15.
Kaum hatten sie die Rechtsakademie hinter sich gelassen, als Maewen eine tiefe Erschöpfung befiel. Das Auental war genauso schön, wie sie es von ihrem Besuch mit Tante Liss in Erinnerung hatte, und zum ersten Mal erkannte sie einiges wieder, nur gab es viel weniger Häuser als in ihrer Zeit. Sie folgten schmalen, von meilenlangen Hecken voll wilder Rosen gesäumten Landstraßen, die Maewen vor den Augen verschwammen. Sie war so müde, dass sie, ohne es zu merken, an Hestefans Wagen vorbeigeritten wäre, wenn die anderen nicht angehalten hätten.
Der Wagen stand auf einem Dreieck, wo drei Straßen aufeinander trafen. Das Maultier war an eine Eiche gebunden, die fast die gleiche Farbe hatte wie der Wagen, und döste im Stehen. Moril sprang von der Stute und eilte besorgt zum Gespann; die Quidder hüpfte ihm über den Rücken. Er blickte hinten in den Wagen hinein und kam erleichtert zurück. »Alles ist gut. Er liegt drin und schläft.« Besorgnis trat auf sein Gesicht. »Ich glaube, es geht ihm schlecht.«
»Er ist kein junger Mann mehr«, entgegnete Navis. »Und ganz gewiss hat er sich verletzt, als euer Wagen umstürzte. Zumindest hat er einen Schock davongetragen.«
»Lasst ihn doch schlafen«, schlug Mitt vor. »Es heißt, der Schlaf heilt alle Wunden.«
Moril band das Maultier los, das keineswegs erfreut wirkte, sich wieder bewegen zu dürfen, und schloss sich mit dem Wagen den Pferden an. Hestefan rührte sich nicht. Die Meilen vergingen noch langsamer. Moril war weiß im Gesicht vor Sorge.
»Das ist auch kein Wunder«, murmelte Navis Mitt zu. »Was wird aus ihm, wenn Hestefan stirbt?«
»Er hat ja noch seinen Bruder«, entgegnete Mitt unerschütterlich. »Er kann den alten Kerl eben gut leiden, das ist alles. Mach dir lieber Sorgen um Hildi. Ich will dir jetzt alles erzählen, was ich von Kialan erfahren habe.« Gedämpft sprachen sie miteinander.
Maewen folgte noch immer wie betäubt den langen Straßen durch das Tal, bis sie nach einem weiten Stück Wegs auf einem steilen Pfad das Hochland erreichten. Nach einem Ritt, der ihr ewig vorkam, schleppte sich das Pferd endlich auf flachen grünen Rasen, und da stand der Wegstein und warf im Abendlicht einen riesigen, hohlen Schatten. Als Wend aufstand, um sie zu begrüßen, überragte sein Schatten sogar noch den des Wegsteins.
Kaum sah Maewen ihn, als eine Wachsamkeit von ihr abfiel, von der sie gar nicht gewusst hatte, dass sie sie aufrechterhielt. Endlich in Sicherheit!, dachte sie nur. Wend war ein Unvergänglicher. Er hatte die Macht, sie zu schützen. Ihre Erschöpfung war fast ganz verschwunden, und sie begriff, dass ihr Verstand hinter dieser Erschöpfung verborgen hatte, wie sehr sie sich fürchtete, jemand könnte in ihrem Rücken hinter einer Hecke hervorspringen und erneut einen Mordanschlag auf sie verüben. Sie freute sich so sehr, Wend zu sehen, dass sie sich aus dem Sattel herabbeugte und ihm kräftig die Hand drückte.
Wend wirkte überrascht, doch sie merkte ihm an, dass er zugleich auch sehr geschmeichelt war. Einen Moment lang sah er wie ein ganz gewöhnlicher Mensch aus, der sich über ein Wiedersehen mit alten Freunden freut. »Etwa eine Meile von hier gibt es einen guten Lagerplatz«, sagte er.
Der Lagerplatz war sogar sehr gut; ein grünes, rasenartiges Areal abseits der Straße. Er lag an einem Teich, den ein herabstürzender Bach speiste. Ein kleines Wäldchen aus Ebereschen und Weißbirken spendete Schatten, und große Steine boten sich als Sitzgelegenheiten an. »Schutz«, sagte Wend und tätschelte einen schlanken silbrigen Stamm.
»Libbi Bier?«, fragte Mitt.
