13.
Den Rest des Vormittags verbrachte Maewen auf der Wiese vor der Stadt. Umringt von Mitt, Navis und den drei Pferden saß sie etwa an der Stelle, wo Dagners schwarz-weißer Wagen gestanden hatte. Dennoch fühlte sie sich noch immer nicht sicher. Wenn jemand kam, um eine Kuh loszubinden, wenn eine Ziege meckerte oder eine Lerche aus dem Gras aufflatterte, fuhr Maewen zusammen und blickte um sich, erwartete, dass jemand sie bei der Kehle packte und ein Messer aufblitzen ließ. Als sie sich endlich ein wenig gefasst hatte, strömten Scharen von Menschen aus der Stadt und folgten der Straße zur Rechtsakademie. Maewen begann erneut zu zittern.
»Wir haben beinah Mittag«, sagte Navis und brachte Maewen ihr Pferd.
Sie stieg auf und hoffte, dass sie sich hoch zu Ross besser fühlen würde. Tatsächlich schien das Reiten ihr gut zu tun. Gemächlich trabten sie zur Straße und schlossen sich dem Strom von Wagen, Kutschen, Reitern und Fußgängern an. Maewen ertappte sich, wie sie aus Unsicherheit absichtlich zurückblieb.
»Lass den Südländer den Kelch des Adons für dich stehlen«, raunte ihr plötzlich die tiefe Stimme ins Ohr.
Maewen fühlte sich wie ein Wasserbett – sie zitterte am ganzen Leib, weil man auf ihr herumtrampelte. »Mehr hast du mir nicht zu sagen? Wo warst du denn? Warum hast du mich nicht gewarnt?«
»Dir ist nichts geschehen. Die Südländer waren in der Nähe und haben dir geholfen«, entgegnete die Stimme.
»O vielen Dank!«, fauchte Maewen. »Du bist mir wirklich ein Trost!« Nunmehr zitterte sie vor Empörung. Was nutzte ihr ein gespenstischer Ratgeber, wenn es ihn nicht einmal kümmerte, dass sie fast ermordet worden wäre? Verärgert schloss sie wieder zu Mitt und Navis auf, die gerade auf die belebte Straße einbogen. Sie hatten fast schon das Gehölz erreicht, als sie bemerkte, dass sie sich besser fühlte. Deswegen musste sie lächeln. Vielleicht wusste die Stimme doch, was sie tat.
Außerhalb der schmucken Gebäude der Rechtsakademie befand sich nun eine Reihe aus Pflöcken, an denen man die Pferde anbinden sollte. Jungen in altmodischen Uniformen bewachten sie. Der Pförtner mit den schlechten Zähnen ließ die Leute nun zu zweit oder zu dritt durch das Tor eintreten. Mitt hopste vor Ungeduld auf der Stelle, als sie sich an der Warteschlange anstellten, und selbst Navis wirkte nervös.
Moril sprang von einem wartenden Gespann ab, das ihn offenbar mitgenommen hatte, und lief zu ihnen. Die Quidder hüpfte auf seinem Rücken hin und her. Er schlug eine Pastete und Kornplätzchen in ein teuer aussehendes Mundtuch aus Leinen ein und kaute noch, während er näher kam. »Sie haben mir auch ein Mittagessen spendiert«, sagte er. »Ich hatte mich schon gefragt, wohin ihr verschwunden wart.«
»Und wo ist Hestefan?«, fragte Navis.
Moril sah ihn ein wenig bang an. »Er sagte, er würde sich ausruhen und mit Wend am Wegstein auf uns warten. Ich glaube, es geht ihm nicht sehr gut. Er sieht krank aus, seitdem der Wagen umgestürzt ist.«
»Glaubst du, er hat sich damals etwas getan?«, fragte Mitt.
»Ja, aber das würde er niemals zugeben.«
Schließlich erreichten sie das Tor und standen vor dem Mann mit den schlechten Zähnen. Moril lächelte ihn strahlend an. »Könntest du wohl auf meine Quidder aufpassen, bis ich wieder herauskomme?« So hat er es wohl auch geschafft, dass die Kutsche ihn mitnimmt, dachte Maewen, während sie beobachtete, wie der Pförtner zunächst versuchte, Moril den Gefallen abzuschlagen, dann aber nachgab und die Quidder behutsam in die Arme nahm. Barden lernten, mit Menschen umzugehen.
»Durch den Garten, dann nach rechts zum kleinen Viereck«, sagte der Mann zu ihnen wie zu allen anderen.
