16.

Mitt riss den Kopf herum. Ein hochgewachsener goldener Mann kam den Weg entlang auf ihn zu und beugte mit einem ernsten, grüßenden Nicken den Kopf. Zu dieser Jahreszeit war das Gesicht des Alten Ammet weder alt noch jung. Er hätte im gleichen Alter wie Navis sein können, nur das lange goldene Haar, das ihm um Kopf und Schultern flatterte, ließ ihn jünger erscheinen.

»Jetzt also kommst du«, sagte Mitt. »Warum müsst ihr Unvergänglichen mich ständig herumkommandieren?«

»Es liegt nicht an uns, Alhammitt«, antwortete der Alte Ammet. »Die Zeiten kommandieren uns herum. Und ich sollte dich daran erinnern, dass du, als du dich für die Straße des Windes entschieden hast, gleichzeitig zugestimmt hast, der Grünen Straße zu folgen.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Mitt. »Seit ich mich darauf eingelassen habe, gab es noch keine Gelegenheit zum Aussteigen. Trotzdem muss ich ständig Entscheidungen treffen! Und jedes Mal, wenn ich mich entscheide und versuche, das Richtige zu tun, wendet sich alles gegen mich und will mich zum genauen Gegenteil zwingen. Der Eine riet Noreth heute Morgen, mich umzubringen – und Navis und Moril dazu. Sag mir mal, was ich deswegen unternehmen soll!«

Der Alte Ammet blickte ihn mit einem Ernst an, der Mitt plötzlich sehr an Wend erinnerte, nur dass der Alte Ammet im Wind flatterte und raschelte. »Ich bin nicht hier, um dir zu sagen, was du tun sollst.«

»Nein«, sagte Mitt bitter. »Ihr Unvergänglichen gebt niemals eine offene Antwort. Ihr kommandiert nur herum.«

»Mir steht es nicht zu«, sagte Ammet, »unseren Groß-Vater infrage zu stellen, den ihr den Einen nennt. Sein Gesetz bestimmt, dass wir seiner sterblichen Familie nicht sagen dürfen, was sie tun soll. Damit würden wir die Menschen zu Marionetten machen.«

»Dann hat der Eine soeben sein eigenes Gesetz gebrochen«, erwiderte Mitt.

»Ich bin gekommen, weil ich dir sagen will, dass du gerade darüber nachdenken solltest«, sagte Ammet.

Während Mitt diesen Satz verdaute, herrschte Schweigen, das erfüllt war vom warmen Wind und dem Rascheln und Flattern von Ammets weißblondem Haar. »Das verstehe ich nicht«, sagte er schließlich. Als er aufblickte, sah der Alte Ammet ihn so freundlich an, dass er sich ganz schrecklich fühlte.

»Ich möchte dich daran erinnern, dass wir dir unsere Namen gaben, damit du sie in der Not aussprechen kannst«, sagte der Alte Ammet.

Mitt nickte. Er spürte, wie sein Gesicht sich von ganz alleine verzog. Er wusste in der Tat vier Namen, die größeren und geringeren Namen des Alten Ammets und Libbi Biers, und hatte sie in eine Ecke seines Verstandes verbannt. Dieser Teil seines Verstandes fühlte sich an wie ein kranker Zahn, an dem man immer wieder mit der Zunge tastet, obwohl man genau weiß, dass es wehtun wird. »Du meinst, ich sollte deinen größten Namen zu ihr sagen?«

Ammet lachte. Es war, als hätte der Wind zu einer warmen Bö aufgefrischt. »Diesen Namen sollte man nicht leichthin benutzen. Es werden noch viele lange Jahre vergehen, bevor du meinen Großen Namen sagen musst. Aber du kennst drei andere. Ich bin hier, um dir zu sagen, dass eines Tages Oreths Schild wieder ganz mit Äckern wie diesen bedeckt sein könnte, wenn du die drei Namen richtig nutzt.«

Er breitete die Hand aus, um Mitt auf die wiegende Gerste und den steifen raschelnden Weizen aufmerksam zu machen.

Mitt betrachtete sie wehmütig und dachte an den Hof, den er vielleicht einmal besitzen würde. »Das würde dir gefallen, oder?«, fragte er.

»Uns würde es gefallen, Alhammitt«, stimmte der Alte Ammet ihm zu. Er lächelte Mitt eher traurig über die Schulter mit dem wehenden Haar hinweg an, während er um eine Ecke des Weges verschwand.