Wend sah ihn an. »Du kennst sie?«, fragte er scharf.
»Das könnte man so sagen«, entgegnete Mitt. »Wir sind uns ein-oder zweimal begegnet.«
Wend starrte ihn einen Moment lang ernst an, als bewerte er etwas neu. Dann wandte er sich mit einem verwirrten Gesichtsausdruck ab.
Die Frische und die Sicherheit, die von dem Lagerplatz ausgingen, erquickten die Gefährten, und sie packten tüchtig zu. Sie kümmerten sich um die Pferde und entfachten ein Feuer. Nicht lange, und auch Hestefan kroch aus dem Wagen, rieb sich die Augen und sagte, er wisse nicht, was über ihn gekommen sei. Die anderen begrüßten ihn heiter. Viel schien Hestefan nun nicht mehr zu fehlen. Tatkräftig pflückte er wilde Erdbeeren mit Wend, während Mitt und Moril bachaufwärts nach Pilzen suchten. Mit vereinten Kräften hatten sie bald ein Festmahl zusammengetragen.
Maewen blickte immer wieder Mitt an und fragte sich, ob er wegen Hildi noch immer sosehr leide. Es war ihm aber einfach nicht anzusehen, und auch Mitt selbst hätte ihr diese Frage nicht beantworten können. Während Navis Wend und Hestefan erzählte, was in Auental geschehen war, sagte sich Mitt manchmal, dass er Hildi vollkommen vergessen könnte, wenn ihm nur jemand den eindeutigen Beweis lieferte, dass sie und Biffa unbehelligt auf dem Weg nach Anstal wären – und er hätte dabei nichts anderes als Erleichterung empfunden. Mein Problem ist eben, dachte er, während Wend sein offenes, stattliches Gesicht mit einem Ausdruck des Entsetzens Noreth zuwandte, dass ich mich wie ein dummer Hund verhalte, der nur darum bittet, getreten zu werden.
»Zweimal?«, fragte Wend. »Herrin, ich muss dich bitten, die Grünen Straßen nicht mehr zu verlassen. Hier auf diesen Pfaden bist du in Sicherheit.«
»Aber hast du den Kelch bekommen?«, fragte Hestefan.
»Navis hat ihn«, sagte Moril. In dieser Hinsicht war er noch immer ein wenig empfindlich.
»Bitte zeig ihn uns«, bat Hestefan höflich.
Maewen vergaß Moril völlig. Nun wurde es beunruhigend. Nervös sah sie zu, wie Navis in die Tasche griff und das in das seidene Taschentuch eingeschlagene Bündel hervorzog. Es dämmerte schon, und alles war in grünliches Licht getaucht. Als das Taschentuch zur Seite fiel, ließ der Schein des Lagerfeuers ein mildes Schimmern über den silbernen Kelch laufen. Navis verbeugte sich auf seinem Platz auf dem Felsen vor Maewen. »Dein Kelch, Noreth«, sagte er und reichte ihn Mitt, damit er ihn weitergab.
Mitt hatte nicht damit gerechnet, dass Navis ihm den Kelch geben würde. Er fuhr abrupt aus seinen Gedanken hoch und packte das Gefäß ungeschickt an. Das Taschentuch verrutschte. Einen Augenblick lang verschwanden das grünliche Licht und der Feuerschein in den strahlenden blauen Blitzen. »Autsch!«, rief Mitt. Während alles noch blinzelte und nur gelbe Nachbilder sah, wickelte er hastig den Kelch wieder ein und gab ihn an Maewen weiter. »Vorsichtig«, sagte er. »Der ist verhext.«
Maewen nahm das Bündel. Es war noch schlimmer als beim Ring: Alles wartete darauf, dass sie es öffnete und den Kelch nahm, und wahrscheinlich würde sie dabei nur einen elektrischen Schlag bekommen. Aber wenn ich wirklich an einem elektrischen Schlag gestorben wäre, sagte sie sich, dann hätte Wend es doch im Palast erwähnt. Also los. Sie zog das Taschentuch weg und sagte: »Seht alle her. Dies ist der Kelch des Adons.« Sie nahm die schiefe Silberschale fest in die Hand und hob sie hoch.
