8.
»Meinen Glückwunsch, Noreth«, sagte Navis, als sie von Kredinstal fortritten. Hinter ihnen schwankte und ächzte Hestefans Wagen unter der Last ihrer Vorräte. »Sag, beabsichtigst du, in jedem Tal, an dem wir vorbeikommen, Leute für dein Heer anzuwerben?«
Maewen hatte schon befürchtet, dass er ihr diese Frage stellen würde. Während Mitt und Navis umhergeritten waren, sich Käse und Hafersäcke aussuchten und scharenweise magere, an den Beinen hochgehaltene Hühner zurückwiesen, hatte Maewen endlich gründlich nachdenken können. »Eher nicht«, antwortete sie bedachtsam. »Kredinstal war ein Sonderfall. Nun weiß man ja, dass ich ein Heer brauche. Es wird sich schon herumsprechen.«
»Ich bewundere deine Zuversicht«, entgegnete Navis. »Dann werden wir also …«
»Und ich bewundere die Tüchtigkeit, mit der du uns Vorräte beschafft hast«, unterbrach Maewen ihn rasch, damit er das nicht sagen konnte, von dem sie wusste, dass es als Nächstes käme.
»Das war nicht schwer. Schon vor deiner Geburt war ich Offizier in Holand«, sagte Navis. »Allerdings habe ich erst während des vergangenen Jahres in Adenmund gelernt, zehn Dinge auf einmal zu erledigen«, bemerkte er. Und dann, als Maewen sich schon sicher war, sie hätte ihn von dem abgelenkt, was er hatte sagen wollen, fuhr er fort: »Aber was ich dich eigentlich fragen wollte – du planst also, die Monate bis nach der Ernte damit zu verbringen, nach bestimmten Gegenständen zu suchen, die deinen Anspruch untermauern? Was sind denn diese Gaben des Adons?«
Maewen unterdrückte ein Seufzen. Andererseits wurde man nicht Herzog von Karnsburg, wenn man sich leicht ablenken ließ. Dummerweise wusste sie über des Adons Gaben nicht mehr als Navis. »Ich glaube«, beschied sie ihm, »da solltest du dich an Hestefan wenden. Über solche Dinge wissen Barden immer ein wenig mehr als andere Menschen.«
»Das werde ich«, sagte Navis. »Du bist dir aber doch bewusst, dass kein einziger Graf sonderlich erfreut sein wird, wenn er erfährt, dass du auf den Grünen Straßen umherziehst? Drei Monate verschaffen ihnen mehr Zeit als genug, um Pläne gegen dich und deinen Anspruch zu schmieden.«
Maewen wusste, dass er Recht hatte. Sie hatte überlegt, ob sie darauf fromm entgegnen sollte, der Eine werde es schon richten, doch sie wurde das Gefühl nicht los, Navis würde sie dafür auslachen. Deshalb tat sie das Einzige, was ihr noch eingefallen war, und schenkte ihm ein geheimnisvolles, wissendes Lächeln – zumindest hoffte sie, dass es ihr gelang – und fragte ihn, was ihn in den Norden verschlagen habe.
Aus dem, was er berichtete, schloss sie, dass er auf abenteuerliche Weise einer drohenden Gefahr in Holand entflohen war, doch er sprach davon nur leichthin und in bruchstückhaften Andeutungen, als erzähle er einen Scherz und nicht von einer Flucht, bei der es um das nackte Leben ging. Maewen begriff nie ganz, worin die Gefahr eigentlich bestanden hatte. Mitt war er auf den Heiligen Inseln begegnet. »Mitt schien mit den Unvergänglichen zu tun zu haben. So etwas ist für mich zu hoch«, sagte Navis.
Er ließ sich so leicht ablenken, dass Maewen schon beinah traurig zumute war. Sie wusste, er gestattete ihr, das Thema zu wechseln, und das konnte nur bedeuten, dass ihm eigentlich gleichgültig war, was sie in den kommenden drei Monaten unternahmen. Jemand wie Navis schloss sich solch einem Zug nicht ohne eigene Gründe an. Maewen hegte den Verdacht, dass Mitt und er sie verlassen würden, sobald diese eigenen Gründe sie in eine andere Richtung führten.
