwand wie er gekommen war, und Mitt und Moril auf einem Felsen auf der anderen Seite der Grünen Straße zurückließ. Sie war sich unschlüssig, ob sie jubeln oder zu den beiden hinüberlaufen und sie knuffen sollte. Es war so nervtötend gewesen, den beiden zuzusehen. Sie schienen nichts weiter zu tun, als auf dem Felsen im Fluss zu hocken und eine ganze Stunde lang zu reden. Maewen hatte immer wieder zu ihnen hinübergerufen, und Navis ebenfalls, nachdem es ihm gelungen war, Mitts Pferd einzufangen, doch die beiden hatten sie überhaupt nicht beachtet. Über Hestefan und Wend war Maewen beinahe genauso sehr verärgert wie über die Jungen: Sie hatten nur den Kopf geschüttelt und gesagt: »Wo sie sind, können sie uns nicht hören.«

Moril und Mitt kletterten vom Felsen und überquerten die Straße. Beide blickten sie befangen drein.

»Was, ihr kommt schon jetzt?«, fragte Navis. »Wir hatten gehofft, wir dürften die ganze Nacht auf euch warten.«

Mitt versuchte, es ihm zu erklären, doch selbst in seinen eigenen Ohren klangen seine Worte lahm und dumm. Er war froh, als Hestefan alle davon ablenkte. Er packte Moril nämlich bei der Schulter und stauchte ihn zusammen. Mit leiser, durchdringender Stimme begann er: »Es war weder die rechte Zeit noch der rechte Ort für solche Streiche. Wir haben eine weite Reise vor uns, müssen auf unsere Begleiter Rücksicht nehmen und in Auental eine Vorstellung geben.« Während er fortfuhr, schwoll seine Stimme allmählich an. »Du hättest deine Quidder verderben oder – noch schlimmer – sie verlieren können. Fast wären uns deinetwegen die Pferde durchgegangen. Fast wären wir deinetwegen ertrunken!«

Alles hörte voll Unbehagen zu. Moril starrte Hestefan an, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nicht solche Worte gehört, und dadurch wurde offensichtlich, dass hier nicht der Meister seinem Lehrling eine Standpauke hielt, sondern dass mehr dahinter steckte. Maewen sah deutlich, wie sehr der unversehens aufgetauchte Fluss Hestefan verängstigt hatte, und er ließ diese Furcht offenbar an Moril aus. Der Barde wurde noch lauter.

»Nun gib mir auf der Stelle deine Quidder, und ich verschließe sie im Kasten, bis du alt genug bist, dass man sie dir anvertrauen kann.«

Moril umfasste die Quidder mit beiden Händen und trat einen Schritt zurück. »Nein! Du hast kein Recht…«

»Ich habe jedes Recht!« Hestefan erhob die Stimme, wie nur ein Barde es vermochte. Sie hallte von den Felsen wider. »Mein Lehrbube spielt mit etwas herum, das für jemanden in seinem Alter viel zu viel Macht hat. Du weißt ja überhaupt nicht, was diese Quidder ist!«

»O doch, das weiß ich sehr wohl«, entgegnete Moril verbissen und blass. »Und sie hat meinem Vater gehört, nicht dir. Du hast kein Recht, sie mir wegzunehmen.«

Mitt fand, dass er sich einmischen sollte. »Nun sieh doch, er hat niemandem damit geschadet.«

Hestefan beachtete Mitt nicht. »Gib mir auf der Stelle die Quidder«, sagte er und streckte streng die Hand danach aus.

»Es ist überhaupt nicht nötig …«, begann Mitt.

Doch nun mischte sich auch Navis ein. Er stellte sich neben Moril und fragte in seinem sarkastischsten Ton: »Sollte es möglich sein, dass der Meister den Schüler beneidet? Doch gewiss nicht?«

Hestefan baute sich vor Navis auf und funkelte ihn zornig an.

Wend blickte drängend auf Maewen. »Herrin!«

Maewen hatte ein Gefühl wie in der Schule, wenn ein Lehrer einen Schüler vor der ganzen Klasse zurechtstutzte. Hestefan war Dr. Loviath so ähnlich, dass sie den Gedanken einfach nicht beiseite schieben konnte. Und natürlich, wenn ein Lehrer sich entscheidet, jemanden zur Schnecke zu machen, träumt niemand in der Klasse auch nur davon, sich einzumischen. Wends Blick machte ihr jedoch klar, dass sie sich in einer gänzlich anderen Situation befanden. Sie bemühte sich um einen klaren Kopf.

