9.

Mitt empfand nicht einmal Verzweiflung. Er fühlte sich tot. Er war ertappt worden. Eines Tages musste es geschehen, das hatte er immer gewusst. Er blieb reglos stehen und blinzelte in das Licht, während er sich fragte, ob die Gräfin ihm allein aufgelauert hatte oder ob Graf Keril bei ihr war.

Das Licht kam aus einer dunklen Laterne, die auf genau der Vitrine stand, die er hatte ausrauben wollen. Als Mitt seitlich daran vorbeiblickte, sah er das verstimmte Gesicht auf dem Porträt des Adons, das noch immer auf der Staffelei stand. Daneben, in einem großen Sessel aus dunklem Holz, saß Alk, massig wie er war, und blinzelte ebenfalls. Entweder hatte das Licht auch ihn geblendet, oder er hatte geschlafen – das war wahrscheinlicher, denn Alk gähnte, bevor er das Wort ergriff.

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst erst mit mir reden, bevor du irgendwelche Dummheiten begehst. Hast du die Tür zugemacht?«

Mitt nickte.

»Dann komm her«, sagte Alk.

Mitt ging, noch immer sprachlos, über mehrere Meilen entsetzlich knirschenden Fußboden, bis er neben dem Tisch und der Vitrine vor Alks Stuhl stand. Alk streckte eine fleischige Hand vor und schloss behutsam die eiserne Blende der Laterne, bis die Bibliothek wieder in tiefe Schatten getaucht war.

»Stell dich dorthin«, sagte Alk und winkte mit der anderen Hand.

Kummervoll gehorchte Mitt und entfernte sich von Tisch und Vitrine und blieb am Rand des Lichtsees neben der Staffelei stehen. Alk war zwar allein, doch das bedeutete keinen Trost. Mitt wusste sehr gut, wie kräftig und reaktionsschnell Alk war. Alk hatte ihn dorthin gestellt, wo es für Mitt unmöglich war, vor ihm zur Tür zu gelangen.

»Heute Nacht wollte ich ein wenig nachschlagen«, bemerkte Alk und gähnte abermals. »Das habe ich wenigstens meiner Gräfin gesagt. Ich habe mit ihr gesprochen, wie ich’s dir angekündigt hatte, und was sie mir zu sagen hatte, hat mir gar nicht gefallen. Ohne Umschweife, wir haben uns gestritten, kaum dass Keril wieder fort war – und das ist noch nie zwischen uns vorgefallen.« Er blinzelte Mitt an, müder, verdrossener und grimmiger, als Mitt ihn je zuvor gesehen hatte. »Was hältst du davon? Du als Anlass des Streits?«

Mitt räusperte sich; seine Kehle war irgendwie ganz eng geworden. »Das tut mir Leid.«

»Freut mich zu hören«, knurrte Alk. »Jedenfalls musste ich darüber nachdenken. Und mir schien, dass ich an deiner Stelle versuchen würde, mich aus der Bedrängnis herauszuwinden, in die sie dich gebracht haben. Sehe ich das richtig?«

Mitt räusperte sich wieder. Seine Stimme klang trotzdem noch immer rau und verzweifelt. »Ich begehe keinen Mord!«

»Das will ich auch hoffen!«, sagte Alk. »Trotzdem bin ich froh, es aus deinem eigenen Mund zu hören. Wie ist sie denn so, diese Noreth?«

»Sommersprossig«, sagte Mitt. »Sprüht vor Leben. Ich hab sie zuerst für einen Jungen gehalten. Sie ist großartig. Sie ist überhaupt nicht auf den Kopf gefallen, auch wenn man das erst mal glauben könnte.«

»Soso?«, fragte Alk. »Was bezweckt sie denn dann damit, mit dir als Begleiter die Straße des Königs abzureiten? Mir kommt das nicht besonders klug vor. Es gibt noch viel mehr Grafen als Keril und meine Gräfin, die versuchen werden, sie ein für alle Mal daran zu hindern.«

»Das weiß ich. So ausgedrückt, klingt es ziemlich dämlich.« Doch so dumm es auch sein mochte, Mitt stellte fest, dass er Noreth in Schutz nahm. »Sie nimmt Anteil am Leben der Menschen, und sie hat gute Ideen. Viele Leute werden ihr folgen. Und sie hat wirklich einen Anspruch auf die Krone.«

»Was das betrifft«, entgegnete Alk, »so haben den viele. Sie sagt, sie stammt von dem Adon da neben dir und seiner zweiten Frau Manaliabrid ab, richtig? Nun, ich habe ein bisschen darüber nachgelesen.«

Mit seiner großen Hand machte er eine Geste auf die Laterne und den Glaskasten, auf dem sie stand. Eine Reihe von Büchern lag dort ausgebreitet, mehrere davon geöffnet, andere mit Lesezeichen zwischen den Seiten. Eines dieser Lesezeichen war ein Schuhlöffel; ein anderes ein sechszölliger Nagel. Das sah Alk ähnlich. Zu einer anderen Zeit, unter anderen Umständen hätte Mitt gegrinst.