Zu ihrer großen Erleichterung zischelte nichts. Jeder wandte das nur undeutlich erkennbare Gesicht der Schale zu. Nach einem kurzen Augenblick bemerkte Maewen, dass alle auf ihre Hände schauten, die sich dunkel vor dem Kelch abzeichneten, unnatürlich dunkel. Der Kelch hingegen schien viel heller geworden zu sein. Jawohl, er war heller geworden. Er füllte sich mit einem sanften blauen Leuchten, strahlte wie eine blaue Lampe in der hereinbrechenden Dunkelheit, und Maewens Hände hoben sich blutrot vor ihm ab. Der Anblick war so schön und so erwünscht, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen.
Mehrere Menschen stießen lautstark den angehaltenen Atem aus. »Jawohl, das ist der Kelch«, sagte Wend. »Er hat dich erkannt, wie er den Adon erkannte.«
Na, dem Einen sei Dank!, dachte Maewen, während sie den Kelch wieder in das Taschentuch wickelte.
Unter dem freundlichen Rascheln der Ebereschen und Birken schliefen sie sehr gut. Als es jedoch auf die Morgendämmerung zuging, etwa um die Zeit, da der herabstürzende Bach weniger beunruhigend und eher störend rauschte und alle sich hin und her zu wälzen begannen, weil das Gras platt gedrückt war und die harte Erde zu spüren war, hatte Mitt einen seltsamen Traum. Gefahr spielte darin eine Rolle, und Wunder auch, und beides war verwirrend miteinander verquickt.
Der Traum begann damit, dass Mitt von oben auf das Lager herabblickte. Er sah den silbernen Kelch leuchten, und ganz in der Nähe strahlte noch etwas anderes in einem gelblicheren Ton. Nach einer Weile begriff er, dass dieses gelbliche Leuchten von der goldenen Statue stammte. Sie besaß große Bedeutung. Mitt blickte sie an und dachte: Noreth braucht sie nun nicht so dringend. Ich kann mir meinen Anteil nehmen. Aber nicht deswegen war die Statue so wichtig. Mitt rätselte darüber nach, bis seine Aufmerksamkeit von den Grünen Straßen abgelenkt wurde, die sich vom Lager fortwanden. Während er sie noch anblickte, träumte er schon, dass er wieder im Lager war, unter seiner Decke lag und davon träumte, die Grünen Straßen zu betrachten.
Träumend betrachtete er die Grünen Straßen genauer. Sie liefen in alle Richtungen, wanden sich durchs Gebirge, verbanden einen Ort mit dem anderen. Er sah sie alle; sie führten an Wassersturz vorbei bis hin nach Karnsburg und noch weiter in die Nordtäler und in den Süden. Jawohl, es hatte auch in den Südlanden einmal Grüne Straßen gegeben, doch sie wurden nicht mehr instand gehalten. Auf ihnen bewegte sich etwas und verbarg sie, etwas Gefährliches. Doch dieses Gefährliche hatte von jeher die Absicht gehabt, sich über ganz Dalemark auszubreiten.
Mitt träumte, dass er sich wohler gefühlt hätte, wenn nicht alle Straßen zu ihm geführt hätten, während er unter den Ebereschen lag und in Gefahr schwebte. Da die Vorstellung von Gefahr ihn ungeduldig machte, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder in die Ferne, auf die Straßen, die sich im Lichte des untergehenden Mondes grau ausdehnten, und warf einen Blick auf die Menschen, die auf ihnen reisten. Erstaunlich viele Menschen waren so früh schon auf den Beinen oder hatten sogar bereits eine Nachtreise hinter sich. Zu ihnen gehörte Hildi. Weit entfernt von Mitt näherte sie sich an Biffas Seite dem rauchenden Berg und hatte Anstal schon fast erreicht. Kialan war ebenfalls unterwegs, er würde bald in Hannart ankommen. Das verhieß Gefahr. Besorgt sah Mitt nach Norden, wo Morils Bruder, der junge Barde, in höchster Eile Richtung Adenmund fuhr. Reiter folgten Dagner. Sie schlossen allmählich zu ihm auf. Auch das bedeutete Gefahr.
Ein schwarzer, bedrohlicher Fleck aber lag genau über dem Lagerplatz unter den Ebereschen.