»Lass das«, forderte sie Navis auf. »Äh – Hestefan, ich bin mir nicht sicher, ob das so geht. Moril hat mir heute Morgen erzählt, dass deine Tochter Fenna und nicht er bei dir in die Lehre geht. Er sagte, er folge dir aus freien Stücken. Ist er dadurch nicht eher dein… äh, Kollege als dein Lehrling?«

»Nun, das stimmt«, räumte Hestefan ungehalten ein. »Doch angesichts seines Alters und seines Verhaltens würde das Gewohnheitsrecht diese Unterscheidung wohl kaum treffen.«

Durch den ungehaltenen Gesichtsausdruck sah er Dr. Loviath so ähnlich, dass Maewen gegen sich selbst ankämpfen musste, um ihm nicht demütig zuzustimmen. Wie es so oft geschieht, schoss sie darum über das Ziel hinaus. »Aber ich bin die Anführerin«, sagte sie, »und ich sage, dass er eigentlich nicht dein Lehrling ist. Deshalb entscheide ich, dass du ihm die Quidder nicht einmal dann wegnehmen könntest, wenn er damit etwas wirklich … äh, Verrücktes angestellt hätte.«

»Außerdem war es auch meine Schuld«, warf Mitt ein, aber sehr barsch und unfreundlich. Nach dem, was Moril gesagt hatte, fiel es ihm sehr schwer, Noreth auch nur anzusehen.

Hestefan hob den Kopf und zeigte mit dem Kinn auf Maewen.

Schlechte Note und nachsitzen!, dachte sie. Und Mitt guckt mich auch so düster an. Sobald man Anführerin ist, kann einen niemand mehr leiden. Und wenn ich fertig bin, habe ich es mir auch mit Moril verdorben. »Aber du hast doch versucht, Mitt durch deine Quidder zu verletzen, nicht wahr, Moril?«

Jeder andere Junge hätte eingewendet, dass Mitt schließlich größer sei als er. Moril beeindruckte Maewen, indem er ihre Frage schlicht bejahte.

Sie fühlte sich wie ein Miststück, aber sie hatte einmal angefangen und fand, dass sie das Begonnene nun auch zu Ende führen musste. »Dann wird jemand anders auf sie aufpassen müssen, bis wir in Auental sind. Moril, würdest du deine Quidder bitte Wend geben?«

Schwer zu sagen, wer überraschter war – Moril, Wend oder Hestefan. Der Barde wandte sich ab und stieg, sich noch immer am Bart zupfend, in den Wagen. Moril packte zuerst die Quidder fester, doch dann reichte er Wend das wunderschön schimmernde Instrument mit einem Blick auf Mitt, der etwas zu bedeuten haben musste. Wend nahm es so ehrerbietig entgegen, dass es förmlich in seine Hände zu gleiten schien. Er hängte sich den abgewetzten Ledergurt über die Schulter und blickte auf die Quidder, als sei sie ein Lämmlein, das er gerade eben aus dem Schnee gerettet hatte. Mit der linken Hand deutete er einen Akkord auf den Saiten an, als könne er nicht anders. »Darf ich?«, bat er Moril.

»Wenn du kannst«, antwortete er. »Ich hole dir die Hülle.«

Mit der rechten Hand spielte Wend über die Saiten, als streichle er dem Lämmlein den Kopf. Obwohl er nur eine Abfolge von Akkorden und Arpeggios spielte, schien er dabei ein ganz anderer Mensch zu werden. Sein Gesicht belebte sich, nahm ein leises, verzücktes Lächeln an, voller Gedanken und Energien, die vorher nicht dort gewesen waren. Seine Haltung veränderte sich, wie um sich der Quidder anzupassen, zur Positur eines stärkeren Mannes. Zum ersten Mal, seit Maewen ihn kannte, wirkte er glücklich. Eigenartig war daran nur, dass er dadurch zehnmal so gefährlich wirkte.

Warum kann er so nicht immer sein?, fragte sich Maewen, während sie sich abwandte, um wieder auf ihr Pferd zu steigen. Statt vorzugeben, er wäre gar kein Unvergänglicher unter Sterblichen? Sie versuchte Mitt in die Augen zu schauen, um zu sehen, was er dachte, doch weil Mitt zerknirscht war vor Scham über das Wort eifersüchtig, wich er rasch ihrem Blick aus. Vom Kutschbock herab starrte Hestefan sie kalt an.