Niemand beachtete den Garten. Moril und Maewen versuchten, auf dem kopfsteingepflasterten Weg mit Navis und Mitt Schritt zu halten. Sie durchschritten einen Torbogen nach rechts und gelangten auf einen quadratischen Hof, den Gebäude umgaben. Eine lange Reihe junger Leute stand dort. Sie waren in Grau mit breiten weißen Kragen gekleidet. Einige waren viel jünger als Moril, andere beinah erwachsen. Die meisten schienen etwa in Maewens wirklichem Alter zu sein. Viele von ihnen begrüßten bereits Eltern und andere Verwandte, die meisten anderen blickten zur Seite auf den Bogengang und warteten auf ihre eigenen Familien. Es wurde weder gerufen noch sich umarmt, und kaum jemand zappelte. Anscheinend gab man auf dieser Schule vor, sehr erwachsen zu sein. Dadurch wurde alles recht kompliziert. Mitt, Navis, Moril und Maewen gingen im Krebsgang an der Reihe vorbei, während die Wartenden kühl an ihnen vorbeiblickten, bis Navis vor einem dünnen, dunkelhaarigen Mädchen stehen blieb, dessen Gesicht zu einem permanenten Stirnrunzeln verzogen zu sein schien.
»Hildi!«, rief er. Grenzenlose Freude und Erleichterung schienen ihn zu beherrschen. Mitt ging es genauso.
Das dunkelhaarige Mädchen wandte sich von dem hochgewachsenen Mädchen neben ihr ab, mit dem sie getuschelt hatte, und starrte Navis an. »Vater! Wie kommst du denn hierher!« Ihr Gesicht leuchtete auf. Im ersten Augenblick sah es ganz so aus, als wolle sie Schultradition Schultradition sein lassen und Navis um den Hals fallen. Dann erinnerte sie sich des erwachsenen Benehmens und ergriff seine beiden Hände. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Dadurch wirkte sie viel jünger. »Vater, das ist gut! Jetzt kann ich jemanden herumführen, und jemand feuert mich doch noch beim letzten Grittling an!«
»Bist du wohlauf? Gefällt es dir hier?«, fragte Navis sie.
»Absolut Oberspitze!«, rief Hildi. »Ich möchte nirgendwo anders hin. Ach, das hier ist Biffa.« Sie drehte sich zur Seite und stellte das große Mädchen neben ihr vor. »Biffa ist meine Besting. Hast du etwas dagegen, wenn sie mit uns geht? Sie ist wie ich eine Rosengebettete, und ihre Eltern können es sich nicht leisten, heute herzukommen. Bitte. Sie hat niemanden, wenn ich weggehe.«
»Es ist mir eine Ehre«, sagte Navis. Die große Biffa lief bis hinunter an ihren Kragen rot an und stand hilflos lächelnd da wie ein Klotz. Sie hatte ein sehr niedliches Lächeln. Es verwandelte ihr scheibenartiges Gesicht völlig und machte deutlich erkennbar, weshalb Hildi sie mochte.
»Gut«, sagte Hildi und wollte Navis mit sich schleppen. Seine Begleiter ignorierte sie völlig.
Navis blieb stehen. Mitt sagte: »Hallo, Hildi.«
Hildi blickte ihn über die Schulter an. »Ach hallo, Mitt.« Ihr Ton war kaum noch freundlich zu nennen. Maewen konnte es nicht ertragen, Mitt ins Gesicht zu schauen. Sein Schmerz und seine Enttäuschung waren so offensichtlich und so tief, dass schon der eine Blick, den Maewen von Mitt erhaschte, sie ebenfalls verletzte.
Navis zog Hildi fest zurück. »Meine liebe Tochter«, sagte er, »nicht so eilig. Ich möchte dir meine Freunde vorstellen. Diese junge Dame ist, äh, Ilona Karntochter.«
Maewen verbeugte sich und war beeindruckt, dass Navis daran gedacht hatte, ihr einen anderen Namen zu geben. Hildis Blick glitt über Maewens von der Reise schmutzige Gefolgsfrauen-Montur und wieder zurück in ihr Gesicht, wo sie jede Sommersprosse einzeln zu mustern schien. Hildi hatte sehr dunkle Augen, die sehr aufmerksam wirkten und keine besondere Wärme ausstrahlten. Ihr Blick war Maewen grenzenlos unangenehm. Sie fragte sich, ob sie sich ironisch ein zweites Mal verbeugen sollte, als Hildi zu entscheiden schien, dass Maewen irgendeinem Maßstab genüge, den sie für wichtig hielt. Die Runzel zwischen ihren Brauen glättete sich, und sie lächelte und beugte vor Maewen das Haupt.