Mitt übersah ihn halsstarrig und beobachtete weiterhin die Straßen. Er sah, dass auch Unvergängliche auf ihnen wandelten, ohne indes von gewöhnlichen Menschen bemerkt zu werden. Sie sahen den gewöhnlichen Menschen auch so ähnlich, dass Mitt sich fragte, woran er eigentlich erkennen konnte, dass es sich um Unvergängliche handelte. Trotzdem erkannte er König Hern, der die Straße des Königs entlangzog, um Karnsburg zu bauen; allerdings war König Hern noch ein schlaksiger Junge, nicht älter als Mitt. Er sah Manaliabrid, die mit dem Adon ins Exil floh, und einen kleinen Jungen, den Sohn des Adons. Der Adon erwies sich als kleiner Mann, der Navis viel stärker ähnelte, als Mitt erwartet hätte, und Manaliabrid hatte sehr viel mit Noreth gemein. Wend war zu Mitts Überraschung auch bei ihnen, und er sah aus wie immer.
Nun wusste er, dass er träumte. Deshalb überraschte es ihn gar nicht, dass die Grünen Straßen sich ins Gestern wanden. Er lag da und sann darüber nach. Sie schlängelten sich vor und zurück durch die Geschichte, bis in die Gegenwart reichten sie, bis an die Stelle, wo er in solcher Gefahr lag, und von da aus wanden und schlängelten sie sich in die ferne Zukunft. Die Unvergänglichen gingen immer weiter und nahmen die Straßen durch die Zeit, und mit ihnen zog die Geschichte, übersah sie aber; die Zeit vergaß, dass die Unvergänglichen es waren, die Geschichte schrieben. Mitt sah zu, wie die Straßen wieder in den Süden entschwanden. Er beobachtete Schlachten und andere eigenartige Dinge. Er hätte zu gern noch mehr gesehen, wenn die Straßen sich nicht immerfort in die Ebereschen zurückgewunden und ihm gezeigt hätten, dass Noreth eine Gefahr war.
»Nein«, sagte Mitt in seinem Traum. »Sie ist vielleicht in Gefahr, aber sie selbst ist keine Gefahr.«
Und der Traum sagte ihm immer wieder: »Nicht Noreth. Du.«
»Ach, hör schon auf! Sie ist in Ordnung!«, entgegnete Mitt dem Traum. »Wenn es eine Gefahr gibt, dann sind es diese Grafen.«
Dann erwachte er. Um ihn war weißer Nebel, in dem schemenhaft Bäume zu erkennen waren. Er fühlte sich sehr gereizt, und er hatte große Angst.
Alle anderen schienen geradezu unerhört erfrischt zu sein. Als Wend Maewen fragte: »Und wohin als Nächstes, Herrin?«, antwortete sie fröhlich: »Jetzt holen wir uns des Adons Schwert.«
»Dann auf nach Wassersturz«, sagte Wend.
Als sich am nächsten Wegstein die Straße gabelte, nahmen sie die Abzweigung rechter Hand und fanden sich fast augenblicklich auf dem steinigen Boden eines weiten Tales wieder. In diesem Tal erschien jeder zwergenhaft. Zu beiden Seiten erhoben sich Felshänge, kahl und so stark gekrümmt wie ein windgefülltes Segel. Mitt nahm an, dass er an Segel denken musste, weil der Wind mit einem sauren Pfeifen durch das Tal blies, so heftig, wie er es nur von See her kannte. Wie der Wind über dem Meer trug er auch immer wieder Bänder aus nebligem Regen mit sich, durch den die kahlen Hänge noch schroffer und leerer wirkten. Gestreckt sehen sie aus, dachte Mitt, während er durch kleine, stechende Regentropfen in das kahle gelbe Licht hinauf starrte. Ihm kam eine Vision des Einen, der unermesslich hoch aufragend die harte Felsenkante des Landes packte und so lange daran zog, bis es sich nicht mehr weiter strecken ließ. Flüsse, Steine und Wesen torkelten und rollten über das Land, während der Eine zerrte …
Mitt erschauerte und kauerte sich in seine Jacke. Er hatte die leise Ahnung, auch so etwas in seinem Traum gesehen zu haben. Er verdrängte diesen Gedanken und ebenso die Vorstellung von Gefahr energisch aus seinem Kopf. Es brachte ihn nicht weiter, wenn er sich nervösen Fantasien hingab.