»Mach dir keine Sorgen, Noreth«, sagte Navis. »Ich habe deiner Tante versprochen, auf dich Acht zu geben. Und ich beabsichtige, jeden Schaden von dir fern zu halten.«
Über diese Erklärung war Maewen noch immer erstaunt, als sie das Nachtlager aufschlugen. Die Straße hatte sie wieder mitten ins Gebirge geführt, durch schmale Einschnitte voller Fichten, und schließlich gelangten sie an eine Art Kreuzung der Grünen Straßen auf einer weiten, hügligen Wiese zwischen Felsspitzen, deren Rand zahlreiche Wegsteine säumten. Sie kampierten auf einer flachen Stelle zwischen den Erhebungen. Offensichtlich lagerten hier häufig Reisende, denn sie fanden eine Feuerstelle, eine erstaunlich saubere Latrinengrube und mehrere kleine Höhlen, die in die Flanken der Erhebungen gegraben worden waren und als Schlafplatz dienen sollten.
»Wo sind wir hier?«, fragte Mitt, während Moril mit Kohlen aus dem Sack, den die Bergleute ihnen geschenkt hatten, ein Feuer entzündete.
Wend antwortete, doch er sprach zu Maewen, als sei Mitt nur ein Dienstbote. »Wir sind in Orilsweg, Herrin.«
Orilsweg!, dachte Maewen. Aber hier bin ich doch mit dem Zug durchgefahren. Hier war eine Stadt!
»Orilsweg ist die nördliche Kreuzung«, erklärte Wend und wies auf die verschiedenen Wegsteine. »Hier geht es nach Aberath, der Weg dort führt ins Herz des Nordens und endet in Hannart. Auf dem südöstlichen Weg gelangst du nach Anstal und Loviath, nach Auental und noch weiter, aber ich nehme an, Herrin, dass wir die Straße dort nehmen, die nach Süden führt und bis Wassersturz geht.«
Maewen hob den Kopf und musterte Wends ernstes Gesicht. Immer war er so ernst. Warum kann er nicht einmal ein bisschen auftauen?, fragte sie sich gereizt. »Ich denke nach«, sagte sie. »Morgen früh sage ich euch, welchen Weg wir nehmen.«
Zum Abendessen gab es frisches Brot, Weißkäse und eingemachte Kirschen. Mitt liebte eingemachte Kirschen. So etwas hatte er im Süden nie bekommen. Navis hingegen spuckte seine erste und einzige Kirsche ins Feuer. »Die Kirschernte in Kredinstal muss wohl sehr reichlich ausgefallen sein«, sagte er. »Sie hätten sie für die Vögel liegen lassen sollen. Hestefan, erzähl uns von den Gaben des Adons.«
Hestefan blickte ihn über das Feuer hinweg an. »Jedem im Norden ist die Geschichte wohlbekannt.«
»Aber ich kenne sie nicht«, entgegnete Navis. »Und Mitt auch nicht.«
Mitt warf eine Hand voll Kirschkerne ins Feuer. »Das glaubst aber nur du, Navis! Des Adons Gaben waren die Mitgift Manaliabrids an den Adon. Es sind ein Schwert, ein Kelch und ein Ring, und den Ring hat die Gräfin von Aberath in ihrer Sammlung. Sie sammelt altes Zeug.«
»Der Kelch steht in der Kapelle des Einen in der Rechtsakademie von Auental«, sagte Moril. »Ich habe ihn gesehen, als ich meine Schwester dort besuchen war.«
»Das Schwert ist in der Sturzbachau«, sagte Wend. »Es liegt gut versteckt, aber ich habe es gesehen.«
»Und würden sie wirklich die wahre Königin erkennen?«, wandte sich Navis an Hestefan. »Tankol schien es zu glauben, und er ist von dem pragmatischen Menschenschlag, dessen Ansichten ich ernst zu nehmen pflege.«
Hestefan hatte vom einen zum anderen geblickt und machte auf Maewen sehr stark den Eindruck eines Schullehrers, der vorbereitet vor die Klasse tritt und feststellen muss, dass die Schüler schon alles wissen, was er ihnen beibringen wollte. Er hatte sie an einen Lehrer erinnert, seit sie ihn zum ersten Mal sah – und zwar an Dr. Loviath, der sie im letzten Jahr in Physik unterrichtet hatte, ja, genau an den! Nun sagte er exakt im gleichen autoritären Ton wie Dr. Loviath: »Über die Gaben kursieren zahllose Gerüchte – nichts davon habe ich selbst gesehen, nichts davon hat jemals jemand bewiesen.«
Mitt, der Hestefan für einen rechten Stockfisch hielt, nahm sich noch eine Hand voll Kirschen und sagte: »Alk hat mir erzählt, dass der Ring dem Finger der Richtigen immer passt. Er sagt, ihm passt er nicht, aber der Gräfin, weil sie vom Adon abstammt. Aber es ist ein kleiner Ring, wisst ihr. Ihr müsstet mal sehen, was Alk für Finger hat!«
»Und damit ist es nicht bewiesen«, sagte Hestefan finster. »Barden dürfen immer nur die Wahrheit sagen. Deshalb kann ich mich dazu nicht weiter äußern.«
Moril wirkte verblüfft. »Ja, aber wir können doch wiedergeben, was die Leute sagen«, entgegnete er. »Und ich weiß, dass sie sagen, nur der wahre Erbe des Adons könne das Schwert aus der Scheide ziehen.«
»Ich werde mich nicht weiter dazu äußern«, wiederholte Hestefan.