»Nach all den Jahren ist meine Rechtskunde einwenig rostig geworden«, erklärte Alk. Mitt war sich nicht sicher, ob er ihm das glauben sollte. »Trotzdem habe ich herausgefunden, dass selbst der Adon keinen besonderen Anspruch auf den Thron besaß. Doch er trug die Krone, deshalb beginnen wir am besten bei ihm. Wenn diese Manaliabrid wirklich gewesen ist, wer sie zu sein behauptete, dann hat sie seinen Anspruch erheblich vergrößert. Sie wollte eine Unvergängliche sein, Tochter Cennoreths und Urenkelin des Einen. Nun, damals scheint niemand daran gezweifelt zu haben, also nehmen wir an, es stimmte. Sie hatte zwei Kinder mit dem Adon, einen Sohn und eine Tochter. Und entweder sind beide sehr große Enttäuschungen für ihre Eltern gewesen oder waren sich ihres Anspruchs ebenfalls nicht sicher, denn keiner von beiden unternahm auch nur den geringsten Versuch, nach dem Tod des Adons den Thron zu besteigen. Der Sohn, Almet hieß er, nahm zwar den Königsstein an sich, aber er zog damit in den Süden und herrschte über eine kleine Baronie in der Nähe von Weymoor, die längst vergangen und vergessen ist. Und die Tochter Tanabrid war es zufrieden, zu heiraten und sich in Kredinstal niederzulassen. Danach wurde geheiratet und eine Mischehe nach der anderen geschlossen, sodass Kredinstal heute mit jedem zweiten Grafen der Nordlande irgendwie verwandt ist. Damit will ich sagen, Mitt, dass Noreths Anspruch Unsinn ist. Ihr Vetter Kintor hat einen größeren Anspruch, meine Gräfin ebenso, ja sogar dieser milchgesichtige Junge in Wassersturz.«

Mitt war ein wenig schwindlig. Nichts hätte er weniger erwartet, als sich nachts mit Alk in der Bibliothek wiederzufinden und Stammbäume zu erörtern. Er konnte nur annehmen, dass Alk ihm das Gefühl geben wollte, ein Tor zu sein, und ihm den Plan auszureden beabsichtigte. Also hatte die Gräfin ihm wohl nichts von Hildi und Ynen erzählt. »Ja, aber –«

»Nun wirst du entgegnen, dass sie behauptet, der Eine sei ihr Vater«, unterbrach ihn Alk. Das hatte Mitt zwar keineswegs gewollt, doch er hielt den Mund. »Damit kommen wir zum schwierigen Teil.« Alk lehnte sich zurück. Der Stuhl knirschte fürchterlich. »Selbst König Hern behauptete nur, dass der Eine sein Großvater sei – aber vermutlich doch nur in dem Sinne, den wir meinen, wenn wir den Einen unseren Großen-Vater nennen.« Alk neigte den Kopf und blickte Mitt über einen Kragen hinweg an, der einmal eine wunderschöne Halskrause aus Batist gewesen, nun aber nichts weiter als Schmutzwäsche war. »Ich habe den Einen gesehen«, sagte er zu Mitts Überraschung. »Mehrmals. Darüber rede ich gewöhnlich nicht. Wenn es dir je selbst passiert, dann weißt du auch warum. Es ist … nun ja … es ist, als trätest du unversehens in einen Schatten – oder der Schatten in dich. Ein wenig ist es so.« Alk streckte die Hand vor und hielt sie vor den schmalen Schlitz, den er in der Blende der Laterne offen gelassen hatte. Ein gewaltiger, wie eine Hand geformter Schatten glitt über den Fußboden, über Mitt und die Bücherwand hinter ihm. Mitt erschauerte. »Siehst du?«, fragte Alk. »Dort ist er, aber er ist nicht fest – trotzdem könnte ich mich irren. Und Noreths Mutter lebt nicht mehr, sonst könnte sie mir sagen, dass ich mich tatsächlich irre, oder?«