Nach einem langweiligen Tagesritt kampierten sie an einer trübseligen Stelle, die sich von dem schönen Lagerplatz unter den Ebereschen nicht stärker hätte unterscheiden können. Der Wind blies von allen Seiten. Die Flammen des Feuers erloschen oft, und selbst wenn es brannte, gab es mehr Rauch ab als Wärme; der Qualm schien einen zu verfolgen, gleich wohin man sich setzte. Alle, sogar Moril und Hestefan im Wagen, hüllten sich in sämtliche Mäntel, Umhänge und Decken, die sie nur finden konnten, und doch schlief niemand sehr gut. Mitt war so kalt, dass er beinahe aufgestanden wäre, bevor es dämmerte. In der Nacht hatte es wieder geregnet, und alles, was er am Leibe trug, war feucht. Da es keine Rolle zu spielen schien, ob er noch nasser oder es ihm kälter wurde, ging er los, um sich in dem Bach hinter dem Steinhaufen zu waschen, wo die Pferde standen. Ein freudloser kleiner Bach war es, der mit einem Geräusch über die grauen Steine gluckerte, das sehr an Zähneklappern erinnerte.
Als er ging, weckte er Maewen. Sie rollte sich stöhnend in den grauen Tag. In ihrem ganzen Leben war ihr weder jemals so kalt gewesen, noch hatte sie sich so durchnässt gefühlt. Gut war nur, dass ihr der Magen nicht mehr wehtat. Als hätten die Grünen Straßen mich geheilt, dachte sie, während sie zu der Latrine hinter den Pferden ging. Als sie zurückkam, bemerkte sie, dass alle zusammengekauert dalagen wie die Toten. Der Anblick drückte sie nieder. Sie ging wieder zu dem Steinhaufen und begann die Pferde zu versorgen.
Sie war allein. Augenblick sprach die tiefe Stimme sie an. »Ich habe nachgedacht«, sagte sie. »Dein Weg liegt nun deutlich vor dir.«
»Wirklich?«, erwiderte Maewen. »Wie schön, dass du wieder da bist. Wo warst du, als du mich vor dem anderen Mann mit dem Messer hättest warnen können?«
Am Bach stellte Mitt gerade fest, dass man sich doch tatsächlich noch kälter fühlen konnte. Das Wasser war eisig. Es musste geschmolzener Schnee von einem hohen Berg sein, den man von dieser Stelle aus nicht sehen konnte. Wann immer er sich überwinden konnte, ein Körperteil einzutauchen, färbte es sich blau. Unter lautem Platschen und Schnaufen wusch er sich eilig und zog rasch die Kleider wieder an. Die Sonne war mittlerweile aufgegangen. Kein Wunder, dass ihm so kalt war: Der Bach rann durch tiefblaue Schatten. Nun aber küsste neblig gelbes Sonnenlicht den Steinhaufen. Am ganzen Leib zitternd, ging Mitt dorthin, um sich aufzuwärmen.
Er hörte, dass Noreth auf der anderen Seite der Steine mit jemandem sprach. Eine tiefe Stimme antwortete ihr. Also war entweder Wend oder Hestefan schon auf. Mitt umkreiste fröhlich den Steinhaufen.
»Du warst nicht in Gefahr. Hilfe für dich war in der Nähe, ob ich dich nun warnte oder nicht«, sagte die tiefe Stimme.
Mitt blieb verblüfft stehen. Noreth striegelte gerade Navis’ Stute, und sie war ganz allein. Er sah Wend, der noch immer weit entfernt am erloschenen Feuer schlief. Navis war der andere Buckel. Und Hestefan kroch gerade erst aus dem Wagen.
Sie hat gesagt, dass der Eine zu ihr spricht, dachte Mitt. Aber bis jetzt habe ich das nie wirklich geglaubt. Er wich still hinter die Steine zurück, damit Noreth nicht glaubte, er wolle sich einmischen, und stellte sich dort in die Sonne. Trotzdem hörte er noch immer beide Stimmen.
Noreth sagte: »Ich gehe nicht mehr in die Täler hinab. Ich bleibe auf den Grünen Straßen. Wend sagt, dass ich hier sicher bin.«
»Du bist hier nicht sicher«, entgegnete die tiefe Stimme. Ein kurzes Schweigen folgte. »Warum nicht?«, fragte Noreth dann. Sie klang recht gelassen. Mitt konnte nicht ahnen, dass sie am ganzen Leib bebte. Er dachte gerade, dass er sich wohl lieber noch ein Stück weiter zurückziehen sollte, außer Hörweite, als die tiefe Stimme antwortete:
»Der Junge aus dem Süden, den du Mitt nennst, ist die größte Gefahr, der du bisher begegnet bist. Du musst ihn töten, bevor er dich tötet.«
Danach hätte Mitt sich ebenso wenig wegzuschleichen vermocht, wie er fliegen konnte.