Maewen versuchte die Wogen zu glätten, indem sie sich erkundigte: »Würdest du mir etwas erklären, das ich mich schon immer gefragt habe? War der Adon ein Unvergänglicher?«
Doch ihr Versuch misslang. Hestefan starrte sie an, wie er sie angestarrt hatte, als sie ihn aufforderte, aus seiner Träumerei zu erwachen. Schließlich antwortete er mürrisch: »Das glaube ich nicht, obwohl er von ihrem Blut war. Aber wie du weißt, starb er zweimal.«
Und noch zwei von uns, die sich nicht leiden können, dachte Maewen: Hestefan und ich. Gründlich verstimmt stand sie auf und setzte sich auf einen Erdbuckel, der eine gewisse Strecke entfernt lag. Von dort sah sie zu, wie das letzte Tageslicht auf den höchsten Gipfeln verblasste. Der Himmel war noch immer silbrig, wirkte aber über dem Lagerfeuer schon recht dunkel; die Berge wurden zusehends blauer und blauer. Was war nur mit ihr los? Was scherte es sie, wenn keiner ihrer Reisegefährten den anderen ausstehen konnte? Sie war eine Hochstaplerin, ein Ersatz, die nach diesem Nachmittag vielleicht schuld war, dass die Geschichte im Kreise verlief.
Ja, das war es wohl. An diesem Nachmittag hatte sie etwas getan, das den Verlauf der Geschichte wirklich beeinflussen könnte. Und deswegen wollte sie, ob es unmöglich war oder nicht, dass Noreths irrwitziges Vorhaben gelang. Sie wollte sich Noreths Ziel zu Eigen machen und es erreichen. Und wer weiß, vielleicht würde sie, wenn es so weit war, die Krone doch nicht zahm an Amil den Großen abtreten. Dann hätte sie die Geschichte wirklich nachhaltig geändert – wenn ihr nur einfiele, wie sie das bewerkstelligen sollte.
»Mit diesen Bergleuten bist du sehr klug umgegangen«, sprach ihr die tiefe, tönende Stimme ins Ohr. »Mein Rat war nicht an dich verschwendet.«
Maewen fuhr zusammen und blickte sich vorsichtig um. Soweit sie im Halbdunkel sehen konnte, war sie auf dem feuchten grünen Buckel allein. Sie sah Hestefan, Navis und Wend im orangeroten Feuerschein sitzen. Außerdem kannte sie nun ihre Stimmen; keiner dieser drei hatte sie angesprochen. Morils Stimme war noch immer hoch, wenngleich rauchig, und Mitts neigte zum Krächzen und Grollen. Das Gespenst hatte sie wieder angesprochen. Gespenster können niemandem etwas tun, doch gefielen Maewen die bläulichen Nebelschwaden gar nicht, die sich in den Zwischenräumen der Bodenwellen sammelten. Sie erhob sich beiläufig und wollte zum Feuer zurückkehren.
»Nun musst du des Adons Gaben erlangen«, sagte die Stimme. Maewen ging schneller, aber sie hörte die Stimme dennoch; Maewen durchliefen tiefe, sehr tiefe Schwingungen. »Finde des Adons Gaben. Sie werden deinen Anspruch beweisen. Zudem geben sie deinen Anhängern eine Aufgabe, und mit deiner Suche verwirrst du die Grafen.«
Genau mit dieser Idee hatte Maewen bereits gespielt. Vielleicht gehörte diese Stimme ja sogar zu ihr. Das hätte alles schlimmer gemacht. »Ich denke darüber nach«, sagte sie und floh.