Als Graf Keril in etwa das Gleiche gesagt hatte, war Mitt davon nicht beeindruckt gewesen. Aus Alks Mund gewannen die Worte ein ganz anderes Gewicht. »Aber der Eine redet wirklich zu ihr«, wandte er ein. »Ich glaube, ich habe ihn einmal gehört. Und es macht ihr Angst.«

»Ich zweifle nicht an deinem Wort«, sagte Alk. »Und nun kommt der schwierigste Teil des schwierigen Teils: Wenn der Eine wirklich ein Interesse am Geschehen hat, dann sollten wir Sterblichen ungeheuer vorsichtig sein. Dem Einen kommt man besser nicht in die Quere. Ich wünschte nur, meine Gräfin würde das ebenfalls so sehen. Doch Keril gehört zum neuen Schlag – vernünftige Leute, für die die Unvergänglichen nur veralteter Aberglaube sind. Und sie hört auf ihn.« Er stützte seine massigen Arme auf die Bücher und brütete verdrossen.

Nach einem Augenblick fragte Mitt: »Hast du damit gerechnet, dass ich … wiederkomme?« Seine Stimme klang noch immer unerfreulich rau.

»In gewisser Weise schon. Es war eine Möglichkeit«, antwortete Alk. »Ich war hier, weil eine geringe Chance bestand, dass du dich dafür entscheidest, dich dieser Noreth anzuschließen und ihren Anspruch zu unterstützen. Als ich deinen Gaul aus dem Wald hörte, wusste ich, dass ich Recht hatte. Ich bin davon wach geworden. Wahrscheinlich hat er sogar die Toten aufgeweckt. Sie ist hinter des Adons Gaben her, nicht wahr?«

Mitt sank das Herz. Er merkte, dass er leicht zusammensackte.

Alk bemerkte es auch. Ihm entging selten etwas. »Dachte ich’s mir doch. Sie weiß es, und du weißt es, dass sie keinen echten Anspruch hat. Du wolltest den Ring hier klauen, oder nicht?«

Mitt brachte ein leises, kehliges »Ja« hervor.

»Und ich dachte, du hättest nie geglaubt, dass er nur auf das richtige Blut reagiert!« Alk lächelte schwach; sein Gesicht bestand nur noch aus Lichtbögen und Schatten. Er schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich wüsste, wie der Kerl, der ihn schuf, das gemacht hat.

Ich habe immer wieder versucht, ihn dabei zu ertappen, wie er seine Größe ändert, und wirklich alle Möglichkeiten ausprobiert, aber es will mir nicht gelingen. Meine Gräfin kann ihn auf jeden Finger und sogar auf ihre Daumen stecken, und er passt. Ich habe ihn von Gregin probieren lassen, und er fiel von ihm ab. Deshalb zweifle ich nicht, dass er deiner Noreth passt, ganz gleich, wie groß ihre Hände sind.«

»Klein.« Mitts Blick fiel verlangend auf den Glaskasten, wo der Ring unter der laternenbeleuchteten Scheibe funkelte, als liege er unter Wasser. Wie immer wirkte er sehr groß, fast groß genug, um auf einen von Alks gewaltigen Fingern zu passen. Wenn er Noreth nicht augenblicklich wieder vom Finger rutschte, wäre es in der Tat ein Wunder.

»Trotzdem eine sehr dumme Methode, sich aus der Klemme zu befreien«, sagte Alk. »Und du steckst in der Klemme, Mitt. Wenn du diesen Ring nimmst oder einen anderen falschen Schritt machst, dann geht dir meine Gräfin an den Hals – oder Keril. Ich habe das Gefühl, dass sie dich ohnedies nicht lange am Leben lassen wollen. Oder sie beabsichtigten, dich bis ans Ende deines Lebens als ihren Meuchelmörder einzusetzen. Meine Gräfin wollte weder das eine noch das andere zugeben, aber eins von beiden muss es sein.«

Mitt nickte. So weit hatte auch er schon gedacht. Er versuchte sich auszumalen, wie Alk der Gräfin solche Antworten entwand, doch es gelang ihm nicht. Das war, als wollte er sich vorstellen, wie eine von Alks Maschinen an einer Hauswand hochkletterte.

»Und du kannst dich nur dadurch vor ihnen schützen, dass du dich unerschütterlich ans Gesetz hältst und ihnen keine Handhabe bietest. Wenn du das tun willst, stehe ich auf deiner Seite. Versprichst du mir, dass du weder jemanden ermorden noch etwas stehlen wirst und auch keine ähnliche Untat begehst?«

Alk begriff nicht. Immer eindeutiger stand fest, dass die Gräfin Alk nichts von Hildi und Ynen erzählt hatte. »Was kann ich denn tun?«, fragte Mitt, um dem Thema auszuweichen.