»Die mir von ihrer Tante anvertraut wurde«, fuhr Navis fort. »Der Junge ist Moril, er entstammt einer Linie berühmter Barden.«
Vor Barden schien Hildi große Achtung zu haben, denn sie verbeugte sich und schenkte Moril ein Lächeln. Moril blickte sie ernst an, ohne das Lächeln zu erwidern.
»Und«, sagte Navis trocken, »natürlich Mitt, den du schon kennst.«
Mitt hatte mittlerweile die Beherrschung über seine Züge zurückerlangt. Sein Gesicht war immer noch leer und blass, sein Blick starr, doch er zwang sich zu einem heiteren Lächeln. »Einfach nicht loszuwerden«, sagte er.
Aus irgendeinem Grund fühlte sich Maewen dadurch noch mehr verletzt als von der Art, wie Mitt zuerst dreingeschaut hatte. Als Hildi ihm kühl zunickte und dann den Rücken zukehrte, hätte Maewen sie ohrfeigen können. Er hat sich so darauf gefreut, dich wiederzusehen, und sich solche Sorgen um dich gemacht – was du wirklich nicht verdient hast! –, und jetzt behandelst du ihn so? Du … du blöde kleine Kuh!
Sie setzten sich in Bewegung. Mitt schlich ihnen an letzter Stelle nach; er erinnerte an einen Schlafwandler. Moril sprach die große Biffa an. »Weißt du zufällig, wo ich meine Schwester finde?« Obwohl er in schüchternem Ton sprach, machte er dadurch unmissverständlich klar, dass er mit Hildi nichts zu tun haben wollte. »Sie heißt Brid Clennentochter.«
Als Maewen den Kopf hob und in Biffas Gesicht blickte, entdeckte sie einen Ausdruck tiefsten Staunens. »Brid!«, rief Biffa. »Brid ist deine Schwester? Sie ist dieses Semesterding unser Wundermädel geworden. Sie hat alle Preise auf der Strichliste gewonnen, und jetzt ist sie mit dem Adon irgendwohin gegangen, ich weiß es nicht.«
Was?, dachte Maewen. Aber der Adon ist doch schon Jahrhunderte vor dieser Zeit gestorben.
Hildi, die vor ihr ging, wandte sich halb zu ihr um. »Sie meint, dass sie mit dem Sohn des Grafen von Hannart spazieren geht«, erklärte sie. »Er besucht sie, weil sie die Schwester des Grafen der Südtäler ist.«
In ihrer Stimme lag ein ehrfurchtsvoller Ton, der Maewen verriet, dass sie ein feiner Pinkel war. Wahrscheinlich behandelte sie Mitt deswegen so schäbig. Mitt hatte die Ehrerbietung ebenfalls bemerkt, und sein Gesicht sah schlimmer aus denn je.
»Es heißt«, raunte Biffa scheu Moril zu, »dass der Adon in deine Schwester verliebt wäre.«
»Tatsächlich?«, fragte Moril, als glaube er, er hätte dabei auch noch ein Wörtchen mitzureden. »Wo suche ich denn am besten nach ihnen?«
»Im Betbunker … nein, vielleicht eher im Hochhinaus«, sagte Biffa. »Wenn du möchtest, zeig ich dir, wo das ist.«
Während sie Moril davon führte, rief Hildrida ihr Anweisungen hinterher, wo sie sich wieder treffen würden, und Biffa antwortete darauf, indem sie einen Zeitpunkt festsetzte. Beide schienen sie ein Kauderwelsch zu sprechen, das allen Zuhörern unverständlich blieb. Kaum war Biffa mit Moril um die nächste Ecke verschwunden, als Maewen bewusst wurde, dass sie nur noch zu dritt waren: Mitt hatte sich offenbar ebenfalls Biffa angeschlossen. Sie konnte es ihm kaum verdenken. Sie wäre auch nicht geblieben, um sich von dieser Hildi ignorieren zu lassen. Nein, was sie tat, war schlimmer als Nichtbeachtung, es war viel gemeiner. Demzufolge, was Maewen von Moril erfahren hatte, war Hildi die Enkelin eines Grafen, Navis jedoch war nun nur noch ein Gefolgsmann. Niemand wusste, dass er in einigen Jahren zum Herzog von Karnsburg ernannt würde. Hildi hatte also überhaupt keinen Grund und keine Rechtfertigung, sich selbst so erhaben zu geben.