Mitt blieb einen Moment stehen und sah ihm hinterher. Der Weg führte schnurgerade zwischen den beiden Feldern hindurch. Dann seufzte Mitt und wandte sich zum Gehen.

Moril stand wenige Schritt hügelabwärts. Einen Moment lang starrten sie sich gegenseitig in die Augen. Dann befeuchtete Moril seine Lippen und räusperte sich. Dennoch erklang seine Stimme kratzig vor Ehrfurcht. »Wer … wer war das?«

»Der Alte Ammet«, antwortete Mitt. »Der Erderschütterer.« Seine Stimme war in keinem besseren Zustand. »Was machst du hier?«

»Du hattest vergessen, dir Brot mitzunehmen«, sagte Moril.

»Es sah doch schon heute Morgen aus wie ein verdammter grauer Stein«, entgegnete Mitt. »Inzwischen hat es bestimmt Würmer.«

»Na ja, ich habe dir jedenfalls …« Moril wollte ihm das Bündel hinstrecken, hielt aber mitten in der Bewegung inne und starrte es an. Er schlug das Tuch beiseite und hielt einen krustigen Laib frischen Brotes in der Hand. Mitt roch, wie frisch es war, denn der Wind trug den Duft heran. Er blickte bedauernd auf den Käse und die Zwiebeln, die er noch nicht angerührt hatte. Die Zwiebeln waren die Gleichen wie vorher, doch das Stück Käse war wieder hell und frisch. Es roch genauso verlockend wie das Brot.

Er hielt ihm Moril hin. »Möchtest du etwas?«

Moril nickte. Er rückte die Quidder auf seinem Rücken zurecht und setzte sich an die Hecke. Während Mitt sich neben ihn niederließ, kam ihm der Gedanke, dass die Quidder für Moril fast ebenso sehr einen kranken Zahn bedeutete wie für ihn die vier Namen – und ihm noch mehr zur Last fiel. Seit Hestefans Drohung, ihm das Instrument wegzunehmen, hatte Moril es kaum einmal aus den Augen gelassen.

Sie brachen das knusprige frische Brot entzwei, teilten den Käse in zwei Hälften und aßen wie die Wölfe. »Trotzdem«, kam Mitt auf das zurück, was Moril zuerst gesagt hatte, »sieht es dir gar nicht ähnlich, mir Brot hinterherzutragen.«

»Ich wollte dich nicht bespitzeln«, entgegnete Moril mit so viel Würde, wie sie jemand aufbringen kann, der gerade auf einer eingelegten Zwiebel kaut. »Ich habe ihn nur gesehen, aber kein Wort gehört von dem, was er sagte. Und er muss gewusst haben, dass ich da war, wegen dem Brot.«

»Und?«, fragte Mitt.

»Irgendetwas stimmt nicht«, sagte Moril. »Heute Morgen habe ich oben auf den Steinen gelegen, um mich etwas aufzuwärmen. Ich hörte, wie diese Stimme ihr befahl, uns umzubringen.«

Mitt verging der Appetit. »Und weiter?«

Moril schluckte die Zwiebel herunter, als wäre es ein Klumpen in seiner Kehle. »Ich hatte sie schon früher einmal gehört. Ich hörte, wie sie ihr riet, des Adons Gaben zu suchen. Damals erschien mir alles goldrichtig.«

Mitt aß weiter, obwohl ihm der Appetit vergangen war. Wer als Holander Armeleutekind aufgewachsen war, ließ keine Gelegenheit aus, etwas in den Magen zu bekommen. »Und was hältst du davon?«

Moril aß ebenfalls nur, weil er es für seine Pflicht hielt. Auch Barden machten schwere Zeiten durch. »Ich glaube«, sagte er, »dass es nicht der Eine ist, der da zu ihr spricht.«

Mitt wusste sofort, dass der Alte Ammet ihn deswegen so freundlich angeblickt hatte. Am liebsten hätte er gar nicht darüber nachgedacht. »Wer soll es dann sein?«

»Kankredin«, sagte Moril.

