3.

Überraschend schnell löste der Tumult sich auf. Mitt hatte seinen Auftrag fast erledigt und begann sich zu fragen, was er nun eigentlich unternehmen sollte, als Navis ihm eine Hand auf die Schulter legte.

»Komm mit in mein Zimmer«, sagte er. »Erzähl mir dort, was es Neues gibt.«

Eigenartig, dachte Mitt, während er mit leicht gesenktem Kopf in Navis’ kühles, ausdrucksvolles Gesicht blickte. Ich wusste gar nicht mehr, dass er so klein ist. »Würde ich gern, wenn ich noch laufen könnte«, entgegnete er.

Navis lächelte ein wenig. »Es ist nicht weit. Tragen kann ich dich aber nicht mehr.«

Er wandte sich um und ging voran. Mitt humpelte ihm murrend hinterher. »Ich kann sehr wohl reiten! Ich bin nur noch nie einen ganzen Tag am Stück im Sattel gesessen!« Sie durchquerten die Halle, die groß war, im Vergleich zu der Halle in Aberath aber ein wenig kleiner und düsterer, und stiegen eine schmale Treppe hoch. Navis’ Zimmer war behaglich und hatte vertäfelte Wände. Es hätte auch Alk gehören können, so komfortabel war es eingerichtet. Typisch, dachte Mitt. Er muss sehr gut mit Baron Stair stehen. »Woher willst du wissen, dass ich dir etwas zu erzählen habe?«

»Sei einen Augenblick lang still«, sagte Navis. Zwei Diener traten ein. Mit breitem Grinsen brachten sie eine große Schüssel mit etwas Saurem, stark Riechendem. Sie stellten sie dort ab, wohin Navis wies; sie bewegten sich langsam, als warteten sie auf irgendeinen Scherz. »Ich danke euch«, sagte Navis, »aber wir würden nun gern allein sein.«

»Was ist das?«, fragte Mitt misstrauisch, während die Diener gingen. Sie grinsten noch immer.

»Essig«, antwortete Navis. »Zieh dein Leder aus und setz dich hinein. Mach schon. Es hilft.«

Mit bösen Befürchtungen tat Mitt, was Navis sagte, und setzte sich in die Schüssel. Im nächsten Augenblick schrie er auf. Er versuchte herauszuspringen, doch Navis hielt ihn mit unerwartet kräftiger Hand fest. Essig schwappte auf die Teppiche, und Mitt brüllte weiter, obwohl er wusste, dass die beiden Diener vor der Tür hockten und sich an jedem Schrei ergötzten. »Lodernder Ammet!«, ächzte er. »Willst du mich zu Tode quälen?«

»Nein«, sagte Navis. Er ließ Mitt nicht los, bis dessen Schreie sich erst zu Keuchen und dann zu einem elenden Schnaufen mäßigten. Dann aber gab er ihn frei und ging zur halb offenen Tür. »Das wäre alles«, sagte er und schloss sie.

Mitt hörte, wie sich Schritte entfernten. »Kann ich jetzt wieder raus?«

»Je länger du drin bleibst, desto eher wirst du wieder reiten können. Sag mir, was du an Neuigkeiten hast, dann kommst du auf andere Gedanken.«

Mitt lag die Entgegnung auf der Zunge, Navis sei so schlimm wie Graf Keril, doch er verbiss es sich, denn er begriff unversehens, dass es stimmte. Auf seine Weise konnte Navis genauso rücksichtslos sein wie Keril. Da kommt das Blut der Grafen durch!, dachte Mitt. Er überlegte noch, ob er Navis überhaupt etwas sagen könne, als Navis hinzufügte: »Ohne einen triftigen Grund haben sie dir doch bestimmt nicht erlaubt, Aberath zu verlassen?« Trotz seiner Kühle schwang in seinen Worten eine sehr starke Verbitterung mit.