In finsterer Stimmung folgte Maewen dem Mädchen, während es sie durch die Akademie führte. Schon bald nahm sie die Dinge nur noch verschwommen wahr und brachte vieles mit den Führungen durch den Tannoreth-Palast durcheinander – nur dass sie während dieser Führung häufig anderen Schülern mit weißen Kragen begegneten, die bunt gekleidete Verwandte umherführten, welche genauso verwirrt aussahen wie Maewen. Wenn sie an die Besichtigungstour zurückdachte, die sie mit Tante Liss unternommen hatte, so kam sie nur noch mehr durcheinander: Sie fand keine Übereinstimmungen. Rief sie sich einzelne Gebäude ins Gedächtnis, so erschienen sie ihr nun entweder kleiner oder an der falschen Stelle. Und Teile der Akademie sahen genauso aus wie irgendeine alte Schule.
Maewen brummte der Schädel, und auch ihre Bauchschmerzen kehrten zurück. Während sie hinter Navis und Hildi einherschlich, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als sich setzen zu können, doch Hildi zerrte Navis an der Hand immer weiter und sagte dabei Dinge wie: »… und hier halten die Schneckmacher das Verlesen ab. Selbst als Tugendwandler droht einem der Abstieg, wenn man zu kammgeschwollen daherkommt.« Sie machte sich niemals die Mühe, auch nur ein einziges dieser abstrusen Wörter zu erklären. Bei allem, was sie sagte, nickte Navis mit zunehmender Ironie. Hildi will gar nicht, dass wir begreifen, was es wirklich heißt, dachte Maewen. Sie ist eine von diesen Leuten, die gern zum inneren Kreis gehören und mit ihrem Wissen protzen, während die anderen außen vor bleiben und sich für dumm halten sollen.
Vielleicht bewertete sie Hildi zu hart. Maewen war sich bewusst, dass sie sich noch immer sehr eigenartig fühlte, weil jemand versucht hatte, sie zu töten. Sie gab sich Mühe. Sie schloss höflich zu Hildi auf, während sie einen weitläufigen Hof überquerten, den es in Maewens Zeit nicht mehr gab, und versuchte, mit Hildi ins Gespräch zu kommen. Doch schon nach wenigen höflichen Phrasen ertappte Maewen sich dabei, dass sie – in nicht sonderlich freundlichem Ton – die Frage stellte, die sie beschäftigte: »Warum hast du Mitt so garstig behandelt? Er hatte sich sehr auf das Wiedersehen mit dir gefreut.«
»Wirklich?«, entgegnete Hildi. »Wie dumm von ihm. Das kommt wohl davon, dass er so ungebildet ist.«
»Ist er tatsächlich ungebildet?«, fragte Maewen noch unfreundlicher.
»Er ist praktisch ein Analphabet«, sagte Hildi. »Er kann kaum seinen Namen schreiben.« Bei ihr klang es, als rede sie von einer ansteckenden Krankheit. Sie fügte hinzu: »Früher hat er als Fischer gearbeitet.« Wie sie es aussprach, ließ sie Maewen spüren, dass sie sich Maewens Unfreundlichkeit sehr wohl bewusst sei, dass sie sich damit schon häufig konfrontiert gesehen habe, dass sie damit rechne und dass sie es völlig kalt lasse.
Soso, dachte Maewen, während sie sich wieder zurückfallen ließ. Das spricht wohl Bände über das Leben, das sie früher geführt hat. Sie hat Kummer. Nun, unerfreuliche Menschen haben wohl immer Kummer, sonst wären sie nicht unerfreulich, aber deshalb muss ich sie noch lange nicht leiden können – oder ihr verzeihen! Und sie hielt weiterhin ein Stück Abstand. Sie hatte am ganzen Leib Schmerzen. Sie fühlte auch einen Stich im Herzen, als sie daran dachte, wie Mitt sich fühlen musste.
Ist nicht das erste Mal, dachte Mitt gerade. Ich bin schließlich daran gewöhnt. Damit war doch wirklich zu rechnen. Hildi führt wieder das Leben, auf das sie vorbereitet wurde, und damit hat sich’s. Obwohl diese Überlegungen seinen Schmerz – ein wenig – dämpften, plagte ihn dennoch ein Leid, an das er überhaupt nicht gewöhnt war.