»Aber Mitt hat mich vor dem zweiten Mörder gerettet«, wandte Maewen ein.
»Dafür hat er seine Gründe«, entgegnete die Stimme. »Und dieser Mitt wird nicht leicht zu töten sein, solange der Mann namens Navis noch lebt. Navis wird Mitt verteidigen, weil es seinen Zwecken dient. Aus diesem Grund rate ich dir, sie beide zugleich zu töten.«
»Das kannst du doch nicht ernst meinen!«, rief Maewen.
»Sobald du das Schwert des Adons gefunden hast, sind beide entbehrlich«, sagte die Stimme. »Erstich sie im Schlaf, in der Nacht, bevor du Karnsburg erreichst.«
»Wirklich?«, fragte Maewen. »Und was ist mit Wend, mit Moril und Hestefan? Sind sie ebenfalls entbehrlich?«
»Ich habe dir doch gesagt«, entgegnete die Stimme unerschütterlich, »dass du den Bardenjungen brauchst, um die Krone zu finden. Danach ist er ebenso sehr eine Belastung für dich wie die beiden Südländer, und du solltest auch ihn bei der ersten Gelegenheit erdolchen.«
»Du verlangst von mir …«, begann Maewen; sie versuchte, nicht zu kichern, obwohl nichts an der Sache komisch war. »…du verlangst von mir, mit nichts als einem Haufen Leichen nach Karnsburg zu kommen?«
»Dort wird ein ansehnliches Heer auf dich warten. Weise die Leichen als die Leichen von Verrätern vor und erkläre, dass jeder Verräter an der Krone das gleiche Schicksal erdulden muss.«
»Vielen herzlichen Dank!«, sagte Maewen. »Da habe ich ja einiges vor.«
»Tu, was ich dir sage«, sagte die Stimme, und ihre Tiefe ließ sowohl Maewen als auch Mitt erschauern, »sonst versagst du, und das wäre dein Tod.«
Darauf herrschte Schweigen. Mitt stand wie erstarrt auf der Stelle, bis er wieder energische Striegelgeräusche von der anderen Seite des Steinhaufens hörte. Er ging zum Lager hinüber und gab sein Bestes, um ganz beiläufig zu erscheinen. Niemand schien zu merken, dass er am ganzen Leib bebte. Das lag aber nur daran, dass sie alle vor Kälte zitterten.
Das Frühstück war schrecklich. Sie hatten kein anständiges Brot mehr, und der Käse war auf der Rinde schimmlig geworden. Das einzige Essbare waren die eingemachten Kirschen, und Mitt stellte fest, dass er sie mittlerweile verabscheute.
Sie zogen weiter das gedehnte, windige Tal hinauf, und weder Mitt noch Maewen sprachen viel.
Maewens Gedanken waren ein einziges Durcheinander. Sprach da wirklich der Eine zu ihr? Oder war ihr Verstand durch den Zeitsprung ein wenig verwirrt und antwortete auf die Gewalt, die sie in Auental erfahren hatte, mit Gegengewalt? Es konnte kein Zweifel bestehen, dass ihr von jemandem Gefahr drohte. Wenn die Stimme dem Einen gehörte, so war er zornig. Wen hatte er ausgesondert? – Mitt und Moril hatten beide den Kelch stehlen wollen, und Navis hatte ihn entwendet. Schon während des Gesangs in der Rechtsakademie war Maewen der Gedanke gekommen, Navis habe etwas Schreckliches getan. Vielleicht hing das mit dem Kelch zusammen. Trotzdem spielte es keine Rolle, was da sprach und warum. Es tat ihr weh. Vor hässlichen Verdächtigungen gegen Navis, Mitt und Moril platzte Maewen nun fast der Kopf. Seit Beginn der Reise wusste sie, dass ihr jeder von ihnen aus seinen ganz eigenen, geheimen Gründen folgte, und Mitt und Navis hatten ihr einige dieser Gründe in Auental offenbart. Hildi war es, die ihnen wichtig war. Das tat weh.