Nun war es heraus. Mitt nickte. »Ich glaube, du hast Recht. Du weißt, was das bedeutet?«

»Er begann zu ihr zu sprechen, als sie noch klein war, und formte sie allmählich hier und heute«, sagte Moril nachdenklich. »Er ist körperlos, deshalb gibt er sich für den Einen aus.«

»Wahrscheinlich, aber das meinte ich nicht«, sagte Mitt. »Denk doch nur mal darüber nach, was es bedeutet, wenn Noreth Königin wird. Sie ist vielleicht wirklich ein guter Mensch, aber wohin sie auch geht, folgt ihr diese Stimme, die ihr Kankredins Wünsche einflüstert. Und sie wird ihm gehorchen. Sie tut es die ganze Zeit.«

»Aber heute Morgen«, wandte Moril ein, »klang sie eher so sarkastisch wie dein Navis.«

»Vielleicht, aber trotzdem wird sie am Ende tun, was Kankredin verlangt«, entgegnete Mitt. »Siehst du es denn nicht? Er formt sie, wie du gesagt hast. Er sagt ihr, sie wäre die Tochter des Einen und würde Königin werden, und sie macht sich auf den Weg, um sich die Krone zu holen. Nach allem, was wir jetzt wissen, hat sie darauf aber keinen besonderen Anspruch. Alk meinte das auch. Das bedeutet, unsere ganze Reise ist nicht mehr wert als eine Wagenladung alter Holzäpfel.«

»Und was unternehmen wir nun?«, fragte Moril.

Mitt zeigte sein freudlosestes Lächeln. »Sieht fast so aus, als täte ich am besten, was die Gräfin und dein Keril von vornherein von mir wollten: sie irgendwie umbringen. Das ist vielleicht ein Lacher!«

Mitt fand es schrecklich, diese Worte auszusprechen; er hätte sich fast daran verschluckt und rief sich die nervöse, sommersprossige Noreth vor Augen – die ihn immer mehr anrührte, je besser er sie kennen lernte – wie verängstigt sie gewesen war, als der Mann sie in der Rechtsakademie angriff. Mitt staunte noch immer, wie sehr erschrocken sie gewesen war. Wenn sie herausfand, dass Mitt es auf sie abgesehen hatte, wäre sie genauso erschrocken – oder sogar noch stärker.

Er war tiefgehend erleichtert, als Moril ruhig und bestimmt »Nein« sagte.

»Aber wir müssen sie aufhalten«, wandte Mitt hoffnungsvoll ein.

»Ja, aber wenn sie stirbt«, entgegnete Moril, »würde sich Kankredin dann nicht einfach jemand anderen nehmen? Jemanden, der mehr … du weißt schon … der rücksichtsloser ist?«

Wie Navis, dachte Mitt. Das wäre schlimmer. Diese Vorstellung zerriss ein für alle Mal die geistigen Fesseln, die Keril und die Gräfin ihm angelegt hatten. »Dann müssen wir sehen, wie wir Kankredin selbst angreifen können.« In diese Richtung hatte der Alte Ammet seine Gedanken leiten wollen, begriff er. »Kann deine alte Quidder uns dabei irgendwie helfen?«

Moril legte das Kinn auf die Knie. Während er nachdachte, spielte er mit dem letzten Stück Brotkruste. »Es muss Wahrheit sein«, sagte er. »Ich glaube, wenn wir ihn wieder erwischen, wie er zu ihr spricht, könnten wir ihn zwingen, in seiner wahren Gestalt zu erscheinen. Wäre das genug?«

»Das könnte schon reichen!«, rief Mitt. »Ich habe den ein oder anderen Namen im Ärmel, den ich gegen ihn benutzen könnte, sobald ich weiß, wo er wirklich ist.«

Moril schob sich das Brotstück in den Mund. »Das habe ich gehofft«, sagte er kauend. »Es gibt Geschichten über dich.«

Sie standen auf und klopften sich die Krümel von der Kleidung. »Pass nur auf, dass du Kankredin nicht irgendwie warnst.«

»Wofür hältst du mich?«, fragte Moril. Sie grinsten sich an, Verschwörer, die mit ihrer Rolle überhaupt nicht glücklich waren.

Während sie durch das raschelnde Korn zurückgingen, dachte Mitt: Am schlimmsten von allem ist, dass ich sie vielleicht doch töten muss, wenn unser Plan schief geht. Die heiße Sonne drückte ihn nieder wie ein Gewicht. Er fühlte sich, als trauere er schon.

Die anderen warteten ungeduldig unter der Esche. Fast einstimmig fragten sie: »Wo wart ihr denn?« Den Rest des schlechten grauen Brots hatten sie in den Graben geworfen. Mitt und Moril blickten sich schuldbewusst an.