Er hatte Hildi für eine Freundin gehalten. Dass Freundschaft ein solch zerbrechlich Ding sein konnte, hatte er nicht gewusst. Falls sie Ynen fanden, würde er vermutlich ebenfalls so tun, als würde er Mitt nicht mehr kennen. Und was soll’s?, sagte er sich, während er der gewaltigen Biffa und dem viel kleineren Moril folgte. So verletzt er war, bei Biffas Größe musste er grinsen. Sie war noch einige Zoll größer als er, und Mitt wusste, dass er mittlerweile sechs Fuß Körperlänge erreicht hatte.
»Meinen Eltern gehört die Mühle drüben in Anstal«, sagte Biffa gerade zu Moril, »und sie sind beide noch größer als ich. Wenn du mich für groß hältst, dann musst du erst meinen Bruder sehen. Groß zu sein liegt bei uns in der Familie.«
»Bis Anstal ist es nicht weit«, sagte Moril.
»Zwei Tage«, entgegnete Biffa. »Wenn einer von ihnen mich abholt, ist er also vier Tage unterwegs. Das können sie sich nicht leisten. Aber sie haben mir Geld geschickt, damit ich mir ein Pferd mieten und nach Hause reiten kann. Ich muss nicht die ganzen Ferien hier bleiben wie Hildi.«
Mitt fragte sich, was für ein Riesenpferd sich Biffa wohl mieten würde, um darauf nach Hause zu reiten, doch das Übelkeit erregende Gefühl seiner Kränkung schnürte ihm die Kehle zu und hielt ihn davon ab, sich in das Gespräch einzumischen.
Sie durchquerten einen gedeckten Bogengang, in dem jedes Geräusch widerhallte, und gelangten schließlich in einen hellen, warmen Hof mit Treppen an beiden Enden. »Hochhinaus«, sagte Biffa. »Da ist sie.«
Gegenüber saß eine Anzahl von Gefolgsleuten in Hannarter Montur auf den Stufen und beobachtete nachsichtig Kialan Kerilsohn, der im Gespräch mit einem dunkelhaarigen Mädchen in der Uniform der Rechtsakademie über den Hof schlenderte. Mitt schreckte bei diesem Anblick ein wenig zurück. Er hatte nicht richtig zugehört, wohin Moril eigentlich wollte. Aber natürlich!, dachte er voll Bitterkeit. Kialan kommt hierher, um seinen Schatz zu sehen, und weil er der Sohn eines Grafen ist, lassen sie ihn früher rein als die anderen. Wahrscheinlich hat er nicht mal bemerkt, dass er bevorzugt wird. So sind die Grafen eben. Mitt überlegte, ob er nicht lieber gehen sollte. Doch sein Elend riet ihm: Was soll’s – gib ihm lieber eine freche Nachricht an seinen Vater mit! Darum stieg er mit Biffa und Moril die Stufen hinunter.
»Brid«, sagte Moril ernst.
Das Mädchen fuhr herum. Sie war sehr hübsch, sogar noch hübscher als Fenna, und nicht so alt, wie Mitt erwartet hatte; sie war wohl kaum älter als er. »Moril!«, kreischte sie, und im Gegensatz zu den Schülern in der nüchternen Reihe schoss sie auf Moril zu und schlang die Arme um ihn. Sie wirbelten immer wieder im Kreis herum und lachten und redeten beide zugleich, während Kialan, ebenfalls ganz ausgelassen, Moril immer wieder Bemerkungen zurief. Mitt stand daneben und litt.
»Ich bin gekommen, um sie nach Hannart zu holen«, sagte Kialan.
Brid erhob ihre helle Stimme nach Art der Barden; der feste Unterton war unüberhörbar. »Selbstverständlich werfe ich weder mein Bardenerbe fort, Moril, noch die Juristerei! Trotzdem, es ist mein Leben, und ich treffe meine Entscheidungen selbst!«
»Sie wird noch drei Jahre hier verbringen«, sagte Kialan traurig. »Zufrieden, Moril?«
Mitt sagte sich, dass er wohl wirklich in Brid verliebt sei. Man braucht nur zu sehen, wie er sie anhimmelt. Bei diesem Gedanken schnürte sich ihm die Brust noch enger zusammen.