Ach, ich möchte nach Hause! Maewen dachte so intensiv daran, dass sie es fast ausgesprochen hätte. Tatsächlich stieß sie eine Art Laut aus, bei dem Hestefan und sein Maultier, neben denen sie zufällig gerade herritt, den Kopf drehten und sie ansahen. Doch kaum hatte sie sich in letzter Sekunde zurückgehalten, als ihr klar wurde, dass sie es gar nicht ernst meinte. Sie wollte wissen, was aus Noreth geworden war, und versuchen, die Geschichte zu ändern, obwohl sie nun wusste, dass einer dieser drei ihr ein schreckliches Leid zufügen würde. Berichtigung: Mitt würde ihr ein schreckliches Leid zufügen. Navis war wie ein Kühlschrank, Moril war sehr sensibel und besaß diese Zauber-Quidder, doch Mitt war der Tatmensch. Bei diesem Gedanken schnürte sich ihr die Kehle zusammen, als würde Mitt versuchen, sie zu erwürgen … und vielleicht hatte er sie in der Schenke von Auental überfallen!
Mitt dachte immer wieder: Das ist doch so albern! Der Eine spielte ihm einen Streich. Vielleicht hatte er es auch auf Mitt abgesehen – ja, das war eigentlich wahrscheinlicher. Mitt hätte sich am liebsten von der ganzen Misere abgewendet. Wie schön wäre es gewesen, sich auf einem Bauernhof niederzulassen, irgendwo in der Nähe der südlichen Grenze, wo es ein wenig so aussah wie in der Gegend, in der er aufgewachsen war. Dann konnte der Eine sich aufregen, so viel er wollte. Aber erst brauchte er die Hälfte der goldenen Statue, und Noreth würde sich kaum jetzt von ihr trennen. Nicht jetzt, wo ihr klar sein musste, dass Mitt den Befehl hatte, sie zu töten. Außerdem musste er ohnehin bei ihr bleiben, bis sie Karnsburg erreichte. Selbst wenn Hildi vorerst in Sicherheit war, Ynen schwebte weiterhin in Gefahr, und vielleicht gelang es Kialan doch nicht, ihn nach Karnsburg zu schaffen. Wenn Mitt zum Lachen zumute gewesen wäre, hätte er sich über die verzwickte Angelegenheit halb totlachen können. Nun aber musste er zunächst Navis und Moril irgendwie warnen. Und da er schon bei Warnungen war, auch sein Traum war eine Warnung gewesen – was denn sonst!
Als Mitt aus seinen Gedanken aufwachte, stellte er fest, dass ihm warm war – sogar mehr als warm: fast zu warm, was für ein Wunder. Er zog die Jacke aus. Ein schwacher, weißer Regen dampfte über ihnen, aber es war zu mild, um sich deswegen Gedanken zu machen. Das ist schon etwas anderes!, dachte er. Für den Norden muss das eine Jahrhunderthitze sein!
Sie hatten das lang gestreckte Tal verlassen und folgten dem grünen Pfad nun über eine hohe, von Stechginster bewachsene Heide. Die Berge waren in der Ferne zu weiß-purpurnen Zacken zusammengeschmolzen, und auf dem Gipfel des Berges hinter ihnen lag, wie Mitt durch die nebligen Regenstreifen erkennen konnte, tatsächlich Schnee.
»Wo sind wir hier? Und warum ist es hier so warm?«, fragte er. Zum ersten Mal seit dem Frühstück sprach er ein Wort.
Moril grinste ihn an. »Schön, dass du wieder da bist. Wir sind auf Oreths Schild.«
»Das ist das weite Hochland, das zum Süden hin offen ist«, erklärte Hestefan, neben dem Moril auf dem Kutschbock saß. Wieder ganz der Schulmeister, dachte Maewen. Dank der Wärme fühlte sie sich besser. »Die warme Luft wird uns nun bis Karnsburg begleiten. Das hier ist einmal gutes Land gewesen. Noch zu des Adons Zeiten lebten hier viele Menschen.«
Augenblick mal!, dachte Maewen und befreite sich ganz aus ihrem Jammer. Wenn das der Schild war, so hatte sie ihn doch aus dem Zugfenster gesehen. Bauernhöfe und Fabriken, Bäume und Städte gab es dort. Doch Hestefan konnte Recht haben. Zwischen Stechginster und Erika waren auf beiden Seiten Steinhaufen mit entfernt viereckigen Umrissen zu erkennen. Sie konnten tatsächlich von Häuserruinen stammen.
»Wo sind die Leute hingegangen?«, fragte sie.
»In den Kriegen nach dem Tod des Adons geflohen«, antwortete Moril.