Am Feuer erhoben sich schon alle und legten sich ohne Hast zur Nachtruhe. Nur von Moril war keine Spur zu sehen. Doch ausgerechnet mit ihm wollte Maewen sprechen. Sie brauchte noch einmal die Zauberkraft seiner Quidder. Hörte sie es da hinter einem der Hügel zur Rechten leise klimpern? Sie eilte in die Richtung, überquerte einen Buckel und wäre, nachdem sie auf der anderen Seite hinuntergestiegen war, fast in Mitt hineingerannt, der genauso allein wie eben noch sie auf dem Boden saß.
Mitt sprang mit einem Laut auf, der wie ein Wiehern klang. Maewen kreischte.
»Vielen Dank auch!«, sagte Mitt. »Das hat mir zum krönenden Abschluss dieses wunderbaren Tages noch gefehlt!«
»Ist etwas?«, rief Navis von der Feuerstelle.
»Nichts!«, rief Mitt zurück. »Ich bin nur wund vom Reiten. Essig!«, sagte er voller Abscheu zu Maewen. »Er hat mich gezwungen, mich in Essig zu setzen. Vielleicht wäre es ohne Essig noch viel schlimmer, aber auf jeden Fall ist es nicht gut für die Laune, das kann ich dir sagen! Und dann kommst du über diesen Hügel gestürmt. Was ist los? Du wirkst so anders als gestern.«
»Ich habe Moril gesucht«, sagte Maewen.
»Er ist irgendwo dort hinten«, sagte Mitt. Als sie einer Rinne zwischen zwei lang gestreckten dunklen Hügeln in diese Richtung folgte, schloss er sich ihr an. »Sieht ein bisschen wie eine Straße aus«, meinte Mitt. »Es sollte mich nicht wundern, wenn hier früher einmal eine Stadt gewesen wäre. Was willst du denn von Moril?«
Neben Mitt zwischen den Hügeln spazieren zu gehen, tat Maewen gut. Darum konnte sie viel müheloser als erwartet zugeben: »Ein Gespenst sucht mich heim. Es spricht zu mir, und beim letzten Mal konnte Moril mir helfen.«
Mitt war ehrlich verblüfft. »Wie meinst du das, ein Gespenst? Gestern Abend hast du doch noch gesagt, dein Vater, der Eine, redete zu dir. Oder war das jetzt eine andere Stimme?«
Hilfe!, dachte Maewen. Warum hat Wend mir das verschwiegen?
»Es … es ist immer sehr beunruhigend, wenn er es tut«, sagte sie.
»So sind die Unvergänglichen eben«, stimmte Mitt ihr zu. »Was hat er gesagt?«
Wie kann er dabei so sachlich bleiben ?, wunderte sich Maewen. Auch wenn wir zweihundert Jahre in der Vergangenheit sind. Sie wusste aber noch, was Navis angemerkt hatte. »Er sagte, ich soll mir des Adons Gaben beschaffen«, antwortete sie. Am liebsten hätte sie Mitt gefragt, ob er glaube, dass die Stimme wirklich dem Einen gehörte, doch Noreth schien ihm dies bereits versichert zu haben; folglich musste sie ihre Zunge hüten. Stattdessen fragte sie: »Wenn hier Orilsweg ist, liegt Aberath nur eine Winzigkeit weiter im Norden. Ich könnte morgen dorthin ziehen und den Ring holen.«
Mitt lachte; ein abgehackter, freudloser Laut. »Da müsstest du aber einen Haufen Glück haben! Sie würden dir auf der Stelle die Kehle durchschneiden lassen, Mädchen. Das weiß ich genau. Ich kenne die Gräfin.«
Maewen begann: »Aber…«, dann sah sie, dass Mitt auch hier wirklich zu wissen schien, wovon er sprach. Zweihundert Jahre vor ihrer Geburt wurden den Leuten tatsächlich noch die Kehlen durchgeschnitten. Grafen konnten sich so etwas ungestraft erlauben. Deshalb schluckte sie den Einwand, der ihr schon auf der Zunge lag, herunter und fragte: »Aber ich brauche diesen Ring. Was soll ich tun?«
»Ich hole ihn dir«, erbot sich Mitt. Für ihn lag auf der Hand, dass Noreth von vornherein auf solch ein Angebot spekuliert hatte. Und gewiss war es ein Kinderspiel. »Ich habe den Ring erst vor zwei Tagen gesehen«, erklärte er. »Ich weiß genau, wo er ist. Wenn ich jetzt losreite, kann ich mich im Dunkeln einschleichen und ihn holen, ohne dass jemand etwas merkt.«
»Aber du bist doch sattelwund«, wandte Maewen ein. »Und dein Pferd ist müde.«
»Das wird dem Gaul eine Lehre sein«, entgegnete Mitt unbekümmert. »Und so schlimm ist es auch nicht. Mir war eben nach Jammern zumute.«
Erst das jedoch war ein wenig geflunkert. Autsch! Lodernder Ammet!, dachte er, während er auf den überraschten und widerspenstigen Wallach der Gräfin stieg, aber er machte keinen Laut. Noreth hob ihr Gesicht zu ihm, und er sah es als blasses, banges Oval in der Dunkelheit leuchten. Sie stand neben dem Erdbuckel, den er zum Aufsteigen benutzt hatte, und machte sich jedenfalls Sorgen um ihn. Während er an dem nur halb sichtbaren Wegstein vorbeiritt, der die Straße nach Aberath kennzeichnete, dachte er, dass sie es sich abgewöhnen müsse, sich um alles und jeden auf der Welt den Kopf zu zerbrechen. Wenn sie erst Königin war, müsste sie davon überschnappen.