»Wir haben uns verlaufen«, sagte Moril. »Wir wollten zu einem Bauern und nach Brot fragen.«

»Erzähl das deiner Großmutter«, entgegnete Noreth. Während sie aufstiegen, bemerkte Mitt, dass sie zwischen ihm und Moril hin und her blickte und sich fragte, was sie wohl geplant hatten. Sie wirkte wieder sehr nervös und ihre Sommersprossen traten umso deutlicher hervor. Mitt wusste, dass er irgendetwas unternehmen sollte, doch Gräfin mochte die Hitze nicht und hielt ihn den ganzen langen, strahlenden Nachmittag beschäftigt, indem er scheute und sich sträubte. Trotz seiner Warnung Moril gegenüber hätte er am liebsten zu dem Tier gesagt: ›Kopf hoch! Wenn du nach Karnsburg kommst, trägst du meine Leiche!‹ Er stellte sich vor, wie er tot auf dem Pferd lag, die reglosen Hände baumelten auf einer Seite herunter, auf der anderen die schlaffen Beine mit Stiefeln daran; durch die Hitze begann er bald zu stinken. Er musste sich fest auf die Zunge beißen, um nichts zu sagen.

Maewen und er wechselten kein Wort miteinander, bevor sie das Nachtlager aufschlugen – auf einer Wiese voller Kuhfladen, unweit eines Bauernhofs. Während Navis und Wend zum Bauernhaus gingen, um etwas Brot zu kaufen, kümmerten sich Mitt und Maewen um die Pferde. Mitt holte tief Luft und fragte: »Sprechen wir nicht mehr miteinander, oder was ist los?«

Sie fuhr zusammen und wandte sich ihm dankbar zu. »Ja. Wahrscheinlich. Du musstest nicht unter diesem Baum warten und zuhören, wie Navis und Hestefan sich gegenseitig sarkastische Bemerkungen an den Kopf warfen.«

Obwohl Mitt glaubte, dass noch mehr dahinter steckte, sagte er: »Wenn du das Pferd von jemandem erschießt, wird er dich wohl kaum mögen.« Er sah Hestefan zu, der umständlich die Wagenräder abwusch. »Wenn Hestefan kein Barde wäre, dann würde er bestimmt an der Schule unterrichten und allein in seinem Haus leben und die Tür hinter sich verrammeln.«

»Genau! Das würde er!«, rief Maewen entzückt.

Danach schwatzten sie unbeschwert miteinander, bis Wend und Navis mit Kannen voller Milch und die Arme voll Brot und Käse zurückkehrten. Maewen sagte schuldbewusst: »O je. Ich wette, Navis hat dafür bezahlt. Ich hasse es, wie wir alle auf seine Kosten leben.«

Mitt zerbrach sich darüber weniger den Kopf. »Na, wir können schließlich kaum jedem mit einer goldenen Statue zuwinken«, sagte er.

Diese Bemerkung war ein Fehler. Maewen blickte ihn nervös an, ihre Sommersprossen leuchteten, und sie ging zu Navis. Mitt seufzte. Dennoch achteten Moril und er darauf, immer in Maewens Nähe zu bleiben für den Fall, dass die Stimme sie wieder ansprach. Doch während der ganzen Nacht geschah nichts.

Nach ihrem Aufbruch am nächsten Morgen wurden die Höfe wieder seltener und machten Platz für Farnkraut und verstreute Felsen. Der Schild fiel in einer Reihe von Wellen nach Wassersturz und zur Küste hin ab, und mit den Wellen führte die Grüne Straße aufwärts, über eine Kuppe und wieder abwärts. Auch der warme, juckende Regen kam und ging schwallartig. Wenn man zurückblickte, sah man die Schauer als weiße Wand, wie ein Gespenst, das eine Treppe hochsteigt, immer höher in die Richtung ziehen, aus der man gekommen war, bis sie sich schließlich in der grünen Ferne verloren.

Am Nachmittag blickte Mitt gerade dem jüngsten Schauer hinterher, nachdem er vorher beobachtet hatte, wie er zu ihnen hinaufkletterte und über sie hinwegspülte, als er glaubte, er sehe einen dunklen Fleck ganz oben an der Kuppe, wo Straße und Regen außer Sicht verschwanden. Als er das nächste Mal hinschaute, war der Klecks noch deutlicher zu erkennen; hoch über ihnen bewegte er sich zitternd vorwärts.