Er fühlt sich genauso gefangen wie ich!, begriff Mitt. »Nun, bevor ich anfange, weißt du, wo Hildi ist?«

»In Auental«, sagte Navis. »Aber nach dem einen Brief, den zu schreiben sie so gütig war, frage ich mich schon, ob sie nicht vielleicht auf dem Mond lebt.«

»So einen habe ich auch bekommen«, rief Mitt. »Was für ein Kauderwelsch! Und Ynen? Weißt du vielleicht, wo Ynen ist?«

»Nein«, sagte Navis. Ein kühles Schweigen folgte, dann fuhr er fort: »Nein. Niemand befand es für nötig, mir das zu sagen. Schicken sie dich deswegen zu mir? Um mir zu drohen?«

»Das könnte dazugehören«, räumte Mitt ein. »Sie rechnen wohl damit, dass ich dir davon erzähle. Navis, ich soll das Mädchen namens Noreth für sie töten. Und ich sage dir, ich bin fast den ganzen Weg hierher mit ihr geritten, und sie ist nicht verrückter als ich!«

»Sitz still«, sagte Navis. »Du verschüttest den Essig überallhin.« Er zog einen Stuhl heran und setzte sich vor Mitt und seine Schüssel. »Sag es mir ganz genau: Wer verlangt das von dir?«

»Die Gräfin und Graf Keril«, antwortete Mitt. »Das nenne ich von der Vergangenheit eingeholt werden! Sie wissen alles über mich.«

»Keril«, sagte Navis. »Keril. Mitt, du bist nicht der Einzige, den seine Vergangenheit eingeholt hat. Ich habe einmal sehr viel riskiert, indem ich Keril eine Nachricht sandte, dass seine Söhne in Holand als Gefangene gehalten wurden. Das muss er als Drohung aufgefasst haben. Was hat er gesagt?«

Mitt lehnte sich zurück und berichtete Navis die gesamte Geschichte und auch von seinem Ritt mit Noreth. Er ließ nur aus, wie er den Aden für einen mächtigen Strom gehalten hatte, denn er war sich gar nicht mehr sicher, ob er selbst noch daran glaubte. Während er sprach, stellte er fest, dass ihm ein wenig zum Weinen zumute war, aber nicht wegen dem, was er berichtete, sondern weil Navis ihm ruhig zuhörte und ihn nicht wie den Abschaum der Menschheit behandelte.

»Diese Statue…«, sann Navis. »Da warst du ein wenig zu großzügig. Kannst du sie überzeugen, dir deine Hälfte zu überlassen?«

»Sie entzwei hacken? Wieso das?«, fragte Mitt.

»Wenn sie wirklich aus purem Gold ist, dann hängen wir beide nicht mehr von der Großzügigkeit der Adligen ab. Wir könnten noch heute Abend gehen. Mitt, mir gefällt unsere Lage nicht im Geringsten. Hier in Adenmund hört man sehr viel über Noreth. Die Menschen lieben sie sehr. Wenn ihr irgendetwas zustößt, geht ein Schrei der Entrüstung durch alle Küstentäler bis hinunter nach Königshafen. Du bist offensichtlich ein Südländer, dennoch hetzen sie dich ihr in voller Aberather Montur auf den Hals. Was für ein Spiel treiben sie? Jeder wird wissen, dass Aberath die Hand im Spiel hatte, ganz gleich, wie schurkisch sie dich hinterher darstellen.«

»Ich werde sie nicht töten«, sagte Mitt. »Ich kann ihr nichts antun. Das ist mein letztes Wort. Aber was sollen wir unternehmen?«

»Wir verlassen die Stadt, sobald mir ein Vorwand eingefallen ist, und wenn möglich mit deinem Anteil am Gold in der Tasche. Wir suchen Ynen, wir holen Hildrida von der Akademie und hoffen, dass wir beide finden, bevor Keril etwas merkt.« Navis seufzte. »Dann verstecken wir uns. Bleib deshalb noch sitzen. Du musst gut reiten können.«

Mitt saß noch eine ganze Stunde in der Schüssel. Währenddessen wurde es dunkler in dem großen getäfelten Zimmer, und Regentropfen zeichneten ein Muster auf das hohe Fenster. Frau Eltruda rief lautstark nach Navis, er solle dafür sorgen, dass über dem Hof Planen aufgespannt würden. Navis eilte davon. Als er zurückkam, erhielt er den Auftrag, Kerzen aufstellen zu lassen. Nachdem er diesen Gang erledigt hatte, waren die Wolken vorübergezogen, und rotgoldenes Sonnenlicht fiel in den Raum. Frau Eltruda bellte, dass es doch schön bleiben werde, und Navis eilte davon, um sich um das Einrollen der Planen zu kümmern. Mitt begriff, weshalb Navis bei Baron Stair solch einen guten Stand hatte. Ab und zu kam den Leuten hier im Norden ein wenig südländische Tüchtigkeit wohl gerade recht. Grinsend sah er zu, wie Navis zurückkehrte und sich mit ähnlicher Zielstrebigkeit für das Fest umzog. Unter der blau-grünen Adenmunder Montur trug er ein weißes Rüschenhemd. Wenn man ihm zusah, hätte man nicht gedacht, dass Navis bis auf die letzten Monate sein ganzes Leben lang von einem Leibdiener angekleidet worden war.