»Und wem gehört es heute?«, fragte Navis. Er starrte über die Stechginsterbüsche hinweg auf Farnkraut und Erika, als hätte er nichts dagegen, ein Stück davon selber zu besitzen.
Während Hestefan in komplizierten Sätzen darlegte, dass sowohl Hannart als auch Wassersturz einen gewissen Anspruch erheben könnten, ohnedies aber niemand das Land haben wolle, runzelte Maewen die Stirn. Sie war fest davon überzeugt, dass Navis über kurz oder lang einiges davon besitzen würde. In ihren Tagen gehörte dem Herzog von Karnsburg die große Brauerei auf Oreths Schild. Durfte sie wagen, die Geschichte einschneidend zu ändern, indem sie Navis daraus entfernte? Konnte sie das überhaupt? Nein, natürlich nicht. Was war sie erleichtert. Leider erstreckte sich dieses Gefühl nicht auf Moril oder Mitt, die in der Geschichtsschreibung eigentlich nicht auftraten.
Sie blickte Mitt von der Seite an. Er drehte gerade den Kopf zu einem leicht höheren Steinhaufen, den ein alter Apfelbaum überragte. Ich könnte das Land hier bewirtschaften, dachte er. Es wäre viel harte Arbeit, aber ich denke, hier könnte ich in Frieden leben.
Der Regen verzog sich ins Gebirge und hinterließ einen schmerzlich blauen Himmel. Jeder dampfte in der Wärme. Der Wagen fuhr in seiner eigenen Wolke, Dampfkringel aushauchend. Fliegen stiegen von dem Heidekraut auf und umschwirrten die Pferde. Gräfin machten sie unruhig, doch Mitt ritt mit gesenktem Kinn weiter und bemerkte sie kaum. Sein Traum ließ ihm keine Ruhe. Landwirtschaft war darin nicht vorgekommen. Irgendetwas stimmte nicht.
Mittlerweile sahen sie das ein oder andere kleine Bauernhaus aus grauen Steinen, umgeben von quadratischen Feldern, die dem wuchernden Heidekraut abgetrotzt waren. Der Schild war doch nicht so verlassen, wie Maewen geglaubt hatte. Je weiter sie kamen, desto größer und zahlreicher wurden die Höfe. Gegen Mittag, als sie eine Rast einlegten, umgab sie Ackerland, und von Mauern begrenzte Wege führten auf beiden Seiten der Grünen Straße zu den Bauernhäusern. Sie sahen sogar einige Bäume. Unter einer mächtigen alten Esche an einer Wegbiegung hielten sie an.
Navis genoss die Wärme in vollen Zügen. Während sich die Pferde mit Maewen und Hestefan in den Schatten drängten, setzte sich Navis auf die Trockensteinmauer in die Sonne und breitete die Arme aus. »So gefällt es mir schon besser!«, sagte er zu Mitt.
»Mir auch«, stimmte Mitt ihm zu. »Zum ersten Mal, seit ich in den Norden gekommen bin, ist mir warm. Ich bin sofort wieder da.« Er nahm sich ein paar eingelegte Zwiebeln – sie schmeckten ihm besser als die Kirschen – und eine Hand voll von dem außen verschimmelten Käse und folgte dem Weg. In seinen Gedanken vermischte sich der Traum mit dem, was er am Morgen gehört hatte, und er wollte allein sein, um nachzudenken. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Er fragte sich beinah, ob er nicht einfach davongehen sollte. Er kam an einen anderen Weg und schlug ihn ein, weil er schmal war und keine Mauern hatte und er sich dort freier fühlte. Der Weg stieg an, bis Mitt zwischen niedrigen Hecken durch warmen Wind ging und zu beiden Seiten Kornfelder sah. Beide Äcker waren graugrün, wie die See über dem Sand tückischer Untiefen. Die Gerste auf der rechten Seite wiegte sich im Wind, grüne Wellen liefen über seidiges Weiß, als blickte er tatsächlich auf ein Meer. Der Weizen links stand steifer, und der Wind schabte darin, als blase er über Dachschindeln. Doch der Landgeruch passte nicht zum Meer, er war staubig und saftig.
Mitt befiel ein großes Heimweh. »Lodernder Ammet!«, rief er. »Warum habe ich je die Küste verlassen?«
»Du weißt doch, dass du keine andere Wahl hattest«, antwortete ihm jemand.