»Ach du je«, sagte er. »Sieht so aus, als ob uns da ein Trupp Reiter folgt.«

Jeder riss den Kopf herum. Hestefan und Moril beugten sich links und rechts aus dem Wagen. Genau davor hatten sie sich alle gefürchtet.

»Es scheinen wenigstens zwanzig zu sein«, sagte Wend.

»Sie reiten sehr geordnet«, sagte Navis. »Ein Trupp disziplinierter Gefolgsleute, würde ich sagen. Erkennt jemand ihre Montur?«

»Zu weit entfernt«, sagte Hestefan.

»Aber sie holen rasch auf«, sagte Moril.

»Und wenn wir sie sehen können«, fügte Navis hinzu, »müssen sie uns auch entdeckt haben.« Er drehte sich Wend zu. »Gibt es vielleicht eine Stelle in einer Senke, wo wir die Straße verlassen können, ohne dass sie es bemerken?«

Wend verzog besorgt das ernste Gesicht. »Nicht auf den nächsten Meilen.«

»Dann steig in den Wagen«, sagte Mitt. »Wir müssen machen, so schnell wir können.«

Wend nahm drei Schritte Anlauf, sprang hinten auf den Wagen und kroch unter die Plane. Hestefan gab dem Maultier die Peitsche zu schmecken. Der Wagen ratterte eilig die nächste Anhöhe hinauf, und die übrigen hielten Schritt. Maewen kam ihr Tempo unerträglich langsam vor. Das Maultier gab sich alle Mühe, doch der Wagen war schwer, und bei jeder langen, unerbittlichen Steigung wurde das Gespann schrecklich langsam. Maewen bekam Nackenschmerzen, weil sie sich so oft umblickte. Die Reiter holten ständig auf. Jedes Mal, wenn sie hinsah, lagen weniger Hügel zwischen ihnen. Nach einiger Zeit war zu erkennen, dass es tatsächlich nur fünfzehn Mann waren. Doch wie Mitt sagte, gegen sechs waren das mehr als genug.

»Vielleicht sind sie gar nicht hinter uns her«, sagte Maewen hoffnungsvoll.

»Würdest du darauf wetten?«, entgegnete Navis. »Unter uns gesagt, wir führen einen gestohlenen Ring und einen gestohlenen Kelch mit uns und schüren außerdem den Aufstand. Ich wünschte, ich könnte die Montur erkennen. Dann hätten wir wenigstens einen Anhaltspunkt.«

Und ein gestohlenes Pferd, dachte Maewen reuevoll und blickte auf die Ohren des geduldigen Tieres, von dem sie gehofft hatte, es gehöre Noreth. Würde man in diesen Zeiten einen Pferdedieb von Adenmund bis hierher verfolgen? Sie wünschte, sie könnte es sagen.

»Vielleicht glaubt jemand, wir würden Hildi mitschmuggeln«, sagte Mitt und drehte sich im Sattel um. »Sind sie aus Hannart?«

Die weißen Regenschleier blendeten sie. Kein einziges Mal konnten sie die Reiter besser denn als wabernden dunklen Fleck erkennen, aber sie sahen sie fast immer. Wenn der Wagen in eine Vertiefung fuhr, wallte der Fleck auf der Kuppe einer Erhebung, und wenn der Wagen sich aufwärts kämpfte, hatten die Verfolger bereits die nächste Senke durchquert und gerieten wieder in Sicht. Sie kamen immer näher.

Navis musterte ununterbrochen die Umgebung. Links stieg das Land zunehmend steil an, rechts war es etwas flacher. Zumeist war der Boden von mannshohen Farnkräutern bedeckt. Wenn sie die Straße verließen, würde der Wagen eine Schneise in den Bewuchs schlagen, der selbst ein Blinder folgen konnte.

»Wie weit noch?«, rief Navis Wend zu.

»Nur bis zum Fluss«, antwortete Wend. »Nicht mehr weit.«

Als sie die letzte Steigung hinunterfuhren und das Flüsschen entdeckten, das die Grüne Straße schnitt, waren die Reiter nur noch drei Wellen hinter ihnen, fast unsichtbar unter der letzten Regenwolke. Während der Wagen in das nasse Flussufer platschte, folgte dem Regen schwaches Sonnenlicht und färbte alles golden-weiß.

Wend beugte sich hinten aus dem Wagen. »Wartet kurz«, rief er. »Würdest du jetzt einmal deine Quidder spielen?«, fragte er Moril.