»Du kannst jetzt herauskommen und dich waschen«, sagte er.

Mitt gehorchte. Er war überhaupt nicht mehr wund, nicht einmal mehr empfindlich. Seine Haut fühlte sich vielmehr so glatt und ledrig an wie seine lederbraun-goldene Aberather Montur. »Du hast mich eingelegt wie eine Gurke!«, rief er.

»Darum ging’s ja.«

Sie gingen hinunter in den Saal, in dem es nach Essen roch und der voller Gäste war, die im Stehen darauf warteten, dass Baron Stair erschien und das Fest eröffnete. Die großen Türen standen offen, und ein kühler Wind blies herein. Vom Hof kam großer Lärm, denn dort saßen die Einwohner von Adenmund an den Tischen und überbrückten das Warten auf das Essen, indem sie dem Bier zusprachen. Zwischen den vielen Fremden fühlte sich Mitt ein wenig verloren.

»Ach, da bist du ja, Mitt!«, hörte er Riths Stimme.

Mitt drehte sich um und sah sich einer eleganten Dame gegenüber. Er war zutiefst bestürzt. Als Einziges erkannte er das längliche, sommersprossige Gesicht mit dem fröhlichen, zielstrebigen Ausdruck wieder. Nun aber war es von einer Wolke aus hellem, lockigem, zu einer höchst modischen Frisur modelliertem Haar umgeben, und sie trug ein eng geschnittenes graublaues Kleid, das sich in glänzenden Falten um eine durchaus weibliche Figur legte. Mitt bemerkte, dass sie viel älter war als er – wenigstens achtzehn oder zwanzig –, und mehr bedurfte es nicht, dass er sich wie ein Trottel vorkam. Am meisten aber bestürzte ihn, dass Noreth lebendig war, sogar sehr lebendig und warm und – ein Mensch.

»Was ist!«, rief sie. »Hat’s dir die Sprache verschlagen?«

»Äh«, sagte Mitt, »Herrin …«

»Ich habe gesagt, du sollst mich Rith nennen.«

»Ja«, sagte Mitt, »aber … warum hattest du dich als Junge verkleidet?«

»Ich reise immer so«, erklärte Noreth. »So geht es schneller und sicherer als in einer Kutsche, und ich brauche keinen Leibwächter mitzunehmen. Die Montur habe ich von meinem Vetter. Und mit Waffen kann ich auch umgehen. Das lernt man beim Grittling. Aber hör zu …« Zu Mitts Verblüffung streckte Noreth den Arm vor und ergriff seine beiden Hände. Ihre Hände waren stark und warm, aber so klein, dass Mitt sich vorkam, als hätte er zwei große kalte Pranken. »Ich bin sehr nervös«, sagte sie, und das stimmte: Mitt spürte, wie sehr ihre Hände zitterten. »Ich muss etwas Bestimmtes tun. Weißt du, wie es ist, wenn du etwas tun musst, das dein Leben so sehr verändern wird, dass es niemals mehr so sein wird wie vorher?«

»Das kannst du laut sagen!«, entgegnete Mitt. Er spürte, dass Navis hinter ihnen stand und Noreth kühl musterte. Dadurch fiel ihm ein, dass er nach seinem Anteil an der Statuette fragen musste, aber er war zu verwirrt, als dass ihm einfiel, wie er das am besten bewerkstelligen könnte.