Zwei schlechte Noten und eine ganze Woche nachsitzen!, dachte Maewen. Vermutlich hat Navis Recht, überlegte sie. Hestefan hatte es auf Morils Quidder abgesehen. Während sie weiterritten, wunderte sich Maewen, weshalb Hestefan sich Noreth überhaupt angeschlossen hatte, wenn er solch eine Abneigung gegen sie hegte.

Die Quidder abzugeben übte auf Moril eine erstaunliche Wirkung aus. Während Wend wie ein neuer Mensch einherschritt, kraftvoll und selbstsicher, benahm sich Moril wie ein Junge, der schulfrei bekommen hatte. Er tollte neben Mitts Pferd her und warf ihm freche Bemerkungen an den Kopf. Mitt zahlte in gleicher Münze zurück, und beide lachten sich halb tot. Nach einer Weile begannen sie, sich mit dem Reiten abzuwechseln, und kicherten jedes Mal noch viel alberner, wenn das Pferd namens Gräfin versuchte, Moril abzuwerfen.

Maewen ritt voraus. Sie fühlte sich einsam und unbeliebt, wenn sie die beiden im Nebel hinter sich lachen hörte. Ich denke, es bedeutet schon eine große Verantwortung, etwas wie diese Quidder zu besitzen. Trotzdem wurde sie das dumme, aus einer Überempfindlichkeit heraus geborene Gefühl nicht los, dass Mitt und Moril sich allein deswegen so ausgelassen gaben, um sie zu ärgern. Mir wurde gesagt, ich soll hierher kommen und die Anführerin sein, erinnerte sie sich. Kein Grund für Wahnvorstellungen.

Als habe das Wort sie ausgelöst, sprach die tiefe Stimme zu ihr; im zunehmenden Nebel schien sie direkt an ihrem Ohr zu erklingen. »Du hast gut daran getan, die Quidder nicht dem Barden in die Hände fallen zu lassen«, sagte sie.

Maewens Hände an den Zügeln zitterten. Sie hatte gewusst, die Stimme würde sie früher oder später allein erwischen. Gehörte sie wirklich dem Einen? Irgendwie zweifelte sie daran, vielleicht, weil sie ihr stets sagte, was sie gern hören wollte. Nachdem sie unversehens vor dem gewaltigen Strom gestanden hatte, ließ sie das Gefühl nicht los, der Eine würde ihr eher etwas Unerwartetes sagen, von dem sie niemals hätte etwas erfahren wollen. Nein. Ihr eigener Verstand spielte ihr auf der Grünen Straße einen gespenstischen Streich.

»Du wirst die Quidder brauchen, und der Bardenjunge wird sie spielen müssen«, fuhr die Stimme fort, »wenn es an die Suche nach der Krone geht.«

Maewen hatte der Stimme eigentlich nicht antworten wollen, doch nun ertappte sie sich dabei, wie sie fragte: »Und was ist mit dem Kelch und dem Schwert?«

»Der Südländer kann beides für dich stehlen.«

»Ach ja? Das kann er? Einfach so?«, erwiderte Maewen.

»So sage ich es dir«, entgegnete die Stimme. »Du musst meinen Rat befolgen, sonst findest du die Krone niemals. Und ich sage dir auch, dass du dir den Bardenjungen nicht entfremden darfst.«

»Na schön.« Maewen zügelte ihr Pferd, damit Navis und Wend sie einholten. »Na schön. Jetzt lass mich wieder allein, ja?«

Schon hörte sie Navis hinter sich; er fragte Wend, wie weit es noch bis Auental sei, und Wend antwortete, einen Tag würden sie schon noch brauchen. Maewen schloss sich Navis auf der anderen Seite an, und wie sie gehofft hatte, sprach die Stimme sie nicht mehr an.

Der Nebel wurde dichter. Bei Einbruch der Nacht war er trübblau geworden, und sie hielten auf einer weiteren welligen Wiese, wo vielleicht einmal ein Dorf gewesen war. Sie fanden eine sorgfältig angelegte Feuergrube, in der Moril ein fröhliches Kohlefeuer entfachte. Maewen erinnerte Mitt an seine Idee, die eingelegten Kirschen über dem Feuer zu grillen.