Während sie sich weiter munter ins Wort fielen, fragte Moril plötzlich: »Ist dein Vater hier?«
Kialan schüttelte den lockigen Kopf. »Nein, ich bin allein hierher gekommen. Warum?«
Allein mit zwanzig Gefolgsleuten, dachte Mitt und hörte überrascht, wie Moril antwortete: »Gut. Dann kann ich dir meinen Freund Mitt vorstellen.«
Mitts Brust zog sich erneut zusammen, weil Moril ihn Freund nannte, dann hüpfte sein Herz, weil Kialan so erwartungsvoll herumwirbelte und ihn mit hocherhobenem Kopf anstarrte, sodass er wegen seiner Nase aussah wie ein Adler auf Ausschau nach Beute. »Mitt?«, fragte Kialan. »Aus Aberath? Wirklich?« Mitt nickte wachsam. »Was machst du denn hier?«, fragte Kialan mit unvermindertem Eifer.
Mitt versuchte zu lachen, brachte jedoch nur ein abgehacktes Krächzen hervor. »Hildi Navistochter besuchen.«
Kialans Mund zog sich zusammen, dass er an eine Backpflaume erinnerte. »Diese blassgesichtige kleine Kuh. Die wird am Ende schlimmer sein als Graf Hadd; sie sieht ja jetzt schon so aus wie er! Ihr Bruder Ynen ist zehnmal so viel wert wie sie.«
Wiederum gingen seltsame Dinge in Mitts Brust vor sich. Er konnte nicht genau sagen, was er empfand, doch aus einem unerfindlichen Grund erhob er keinen Einwand, als Kialan mit einer Geste Brid bedeutete, weiter mit Moril zu reden, Mitt beim Arm nahm und ihn außer Hörweite der Geschwister zog. Er benahm sich wie ein Herr, doch Mitt stellte fest, dass es ihm recht egal war. Er sagte sich, dass Kialan das Herrische im Blut lag und sich auch dann so gegeben hätte, wenn er der Erbe eines Fischers gewesen wäre. Mitt fand die Entdeckung eigenartig. Er sah Kialan ins Gesicht, und das ungewohnte, merkwürdige Gefühl, sich mit Menschen wieder etwas besser auszukennen, machte ihn ganz kribblig.
»Bin ich froh, dich endlich kennen zu lernen!«, sagte Kialan, und Mitt merkte, dass er es ehrlich meinte. »Als ich in Aberath war, habe ich dort überall nach dir gesucht. Bist du wirklich mit den Unvergänglichen nach Norden gesegelt?«
»In gewisser Weise schon«, antwortete Mitt, während sie nebeneinander die Treppe hinaufstiegen. »Das Boot gehörte zwar Ynen, aber ich habe geholfen, den Alten Ammet an Bord zu holen.«
»Ich würde wirklich gern die ganze Geschichte von dir hören«, sagte Kialan, »aber das muss noch warten.« Er blieb auf halber Höhe der Stufen stehen und zog Mitt zu sich herum, dass er ihm wieder ins Gesicht blickte. Sie waren auf gleicher Augenhöhe, weil sie in etwa gleich groß waren, nur dass Kialan den stämmigeren Körperbau hatte. Langsam und sehr deutlich sagte der Grafensohn: »Ich hatte Glück, dass ich dir in Aberath nicht begegnet bin. Ich wäre mit allen möglichen fröhlichen Nachrichten von Ynen übergesprudelt – so wäre es zumindest bis zum Abend gewesen. Vor dem Abendessen hat mich mein Vater zur Seite genommen und mir gesagt, du dürftest nicht erfahren, wo Ynen ist. Und ich kann mich natürlich nicht gegen meinen eigenen Vater stellen.«
Mitt blickte Kialan in die hellen Augen, die um einiges blauer waren als seine eigenen, und begriff, dass er ihm trotz seiner Worte von Ynen erzählte. Wieder ging Eigenartiges in seiner Brust vor. »Wann hast du Ynen zuletzt gesprochen?«, fragte er, um ihm auf den Zahn zu fühlen.
»Diese Dame – Noreth – reitet sie auf den Grünen Straßen?«, entgegnete Kialan, um seinerseits Mitt zu prüfen.
»Lebt und atmet«, sagte er. »Sie ist irgendwo hier in der Akademie, falls du sie kennen lernen möchtest.«
Einen Moment lang sah Kialan ihn an, als hätte er liebend gern Noreths Bekanntschaft gemacht, dann schüttelte er bedauernd den lockigen Kopf. »Mein Vater wäre außer sich vor Zorn. Um deine Frage zu beantworten, Mitt, ich habe heute Morgen vor meinem Aufbruch mit Ynen gesprochen. Ich darf seiner Schwester aber nicht seine Grüße ausrichten …« Er blickte Mitt fragend an.