»Das Gefühl hatte ich gleich bei dir«, sagte Noreth. »Hör zu, könntest du …« Auf der Estrade wurde es unruhig. Jemand befahl, die Laternen zu entzünden. Noreth blickte sich um. »Ach, da kommt mein Onkel«, sagte sie. »Betrunken wie immer. Ich muss nun gehen. Wenn du so freundlich wärst, den Fund der Statue zu bezeugen, wenn es so weit ist?«

»Sicher«, versprach Mitt, »aber …«

Noreth ließ ihn los und eilte davon. Alles begab sich eilends zu dem langen Tisch und setzte sich. Navis winkte Mitt auf einen Platz neben sich, unmittelbar unterhalb des erhabenen Tisches auf der Estrade. Mitt stellte fest, dass es doch seine Vorteile hatte, nach Adenmund geschickt zu werden. In Aberath hätte er mit den anderen Jungen bei Tisch bedienen müssen. Hier aber war er Gast und konnte sich setzen und von Gleichaltrigen bedienen lassen. Er lehnte sich zurück, entschlossen, es sich gut gehen zu lassen. Das Essen war sehr schmackhaft, auch wenn Mitt sich nicht viel aus der traditionellen Mittsommerwurst machte. Wie so viele Speisen im Norden schien sie ihm vor allem aus Hafergrütze zu bestehen. Es gab aber auch Wildbret und Schwein, Huhn und Rind, dazu Austernpastetchen und Kuchen mit Lamm und Pflaumen, Erdbeeren, Himbeeren mit Weinschaumcreme und süßes, mit Soda gebackenes Brot. Die ganze Zeit kreisten Bier und Weinbrände. Die Stimmen wurden zu einem fröhlichen Grollen, das beinah den noch lauteren Tumult von den Tischen auf dem Hof übertönte. Mitt aß eine Riesenportion und freundete sich mit den Gefolgsleuten an seinem Tisch an. Er musste sich aber viele Witze anhören, in denen es um Essig ging.

Baron Stair war in der Tat schon betrunken, das war unmöglich zu übersehen. Er war ein großer, blässlicher Mann; er lümmelte sich in seinen Sessel, aß nur sehr wenig und brüllte dauernd nach mehr zu trinken. Genauso oft beklagte er sich über das Essen. Niemand schenkte ihm allzu viel Beachtung. Wenn jemand ein Anliegen hatte, so wandte er sich an Frau Eltruda. Es sah ganz so aus, als übe die Gattin des Barons, klein und dick und laut wie sie war, hier die gleiche Macht aus wie die Gräfin in Aberath.

»So ist es auch«, vertraute Navis ihm an. »Ich verdanke meine Stellung hier nur Eltruda. Noreth geht es nicht anders, denke ich.«

Frau Eltruda war offensichtlich sehr stolz auf Noreth. Sie lächelte sie unentwegt voll Stolz an.

Das Festmahl ging mit süßem Rahmkäse und gezuckertem Obst zu Ende, aber Mitt hatte schon so viel gegessen, dass er einfach nichts mehr unterbringen konnte. Baron Stair wurde ungeduldig. Er grollte etwas über »diese elenden faulen Barden!«, und vom Hof hörte man lautes Klappern und Scharren: Die Tische wurden beiseite geräumt. Hestefan erhob sich von seinem Platz am Ende der Halle und stellte sich in die große Türöffnung. Zu Mitts Überraschung stellten sich Fenna und Moril zu ihm.

Navis runzelte die Stirn. »Ich finde, weder das Mädchen noch der Junge sollten hier sein. Sie wirken beide krank. Aber sie müssen wohl lernen, für ihr Brot zu arbeiten.«

Seine Worte gingen im Applaus und den Beifallsrufen fast unter. Niemanden sonst scherte es auch nur im Mindesten, wie es den beiden Barden ging, denn es sollte zum Tanz aufgespielt werden. Auch in der Halle schob man Tische beiseite. Hestefan hängte sich eine kleine Trommel um den Hals, vergewisserte sich, dass Fenna mit ihrer Handorgel bereit war und Moril seine Quidder gestimmt hatte, dann schlug er eine energische Gigue an. Drinnen und draußen griff sich alles einen Partner und tanzte.