Mitt gelang es einfach nicht, sich natürlich zu geben. Barsch borgte er sich Spieße aus dem Wagen und kehrte allen den Rücken zu, während er sie mit Kirschen, Käse und Pökelfleisch beschickte. Es war schrecklich. Er versuchte, höflich zu sein, und stimmte Noreth darum geradezu schmeichlerisch zu, dass ein Linseneintopf genau das Richtige wäre. Als er versuchte, sein Verhalten auszugleichen, wurde er wieder schroff. Er schien einfach nicht mehr den richtigen Ton treffen zu können. Im Feuerschein las er von Noreths sommersprossigem Gesicht deutlich ab, wie verwirrt und verletzt sie war. Er konnte ihr sehr gut nachempfinden, dass sie sich nun wunderte, womit sie ihn beleidigt hatte, und selbstverständlich kam es überhaupt nicht in Betracht, dass er es ihr erklärte.

Egal. In Auental sehe ich Hildi wieder, dachte er. Aus irgendeinem Grund wusste er, dass es ihm danach besser gehen würde.

Während die Linsensuppe blubberte und zu sämig wurde, versuchte Maewen Mitt aus ihren Gedanken zu verdrängen, indem sie überlegte, was sie in Auental unternehmen konnte. Sollte sie eine Ansprache halten? Sie hatte Navis zwar gesagt, dass ihr Heer sich von selbst sammeln würde, doch das war drüben an der Küste gewesen. Nun waren sie weit landeinwärts geritten, wo die Menschen von Noreth noch nie gehört hatten. Das Dumme war nun, dass sie überhaupt nicht wusste, was sie erwartete. In ihrer eigenen Zeit war sie einmal in Auental gewesen; Tante Liss hatte mit ihr einen Ausflug dorthin unternommen. Maewen hatte allerdings das deutliche Gefühl, dass alles, was sie wusste, sie nur verwirren würde.

Etwa zu dieser Zeit bat Wend höflich um Morils Erlaubnis und spielte erneut auf der Quidder. Fröhliche Lieder aus alter Zeit hallten von den Felsenspitzen wider. Jeder schien bessere Laune zu bekommen. Gut aufgelegt aßen sie klaglos zerkochte Linsen und Mitts rußige, unkenntliche aufgespießten Dinge, und als sie fertig waren, begann Hestefan zu ihrer aller Überraschung Geschichten zu erzählen. Die meisten davon kannte Maewen noch aus ihrer Zeit, aber sie hatte sie nur in Büchern gelesen. Sie von Hestefan ernst und einfach erzählt zu bekommen, als entspreche jedes eigenartige Vorkommnis darin der genauen Wahrheit, bedeute eine ganz andere Erfahrung. Die Geschichten erschienen ihr plötzlich neu und unbekannt. Obwohl Maewen fast immer eigentlich wusste, wie die Geschichte ausging, war sie dennoch jedes Mal vom Ende überrascht.

Da sieht man, was einen guten Barden ausmacht, dachte sie, und Hestefan ist wirklich sehr gut!

»Ich danke dir«, sagte Navis, als Hestefan endete. »Noch nie habe ich diese Geschichten besser erzählt bekommen.«

Hestefan verbeugte sich im Sitzen. »Und ich danke dir. Noch nie habe ich sie so gut erzählt und so wenig dafür bekommen.«

Navis lachte und schnippte Hestefan eine Silbermünze zu. Hestefan fing sie mit einem Augenzwinkern auf. Es sah ganz so aus, als würden sie allmählich miteinander warm werden. Maewen entdeckte ein leises Lächeln auf Wends Gesicht, während er sorgsam die wasserdichte Hülle um die Quidder legte, und das stimmte sie nachdenklich.

Am nächsten Morgen war es noch nebliger. Vermutlich waren sie wieder in die Wolken hinabgestiegen. Tatsächlich neigte sich die Grüne Straße sanft bergab, als wollte sie die Reisenden in ein Tal führen. Nicht lange, und sie verzweigte sich an einem Wegstein nach dem anderen, und Maewen war froh, dass Wend voranging und ihnen die richtige Richtung zeigte. Und an diesem Tag begegneten sie zum ersten Mal anderen Leuten, die ebenfalls die Grünen Straßen benutzten. Das leuchte ein, merkte Navis an. Bis jetzt waren sie den Leuten, die woandershin gingen, um dort Mittsommer zu feiern, entweder voraus gewesen oder hinter ihnen zurück. Nun begegneten sie diesen Leuten auf ihrer Heimkehr, und dazu kam der übliche Reiseverkehr nach Auental.