»Schon gut«, sagte Mitt. »Ich spreche mit ihr.«
»Danke«, sagte Kialan. »Ich hatte es Ynen versprochen. Und du reitest mit dieser Noreth Einentochter?«
»Nach Karnsburg«, sagte Mitt. »Glaube ich zumindest.«
»Dort schließe ich mich euch an«, sagte Kialan. »Mit Ynen. Wartet auf uns, wenn wir nicht vor euch eintreffen. Die Sache wird nicht leicht einzufädeln sein.«
Er drehte Mitt wieder um, und sie gingen zusammen die Treppen hinunter. »Und wo seid ihr dann gelandet?«, fragte er laut, für die Ohren der Gefolgsleute am anderen Ende des Hofes bestimmt.
»Auf den Heiligen Inseln«, sagte Mitt. »Dort ist es reichlich seltsam.«
»Das habe ich auch schon gehört«, stimmte Kialan ihm zu. »Und wo dann?«
»Direkt bis nach Aberath hat es uns verschlagen«, sagte Mitt. »Vor Aberath haben wir überhaupt nicht mehr die Küste gesehen. Wir hätten nie gedacht, dass wir so weit kommen.«
»Erstaunlich«, sagte Kialan. »Danke auch für die spannende Geschichte.« Er ließ Mitts Arm los.
»Gern geschehen«, sagte Mitt und wandte sich ab. »Sag Moril, dass ich bei Navis bin, falls er mich sucht.«
Kialan versprach es und schlenderte zu den Geschwistern. Brid winkte und rief den beiden fröhlich etwas zu.
Im Moment konnte Mitt keine glücklichen Szenen ertragen. Er ging in die entgegengesetzte Richtung und stieg mit langen, eiligen Schritten die Stufen wieder hoch, als hätte er etwas Wichtiges zu erledigen. Er wusste nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Er musste jetzt allein sein, um in Ruhe nachzudenken. Doch wohin er auch ging, überall traf er auf Menschen in kleinen, plaudernden Grüppchen. Mitt schweifte durch die ganze Akademie und machte dabei, wie er es gelernt hatte, einen beschäftigten Eindruck. Er ging unter Bögen hindurch, überquerte einen weiten gepflasterten Hof und schaute in andere Gebäude. Überall waren Menschen. Endlich fand er einen kiesbestreuten Platz, auf dem sich ein kleines, einsames Bauwerk mit einer eigenartigen Kuppel erhob, das älter aussah als die übrige Anlage. Niemand schien hier zu sein. Mitt betrat es vorsichtig durch den gewölbten Eingang. Von innen erinnerte es an eine Laube aus Stein mit einem Steintisch, der am anderen Ende um einige Stufen erhöht stand. Mit setzte sich zwischen den Pfeilern aus grünem Vulkangestein auf eine der Steinbänke, welche die gekrümmten Wände säumten, und versenkte sich dankbar in seine Gedanken.
Ynen war also in Hannart, wo Keril ihn stets im Auge hatte. Einleuchtend – selbst Navis würde kaum wagen, Ynen dort herauszuholen. Kialan jedoch konnte es probieren. Wer hätte damit gerechnet? Misstrauisch versuchte Mitt sich zu überzeugen, dass Kialan kein einziges Wort von dem, was er angedeutet hatte, ernst meine, sondern nur eine Rolle spiele, um seinem Vater zu dienen und Mitt zu bewegen, sich zu verraten. »Und das habe ich – oder?«, fragte Mitt laut. Doch während seine Worte in dem Kuppelraum verhallten, begriff er, dass Kialan ihm gegenüber vollkommen ehrlich gewesen war. Kialan war ein anständiger Mensch. Das bittere Gefühl tiefer Enttäuschung, wegen dem Mitt niemandem mehr trauen wollte, hing mit Hildi zusammen, nicht mit Kialan. Er wusste sehr gut, weshalb Kialan seinen Vater in einem anderen Licht sah als früher. Mitt brauchte sich nur an den flüchtigen Moment zu erinnern, in dem er Kialan als Gefangenen von Navis’ Vater durch Holand schlurfen sah. Mehr als ein Jahr lag das nun schon zurück, doch Mitt wusste es noch, als wäre es gestern geschehen. Ohne jeden Zweifel erinnerte sich Kialan noch viel genauer daran. Niemand brauchte Kialan zu erklären, wie man sich fühlte, wenn das eigene Leben vom Gutdünken eines Grafen abhing.