Immerfort ging der Tanz weiter. Zuerst lehnte sich Mitt an einen Tisch, fühlte sich ein wenig fehl am Platze und sah zu, wie Navis von Frau Eltruda herumgewirbelt wurde. Beim nächsten Lied allerdings packte ihn eine junge Dame in scharlachroten Bändern, und von da an tanzte er mit. Die Menschen im Saal umwirbelten ihn feurig und ausgelassen. Immer wieder warf er einen Blick auf Navis, der nach wie vor mit Frau Eltruda tanzte, was ihn ein wenig beunruhigte, weil Baron Stair sich nur auf seinem Sessel fläzte und weitertrank. Ein-oder zweimal sah er allerdings, wie Navis auf sehr höfische Weise mit Noreth tanzte. Mitt hätte es nicht gewagt, Noreth um einen Tanz zu bitten; er kannte keinen einzigen Tanzschritt. Die jungen Damen quietschten vor Lachen, wenn sie ihm zusahen, und schoben ihn immer wieder zurecht, aber er machte alles falsch. Jedes Mal, wenn seine verzweifelten, unwissenden Bemühungen ihn in tiefste Nöte brachten, schien er dem Blick Morils zu begegnen, der im Eingang stand und unermüdlich seine Quidder spielte, und dann entdeckte er boshafte Belustigung in Morils Augen. Allmählich wurde Mitt deswegen ärgerlich.

Mitt war überhaupt nicht darauf vorbereitet, als die Barden plötzlich zu einer langsamen, gespenstischen Melodie wechselten und jeder mit dem Tanzen aufhörte. Einen Augenblick lang war Mitt der Einzige, der sich noch drehte. Moril grinste. »Was ist das für ein Lied?«, keuchte Mitt.

»›Bei Mittsommer unvergänglich‹ natürlich«, antwortete das Mädchen mit den roten Bändern. »Wir haben kurz vor Mitternacht.«

Ringsum trennten sich die Tanzpartner, und die Kellner gingen mit Flaschen voll kostbarem Weißwein herum, Wein aus dem Süden, mit dem man die Mitternacht willkommen hieß. Jemand stellte drei Becher davon für die Barden auf die Stufen.

Navis senkte den Kopf über seinen Kelch und sog den Duft tief ein. »Das habe ich wirklich vermisst«, sagte er zu Mitt. »So weit im Norden wächst kein Wein.«

Sie tauschten ein knappes Lächeln des Stolzes auf den Süden, obwohl er sie beide vertrieben hatte. Mitt sagte verwundert: »Das kann doch nicht das Einzige sein, was dir fehlt!«

»Ich glaube doch«, entgegnete Navis. »Hier ist das Leben nie langweilig.« Bei diesen Worten drückte er Mitt den Kelch in die Hand und stürzte zur Tür. Er kam gerade rechtzeitig an, um Fenna aufzufangen, die die schwere Orgel fallen ließ und ohnmächtig wurde. Alles starrte entsetzt, während Navis sich mit Fenna in den Armen Hestefan zuwandte. »Was hast du dir dabei gedacht, das Mädchen heute Abend spielen zu lassen? Konntest du etwa nicht sehen, dass sie krank ist?«

Hestefan sah ihn zögernd und bang an. »Sie hat geschworen, ihr gehe es gut, Herr, und wir brauchten sie für die Orgel. Ich danke dir, dass du sie aufgefangen hast.«

Navis sah Moril an. »Und du? Fühlst du dich auch wohl?«

Morils Gesicht gab kaum etwas preis, doch Mitt merkte ihm an, dass er Navis nicht einmal dann ein Unwohlsein gestanden hätte, wenn er mit zehn gebrochenen Fingern hätte spielen müssen. »Mir geht es sehr gut, ich danke dir«, sagte Moril.

Nun erhob Frau Eltruda die Stimme. Zwei Frauen kamen und brachten Fenna eilig fort. Jemand schob die schwere kleine Orgel neben die Tür. Es war fast Mitternacht. Eine wimmelnde Menge Männer und Frauen sammelten alle Kerzen und Lampen ein, die sie fanden, und stellten sie in zwei langen Reihen auf den Boden, die von den Toren des Herrensitzes über den Hof die Treppen hinauf zu einem Kreis mitten in der Halle führten. Weil es Glück bedeutete, eine Kerze aufgestellt zu haben, rangelten alle außer Baron Stair um die Ehre – und Mitt und Navis, die den Brauch nicht kannten.

»Lasst die Unvergänglichen ein!«, riefen die Leute, als die letzte Kerze aufgestellt war.