Sie ritten an anderen Reitern, an Gruppen von Fußreisenden und ganzen Familien auf Wagen vorbei, die ihnen alle entgegenkamen. Hestefan begrüßte jeden Einzelnen sehr freundlich. Doch als sie den ersten Menschen überholten, der nach Auental ging – er trieb eine Schar Gänse vor sich her –, rief er klangvoll: »Hestefan der Barde kommt nach Auental! Halt Ausschau nach mir!«

Maewen verkrampfte sich. Hestefan musste natürlich die Werbetrommel rühren – sie aber auch. Sie fragte sich, ob sie rufen sollte: ›Noreth Einentochter kommt nach Auental!‹, und dann den Gänsehüter … – nein, es war eine Frau, die sich wegen des Nebel dick angezogen hatte – ob sie die Gänsehüterin bitten sollte, sich ihr bei Karnsburg anzuschließen. Maewen war unentschlossen. Die Vorstellung gefiel ihr nicht, und am Ende meldete die Gänsehüterin sie noch dem Graf von Auental. Doch vielleicht wäre gerade das der richtige Schritt gewesen. Zum ersten Mal hätte sie den Rat der tiefen Stimme dankbar angenommen, doch dazu waren nun zu viele andere Menschen in der Nähe.

Währenddessen schälten sich immer mehr weiße, dreieckig erscheinende Gänse aus dem Nebel. Als Maewen, noch immer schwankend, schon den Mund öffnete, um es Hestefan nachzumachen, entschied Mitts Pferd, es müsse unmissverständlich klar machen, dass es Gänse für eine niedere Form von Leben halte. In kurzen Sätzen sprang es auf die Vögelchen, während Mitt schimpfend an den Zügeln zerrte. Nachdem Gräfin zehn Fuß in der Manier eines Schaukelpferds zurückgelegt hatte, gewann der Wallach und stürzte sich zwischen die Gänse. Mitt kippte in einem Durcheinandern aus Geschrei, Geflatter und Gerenne aus dem Sattel. Die Gänse stoben auseinander und flohen, nur zwei stürzten sich mit ausgebreiteten Flügeln und vorgereckten Köpfen auf Mitt. Die Hüterin brüllte aus vollem Hals – hauptsächlich sehr unfreundliche Dinge über Mitt und das Pferd.

Navis drängte sich fast augenblicklich ins Getümmel und schlug mit der Reitgerte auf alles und jeden ein. Die Frau brüllte auch Navis an. Bald ergriffen die beiden angriffslustigen Gänse die Flucht, Moril fing Gräfin ein, und Navis riss Mitt hoch. Danach jagte alles für eine ganze Weile Gänse. Als der Schwarm endlich wieder beisammen war, hatte Maewen den Mut verloren. Selbst wenn die Gänsehüterin nicht so wütend gewesen wäre, überlegte sie, während Navis und Hestefan die Frau mit ausgesuchter Höflichkeit besänftigten, konnte sie Noreth im Grunde erst dann zur Königin erklären, wenn sie mit des Adons Gaben Karnsburg erreichte und den Grafen etwas vorzuweisen hatte. Dieser Entschluss schenkte ihr große Erleichterung, und im gleichen Ausmaß fühlte sie sich völlig kraftlos.

»Ich glaube, der gehört dir, meine Dame«, sagte Navis, verbeugte sich und reichte der Gänsehüterin den Stab, den sie hatte fallen lassen.

»Passt nur auf, dass der Tollpatsch nicht wieder hinfällt und meine Gänse in Ruhe lässt«, entgegnete sie.

»Aber gewiss«, sagte Navis. »Ich fürchte nur, dazu müssten wir ihm ein richtiges Pferd kaufen, und dazu fehlt uns allen im Moment das nötige Geld.«

Daraufhin brüllte die Frau vor Lachen. Während Mitt wieder in den Sattel stieg, fühlte er sich wie ein vollkommener Idiot.

Und danach hielt er sein Pferd stets im Zaum, wenn sie im Nebel einen anderen Reisenden erblickten.