Die Grüne Straße war, wie anscheinend alle, glatt und eben und in der Dunkelheit erstaunlich leicht zu verfolgen. Wenn die Unvergänglichen wirklich die Straßen gebaut haben, dachte Mitt, dann waren sie allerdings tüchtig. Nach Jahren der Arbeit in der Werkstatt war Mitt erfreut festzustellen, dass er sich noch immer im Dunkeln zurechtzufinden verstand, wie er es als Fischerjunge gelernt hatte. Meistens tut man es, wie man es den Fledermäusen nachsagt, dachte er. Ganz nach Gefühl. Wann immer die Straße sich krümmte, spürte er, wie die Luft über größeren Felsblöcke strich, und wusste, ob es nach links oder nach rechts ging, auch wenn er den blassgrauen Weg nicht erkennen konnte. Gräfin, das musste er ihm lassen, hatte das gleiche Gespür – aber das merkte er erst, nachdem der Wallach sich herabgelassen hatte loszugehen.
Zuerst aber stellte das Tier sich quer. Nachdem es während der ersten Meile den Kopf hin und her geworfen und zu lahmen vorgegeben hatte, was Mitt mit tief empfundenen Verwünschungen beantwortete, entschied sich das Pferd, ihn dadurch zu überraschen, dass es sich plötzlich zur Zusammenarbeit bereit zeigte. Mit klappernden Hufen kamen sie in einem guten Tempo voran. Um nicht daran denken zu müssen, was aus ihm wurde, wenn man ihn im Herrensitz ertappte, sann Mitt darüber nach, weshalb er diesen Ring für Noreth holen ging.
Selbst wenn er einmal dem Adon gehört hatte, war sich Mitt doch recht sicher, dass es sich um nichts weiter als einen Ring handelte, ganz gleich, was Alk sagte. Die Nordländer konnten ja so abergläubisch sein, wie sie wollten, wenn es sie glücklich machte. Mitt hingegen war von dem Pragmatiker Hobin aufgezogen worden, der in Holand sein Geld als Büchsenmacher verdiente, und darum wusste er, dass nur eine Tugend sich in ein Stück Metall binden ließ: sorgfältig ausgeübtes handwerkliches Können.
Richtig. So viel zum Ring. Nächster Punkt: Glaubte er denn überhaupt, der Eine wolle wirklich, dass Noreth den Ring erhielt?
Diese Frage war längst nicht so leicht zu beantworten. Diesem Einen, um den die Nordländer solch ein Aufhebens machten, war er nie begegnet. Oder doch? Mitt kniff die Augen zusammen und erinnerte sich, wie sie die goldene Statue gefunden hatten. Eine tiefe Stimme hatte laut gerufen: »Dort!« Ganz gewiss hatte sie nicht Noreth gehört, wie er zuerst glaubte. Nun, er wollte unvoreingenommen bleiben. Doch würde der Mächtigste aller Unvergänglichen sich wegen eines Ringes wirklich solche Umstände machen?