Erwartungsvolle Stille trat ein. Vom Hof drang ein lautes Knirschen. Die beiden schweren Torflügel wurden geöffnet. Auf Hestefans Nicken stimmte Moril wieder die langsamen, gespenstischen Akkorde von ›Bei Mittsommer unvergänglich‹ an. Für Mitts Ohren klang es, als spiele er das Lied nun auf eine andere, seltsame Weise. Auf jeden Fall überlagerte nun ein eigenartiges Summen, das immer stärker wurde, die Melodie. Vom Hof blies ein feuchter Windstoß herein. Es regnete anscheinend wieder. Die Kerzenflammen neigten sich. Ein großer wallender Schatten näherte sich über den Boden und wuchs an der Wand dahinter in die Höhe.

Lodernder Ammet!, dachte Mitt, während ihm ein Schauder nach dem anderen den Rücken hinunterlief. Ich glaube, da kommt wirklich wer herein!

Doch dann verkürzte sich der Schatten und sank herab. Mitt sah nun, dass Hestefan ihn verursacht hatte, während er auf dem Kerzenweg näher kam, eine kleine Sopran-Quidder in den Händen. Als er den Lichterkreis erreichte, drehte er sich um und rief aus: »Willkommen seien die Unvergänglichen in diesem Haus, in dieser Nacht und im kommenden Jahr!« Dann spielte er auf der Quidder die gleiche langsame Melodie. Mitt fragte sich, weshalb sie nun so viel gewöhnlicher klang.

Ein dröhnender Stimmenchor entbot den Unvergänglichen seinen Gruß. Es schien Brauch zu sein, den Kelch oder Becher zu neigen und einige Tropfen Wein auf den Boden fallen zu lassen. Navis blickte Mitt an, und Mitt zuckte mit den Schultern. Dann verschütteten sie beide ein wenig Wein und richteten dabei leise ein paar Worte an Libbi Bier. Danach bildeten sich kleine Grüppchen, die sich gegenseitig lautstark Glück fürs neue Jahr wünschten. Einen Augenblick lang sah es so aus, als ginge das Fest zu Ende.

Doch plötzlich riefen alle: »Noreth! Noreth! Noreth, hast du dein Zeichen bekommen?«, und Noreth stellte sich neben Hestefan in den Kerzenkreis. Sie trug die goldene Statue bei sich und hielt sie hoch, dass jeder sie sehen konnte.

»Hier ist mein Zeichen!«, rief sie laut.

Navis murmelte Mitt zu: »Ich glaube, von deiner Hälfte kannst du dich schon einmal verabschieden.« Viele Leute jubelten, doch Baron Stair auf seiner Estrade sagte laut: »Fängt das Mädchen jetzt schon wieder mit ihrem Unsinn an?«

»Pst!«, rief jemand.

Noreth erhob wieder die Stimme. »Würde der Rechtsgelehrte meines Onkels bitte herkommen und sich neben mich stellen? Ich möchte nach Recht und Gesetz eine Erklärung abgeben.«

Auf der Rückseite des Saales erhob sich großes Gemurre. Einer der Männer stand vom hohen Tisch auf und kam, schon recht unsicher auf den Beinen und sichtlich verlegen, herbei und stellte sich zu Noreth. Sie verließ den Lichterkreis und ging auf dem Kerzenweg mit ihm zur Tür. »Ich möchte, dass mich jeder hört«, erklärte sie dem Rechtsgelehrten, als sie an Mitt vorbeigingen. »Mach mich bitte sofort darauf aufmerksam, wenn ich etwas Falsches sage.« Mitt spürte, dass die Wichtigkeit ihres Vorhabens sie zum Zittern brachte. Sein Magen verkrampfte sich.

»Du verschtehschst vom Geschetz genauscho viel wie ich«, beschwerte sich der Rechtsgelehrte, doch er ging und stellte sich neben Noreth, als sie sich in der Türöffnung aufbaute, damit sie zu den Menschen auf dem Hof ebenso sprechen konnte wie zu den Leuten im Saal. Die beiden schoben Moril einfach zur Seite. Mitt sah ihn neben der Tür stehen; er wirkte ehrfürchtig.