Moril beugte sich ebenfalls heraus und sah ihn an. »Wäre das jetzt wichtig?«

»Ja.« Wend sprang ins schmatzende Gras. »Spiel irgendetwas über die Hexe Cennoreth, das dir einfällt«, sagte er und ging zum Kopf des Pferdes.

Moril öffnete die Hülle der Quidder und zupfte eilig den Refrain von ›Der Weberin Lied‹:

Zieh das Schiffchen, wirf das Schiffchen,

Flechte dicht das Garn.

Während Moril mit der Melodie der Verse begann, führte Wend Maultier und Wagen in einem Halbkreis.

Das Gespann platschte laut im Wasser umher und schwankte wild, bis es schließlich nach links gegen die Flussrichtung zeigte.

»Folgt mir stromaufwärts«, sagte er zu den anderen über die Musik hinweg.

Ohne große Hoffnung ritten sie hinter ihm auf dem nassen Gras des Uferstreifens. Das Licht war heller und goldener als zuvor. Mitt blickte auf die Spuren des Wagens und die Hufabdrücke der Pferde und dachte, dass die Reiter sie selbst dann nicht verlieren würden, wenn erneut ein Regenschauer niederginge. Maewen fragte sich, ob Moril in der Eile die Melodie falsch spielte. Sie kannte ›Der Weberin Lied‹ und hatte noch nie davon gehört, dass es etwas mit der Hexe Cennoreth zu tun haben sollte. Navis versuchte beim Reiten immer wieder nach hinten zu schauen, doch das ansteigende Land verdeckte ihm fast augenblicklich die Sicht.

»Da bleibt uns wohl nur, auf ein Wunder zu hoffen«, brummte er.

Der rasenartige Uferstreifen wurde zu einem richtigen Weg, der zwischen Farnkraut und Felsbrocken leicht anstieg. Während der Wagen über die etwas höhere, steinigere Hälfte klapperte, hörten sie alle deutlich das Trommeln mehrerer Dutzend Hufe, das Klirren von Zaumzeug und Kettenrüstungen sowie einige Rufe. Navis zügelte seine Stute, zog resigniert die Pistole und spannte den Hahn. Weiter oben zockelte der Wagen weiter, und Moril spielte unablässig.

Zu aller Erstaunen hielt das Hufgetrommel kaum inne. Es wurde langsamer und zerfiel zu einzelnen Geräuschen, die jedoch vom Wasserplatschen und dem Klackern beiseite getretener Steine übertönt wurden: Die Reiter durchquerten den Fluss. Dann ertönte wieder das einheitliche Donnern der Hufe und verschwand langsam in der Entfernung.

»Sie haben uns verloren!«, rief Mitt. Er konnte es kaum fassen.

»Wir wollen hoffen, dass sie nicht zurückkommen, bevor wir endgültig außer Sicht sind«, sagte Navis und lenkte sein Pferd wieder auf den Weg.

Oberhalb des Geröllfeldes war der Fluss nur noch ein Bächlein, der einem beachtlich großen See entsprang. Wie eine hohle Hand umschlossen steile schwarze Felsspitzen das Gewässer. Die Ufer waren sumpfig, doch der Weg wich dem Matsch aus, indem er höher anstieg und zwischen hohen Binsen hindurchführte. Maewen erlag der Versuchung, sich zur Seite zu beugen und mit der Hand durch die fedrigen Köpfe zu streichen. Hier wuchs die duftende Abart der Binsen. Dichte Pollenwolken füllten die Luft mit einem lieblichen Wohlgeruch, der mit nichts zu vergleichen war, was Maewen kannte. Mitt musste niesen. Navis galoppierte unter einer riesigen Pollenwolke durch die Binsen und schloss zum Wagen auf. Moril hatte mittlerweile aufgehört zu spielen.

»Weißt du bestimmt, dass wir hier sicher sind?«, fragte Navis Wend.

»Aber ja, Herr«, antwortete Wend. »Wir sind nun in der Sturzbachau. Meine Schwester hat hier ihren kleinen Hof, da findet uns niemand.« Auf seine verhaltene Art lächelte er und deutete auf den See, wo eine Anzahl dicker weißer Enten neben einem Flecken aus Unkraut mit weißen Blüten schwammen. »Das sind die Entchen meiner Schwester.« An der Art, wie er lächelte, glaubte Maewen zu bemerken, dass dieses Wort zwischen ihm und seiner Schwester eine besondere, scherzhafte Bedeutung besitzen musste, die nur den beiden bekannt war.