Man könnte sagen, dass er hin und her gerissen war. Entwendete er den Ring, wusste die Gräfin, dass sie sich auf ihn als Meuchelmörder nicht verlassen konnte. Das konnte man wohl laut sagen! Dennoch war sich Mitt im Klaren, dass er allein deswegen durch die Nacht preschte, weil Noreth glaubte, sie brauche den Ring. Ihr nervöses, sommersprossiges Gesicht weckte wohl bei jedem den Drang, ihr einen Gefallen zu erweisen. Man erfüllt ihre Wünsche und überlässt es dann Navis, die Folgen abzuwenden, überlegte Mitt gerade, als er den Wegstein oberhalb Aberaths erreichte.
Gräfin wusste genau, wo sie waren. Fröhlich trappelte der Wallach den gepflegten Weg zur Stadt hinab. Mitt bedauerte fast, wie enttäuscht das Pferd war, als er es in den Wald jenseits der ersten Felder führte und – zu seiner Fassungslosigkeit – an einen Baum gebunden zurückließ. Lautstark und unmissverständlich verlieh das Tier seinen Gefühlen Ausdruck, und aus den Ställen in der Stadt antworteten ihm mehrere andere Pferde.
»Sei ruhig!«, fuhr Mitt es an. »Sei still, sonst beiße zur Abwechslung ich mal dich!«
Er eilte weiter; die Felder umging er und näherte sich dem Steilhang. Vorwurfsvolle Pferdelaute verfolgten ihn eine Minute lang und vergingen schließlich in einem Seufzen, das Mitt selbst über diese weite Strecke noch hören konnte. Er grinste und rannte mit langen Schritten. Seine Beine schmerzten, weil sie zu lange um ein Pferd gewickelt gewesen waren, und trotz seiner Schmerzen tat es gut, sie wieder auszustrecken. Wahrscheinlich hatte er es allein dem Essig zu verdanken, dass er überhaupt noch laufen konnte. Er hielt erst inne, als er auf die blasse, wogende See blickte. Dort blieb er stehen, um mit dem Unvergänglichen zu sprechen, den er kannte.
»Alhammitt«, sagte er. »Alter Ammet. Hörst du mich? Ich wäre euch tief verpflichtet, wenn du und Libbi Bier mich im Auge behalten könntet, solange ich im Herrensitz bin. Wenn sie mich dort fangen, dann sitzen nicht wenige Freunde von mir tief in der Tinte.«
Obwohl er vom schimmernden Meer kein Zeichen erhielt, fühlte Mitt sich besser, während er am oberen Rand des Steilhangs entlanghastete. Als er die Stelle erreichte, an der die Kinder häufig an der Wand herumkletterten, schlüpfte er über die Kante und stand rasch auf der freien Fläche vor Alks Schuppen. Es war so einfach gewesen, dass Mitt es kaum glauben konnte.
Und es ging einfach weiter. Mitt schlich sich zwischen den Gebäuden des Herrensitzes von einem wohlbekannten Winkel zum anderen, und niemand rührte sich; kein Geräusch störte die Ruhe außer dem leisen Knirschen unter seinen Sohlen, als er den Kiesplatz vor der Bibliothek überquerte. In den oberen Fenstern brannte hier und da ein Licht. Davon abgesehen, hätte man den Herrensitz für menschenleer halten können. Er fühlte sich an die alten Zeiten in Holand erinnert, als er sich mit einer geheimen Nachricht an fremde Orte schlich. Ja, heute war es wirklich so ähnlich wie damals. Es kam ihm überhaupt nicht vor, als hätte er jemals auf diesem Herrensitz gewohnt. Und damit ist es jetzt auch vorbei, dachte er bedauernd, während er vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, den dunklen Bogengang durchschlich und endlich die Stufen erreichte, die zur Bibliothek hinaufführten.
Oben auf der Treppe angekommen, tastete er die Tür ab, bis er den Griff fand. Sanft, ganz sanft drehte er den großen Ring, bis er die Tür aufdrücken und in den Raum treten konnte, in dem es muffig nach Holz und Büchern roch. In der Bibliothek war es so dunkel, dass Mitt sich allein auf sein Tastgefühl und seine Erinnerung verlassen musste, um die Vitrine mit dem Ring zu finden. Doch weil er das Glas zerbrechen musste, was vielleicht jemand hörte, schloss er die Tür genauso leise hinter sich, wie er sie geöffnet hatte. Dann trat er in den Raum.
Kna-ack!
»Lodernder Ammet!«, murmelte Mitt. »Ich hätte dran denken sollen, wie laut dieser verdammte Boden ist!«
Mit einem metallischen Klappern flammte blendend grelles Licht auf.