Noreth sagte langsam und deutlich: »Ich, Noreth von Kredinstal, bekunde und versichere heute Nacht, dass ich Erbin der Krone und rechtmäßige Königin von Dalemark bin, über den Norden wie den Süden und alle Menschen, die darin leben.«

Es ist wirklich wahr, dachte Mitt traurig. Der Rechtsgelehrte beugte sich vor und murmelte Noreth etwas zu.

»O ja. Danke«, sagte Noreth. »Und über alle Grafschaften und Marken darin, ohne die Grafen dieser Marken und die ihnen unterstehenden Barone auszuschließen. Diesen Anspruch erhebe ich durch meine Mutter, Eleth von Kredinstal, die in direkter Linie von Manaliabrid der Unvergänglichen abstammt, und durch meinen Vater, den Einen, dessen wahre Namen nicht ausgesprochen werden dürfen und von dem alle Könige abstammen. Als Beweis für meinen Anspruch hat mir mein Vater ein Pfand versprochen, das ich am diesjährigen Mittsommer finden sollte, und dieses Versprechen hat er gehalten. Hier ist das Pfand.« Sie hob die goldene Statuette über die nächsten Laternen, damit sie deutlich zu sehen war. »Wer bezeugt«, rief sie aus, »dass mir der Strom Aden heute dieses goldene Abbild meines Vaters, des Einen, gegeben hat?«

Mitt fuhr zusammen und blickte sich nach einem Versteck um. Dann seufzte er und schob sich zur Tür vor. »Wenn ich gewusst hätte, was du meinst, als du mich gefragt hast«, sagte er, »wäre ich auf der Stelle nach Aberath zurückgekehrt.«

Der Rechtsgelehrte nuschelte: »Bezeugscht du dasch?«, und schwankte leicht.

»Sicher«, sagte Mitt voll Bitterkeit. Selbst wenn Keril und die Gräfin persönlich den Erdrutsch verursacht hätten, sie hätten ihn nicht tiefer in die Sache hineinstoßen können. »Auf halbem Weg durch den Bach bin ich über die Statue gestolpert. Sie hat sie aufgehoben. Zufrieden?«

Noreth antwortete ihm mit einem zielstrebigen, aufgeregten Lächeln. Ihre Hände zitterten noch immer, während sie die Statue hochhielt. Sie war außerordentlich nervös. Was sie tat, tat sie nicht etwa, weil sie verrückt gewesen wäre, sondern weil sie es als ihre Pflicht ansah, und vielleicht hatte sie Recht. Mitt sah sich veranlasst, ihr Lächeln zu erwidern, bevor er von ihr abrückte. Hinter Noreth entdeckte er den Bardenjungen, der ihn voller Groll mit Blicken maß. Was glaubt der denn wohl, was ich jetzt gemacht habe?, fragte sich Mitt gereizt.

»Ich rufe euch alle auf«, sagte Noreth, »mich in meinem Anspruch zu unterstützen. Heute Mittag, am Mittsommertag, werde ich aufbrechen und den Grünen Straßen folgen, bis ich an den Ort komme, wo die Krone verborgen liegt, und dort werde ich zur Königin gekrönt werden. Wer immer meinen Anspruch unterstützen und mit mir reiten möchte, trifft sich bei Sonnenaufgang am Wegstein über dem Steinbruch mit mir.«

Erneut herrschte Schweigen, auf das anschwellendes Gemurmel folgte, welches halb zweifelnd, halb begeistert klang. Navis wisperte Mitt zu: »Nun, dann scheint uns nur noch eins zu bleiben.« Mitt nickte, aber seine Aufmerksamkeit galt Moril an der Tür. Er spürte beinahe, dass der Junge soeben eine Art Entscheidung traf. Ja tatsächlich, Moril nahm die Quidder zur Hand und stimmte das Lied an, das ›Des Königs Weg‹ hieß. Hestefan warf ihm einen erstaunten Blick zu, nahm aber die Melodie mit seiner Quidder auf und trat zwischen die beiden Reihen aus tropfenden Kerzen zu seinem Lehrling. Moril beugte sich vor und begann wieder auf die merkwürdige, besondere Art die Saiten zu zupfen. Das Summen schaukelte sich neben der Melodie immer weiter auf, bis es zu mehr geworden war als nur dem Anklang eines Liedes. Mitt spürte eindeutig die ernsthafte Entschlossenheit, die hinter den Tönen dröhnte. Alles sang:

»Wer reitet nun des Königs Weg,

des Königs Weg?