Gleichzeitig hatte Kialan kein Recht zu behaupten, Hildi sei wie Graf Hadd. Mitt entschied, dass er Kialan diese Bemerkung sehr verübelte – umso mehr, weil er befürchtete, Kialan könnte damit richtig gelegen haben.
»Verdammt seien alle Grafen und ihre Familien!«, schimpfte Mitt laut und krallte die Hände um die Kante der Steinbank. Seine Augen funkelten den Steintisch und den schiefen Metallkelch darauf an. Hildi und Kialan hatten ihn völlig durcheinander gebracht.
Plötzlich erkannte er, was da eigentlich vor ihm stand. Dieser Steintisch war ein Altar. In der Nische darüber befand sich ein Relief; es zeigte einen alten Mann, der einen Berg anhob. Den Einen. Das konnte nur bedeuten, dass der schiefe Kelch der Gegenstand war, den Noreth benötigte – der Kelch des Adons.
Mitt umfasste die Steinkante noch fester. Eine bessere Gelegenheit würde sich ihm nie wieder bieten. Er brauchte nur hinüberzugehen, den Kelch an sich zu nehmen und vorn in die Jacke zu stopfen. Noreth wäre entzückt. Und da die Akademie gerade von Menschen wimmelte, konnte niemand wissen, wer den Kelch genommen hatte, wenn tatsächlich jemand sein Fehlen bemerkte und Alarm schlug. Wenn Mitt ihn an sich nahm und sofort die Akademie verließ, das Tal durchquerte und zur Grünen Straße ritt, war er wahrscheinlich schon buchstäblich über alle Berge, bis jemand etwas unternehmen konnte. Warum also saß er dort wie ein Idiot und klammerte sich an der Steinbank fest, dass ihm die Finger schmerzten?
Weil es ein Diebstahl war. Wegen des Versprechens, das er Alk gegeben hatte. Weil er den Alten Ammet und Libbi Bier angerufen hatte – die gestern und heute in seiner Nähe gewesen waren; vielleicht wollten sie Mitt an diese Worte erinnern. Er grinste, ein entschlossenes, wildes Lächeln. Eigenartig, dass es nie genügte, etwas einmal zu schwören und zu versprechen. Man musste es anscheinend jedes Mal, wenn das Thema aufkam, wieder überdenken und neu geloben. Mitts Lächeln verblasste. Dieses Mal würde er den Einen bestehlen, und vor dem Einen fürchtete sich selbst der vernünftige, unerschütterliche Alk. Andererseits war Noreth die Tochter des Einen, und der Eine wollte, dass sie den Kelch bekam. Nun, nachdem Hildi und Kialan ihn sosehr durcheinander gebracht hatten, kam es Mitt vor, als würde er etwas Schlechtes tun. Es wäre eine Schande gewesen, die Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen.
Er löste seine Finger von der Steinkante und stand auf. Er lauschte. Alle Stimmen und alle Schritte, die er hörte, kamen von weit her. Durch den Eingang sah Mitt, dass der Kiesplatz völlig menschenleer war. Also. Bring es hinter dich.
Er näherte sich mit drei langen Schritten dem Altar. Als er ihn erreichte, schrak er zurück und erstarrte. Er hätte schwören können, dass bei seinem dritten Schritt ein Schatten wie von einem alten Mann mit einer langen Nase durch den Raum gestrichen war. Als wäre jemand außen an der Tür vorbeigegangen. Doch während Mitt wartete und lauschte, knirschte kein einziges Mal der Kies unter einem Fuß. Soweit er den Hof überschauen konnte, war er leer. Mitt streckte vorsichtig die Hand aus und fasste den Kelch um den weiten, ungleichmäßigen Stiel.
Knisternd füllte ein blaues Licht den Kuppelraum.
Mitt sprang zurück. Einen Arm legte er sich über das Gesicht und schützte damit seine tränenden Augen. Seine andere Hand juckte, prickelte und stach; er schüttelte sie hastig. Das Licht war wieder erloschen. Mitt blinzelte die Tränen fort. Er war noch immer geblendet und keuchte. Kein Wunder, dass niemand sich die Mühe machte, den Kelch zu bewachen. Das Ding gab selbst auf sich Acht. Mitt blickte sich nervös um und hoffte, dass niemand in der Nähe gewesen war und gesehen hatte, wie die Kapelle des Einen sich plötzlich mit Licht füllte.
Jemand musste es beobachtet haben. Von draußen ertönten laute und verzweifelte Schreie. Die Schreie eines jungen Menschen.