Wer reitet auf der edlen Straß’

Und folgt dem König nun

Der Gesang kam ein wenig aus dem Takt, weil etwa die Hälfte aller Anwesenden versuchte, ›Königin‹ zu singen statt ›König‹, aber trotzdem war er schwungvoll. Mitt kam es vor, als steige ihm das Lied zu Kopf – entweder war es der Gesang oder das Dröhnen von Morils Quidder. Später war sein Erinnerungsvermögen an diese Ereignisse etwas getrübt. Er wusste noch, dass Noreth, die leuchtend in der Tür stand, die schimmernde Statue hochhielt, damit jeder sie sah, während alles sang. Er erinnerte sich, Navis unbehaglich angesehen zu haben, weil das Lied im Süden verboten war, und zu seiner Verwunderung sang Navis mit. Mitt kannte das Lied natürlich, denn er war ein Freiheitskämpfer gewesen, aber Navis war der Sohn eines Grafen, bei Ammet!

Als Nächstes erinnerte er sich, in Navis’ Zimmer zu sein, wo Navis ihn zu überreden versuchte, sich schlafen zu legen. Mitt unterbrach sich mitten im Satz – er schien fortwährend gesagt zu haben: »Das ist ernst, Navis, es war ihr ernst!« –, um einzuwenden, dass er gar nicht müde sei.

»Wie du möchtest«, entgegnete Navis. »Bis Sonnenaufgang sind ohnedies nur noch wenige Stunden.« Mitt glaubte, war sich aber nicht sicher, dass Navis sodann fortging, weil er noch viel zu tun habe, und wusste, dass Navis nicht wiederkam, bis er bei Morgengrauen erwachte, weil Navis ihn wachrüttelte.

»Was ist denn jetzt wieder?«, fragte Mitt.

»Zeit aufzustehen«, antwortete Navis. »Du und ich, wir folgen gemeinsam mit Noreth den Grünen Straßen.«

»Wozu denn?«, widersprach Mitt. »Ich habe dir doch gesagt…«

»Fällt dir etwas Besseres ein, um Hildi und Ynen zu schützen, bis wir sie holen können?«, fragte Navis. »Du bist angewiesen, dich Noreth anzuschließen. Keril wird annehmen, dass du tust, was man dir sagt. Und jetzt steh auf.«

Mitt gehorchte – zum Glück steckte er noch in seinen Kleidern – und stolperte kurz darauf in den Saal, in dem es nach kaltem Essen und nach schalem Bier roch. Seine Schlafrolle lag neben Navis’ Decken auf dem ersten Tisch. Navis stand am Tisch und hatte die Arme um jemanden gelegt. Offensichtlich küsste er diese Person zum Abschied. Einen Augenblick lang glaubte Mitt, es sei Noreth, und war höchst empört. Dann trat das Mädchen – nein, Frau … nein, Dame – zurück, ohne Navis die Hände von den Schultern zu nehmen, und Mitt sah, dass es Frau Eltruda war. Er empörte sich noch mehr. Wie konnte Navis nur! Eine ältere Frau. Eine verheiratete Frau. Wie konnte er es ausnutzen, dass Baron Stair ein Trinker war!

»Achte gut auf mein Mädchen für mich, Lieber«, sagte Frau Eltruda zu Navis. »Ich vertraue sie deinem Schutz an. Sie ist das einzige Kind, das ich je hatte.«

»Ich kümmere mich um sie, das verspreche ich«, sagte Navis und lächelte sie auf eine Art an, die für Mitts Begriffe viel zu liebevoll war.

In diesem Augenblick stürmte Noreth in die Halle. Sie war wieder wie ein Gefolgsmann gekleidet. »Tante, wo ist mein Bettzeug? Tante! Oh!«, rief sie, als sie bemerkte, wieso ihre Tante so beschäftigt war. Sie tauschte einen Blick mit Mitt, der ihm zeigte, dass sie mehr oder minder genau das Gleiche empfand wie er. »Ich schaue wohl lieber mal im Stall nach«, sagte sie. »Ich glaube, ich habe gar nicht ausgepackt. Reitest du mit mir?«

Mitt nickte.

»Ach, wie schön!«, rief Noreth und eilte nach draußen.