»Nein, nein«, beharrte Alk auf seiner Forderung. »Erst das Versprechen.«

»Ich möchte lieber nichts versprechen«, erwiderte Mitt. »Wer weiß, was noch geschieht.«

»Unsinn«, entgegnete Alk. »Wie ich dir schon erklärt habe, noch hast du gegen kein Gesetz verstoßen. Du bist losgeritten, um Navis Haddsohn zu besuchen. Du bist zurückgekehrt, um mit mir zu reden.«

»Ich bin gekommen, um den Ring zu klauen«, sagte Mitt und sah ihn an, wie er unter dem Glas funkelte.

»Aber das weiß nur ich, und du wirst es nicht tun. Womit auch immer sie dir gedroht haben, ich stehe dir zur Seite, wenn du mir dieses Versprechen gibst.«

Womit auch immer? Vielleicht wusste Alk also doch über Hildi und Ynen Bescheid. Mitt blickte forschend in Alks großes, schattenüberzogenes Gesicht. Es verriet ihm gar nichts. »Was kannst du schon gegen Keril ausrichten?«

»Ihn dem Gesetz überantworten«, sagte Alk. »Ich verstehe es nicht! Jeder hier scheint vergessen zu haben, dass ich einmal ein Rechtsgelehrter gewesen bin! Und das Gesetz ist für Graf und Fischer das Gleiche. Gibst du mir das Versprechen?«

»Ich …« Mitt war sich nicht sicher, ob er es wagen durfte.

»Ich will es dir leichter machen«, sagte Alk. »Du bist nicht hergekommen, um den Ring zu stehlen. Du bist hergekommen, um mich zu bitten, ihn dir zu geben.«

»Was?« Eigenartig, wie die Bibliothek plötzlich heller, wärmer, freier zu sein schien. »Das kannst du nicht tun«, sagte Mitt und versuchte, nicht aufzulachen. »Sie würde es merken.«

»Ich habe eine Nachbildung angefertigt«, sagte Alk, »und versucht, es zuwege zu bringen, dass sie die Größe ebenso ändert wie das Original. Aber das ist mir nicht gelungen. Die Nachbildung ist ein einfacher Ring, aber sie sieht genauso aus wie das Original. Also, was sagst du dazu?«

»Ich verspreche es«, sagte Mitt. »Du wirst mich nicht mehr wiedererkennen, so gesetzestreu werde ich sein.«

»Das wäre etwas!« Mit einem schwachen Lächeln zog Alk einen Schlüssel aus einem Buch, wo er ebenfalls als Lesezeichen gedient hatte, und erhob sich, um die Vitrine aufzuschließen. Trübes Licht fiel durch den Raum, und Alks gewaltiger Schatten tauchte die halbe Bibliothek in Finsternis. »Denk immer daran«, sagte Alk, während er den Schlüssel drehte, »dass der Eine ein Interesse an den Vorgängen hat, und vergiss nicht, was du versprochen hast.«

Mitt blickte auf den gewaltigen Schatten und erschauerte. »Ich werde daran denken.«

Alk hob den Glasdeckel, nahm den Ring heraus und hielt ihn in die Mitte des Laternenstrahls. Der Ring war aus Gold und glatt; die einzige Zier bestand in dem großen Siegel, das aus einer Art rotem Stein geschnitten war und im Profil das abgehärmte Gesicht des Adons zeigte. Alks riesige und doch so geschickte Finger drehten ihn herum. »Am besten bewahrst ihn, indem du ihn ansteckst«, sagte er. »Gib mir deine Hand.«

Mitt streckte seine langen, knochigen Hände ins Licht. Alk versuchte, ihm den Ring auf den rechten Ringfinger zu streifen. Er blieb am obersten Fingerknöchel stecken. »Da hab ich an allen Fingern dicke Klumpen«, sagte Mitt.

»Dann streif ihn selber über.«

Mitt nahm den schweren Ring und versuchte ihn, während er noch immer kaum glauben konnte, dass Alk ihm den Ring wirklich überließ, auf einen Finger nach dem anderen zu stecken. Jedes Mal konnte er den Ring nur bis zum ersten Fingergelenk überstreifen. Der einzige Finger, auf den er – und auch das nur mit Mühe – passte, war der kleine Finger der linken Hand.

»Na, wenigstens rutscht er dir nicht ab«, sagte Alk. »Dann auf mit dir, gib ihn deiner Noreth. Und wenn sie von dir noch einmal etwas Ungesetzliches verlangt, dann sag nein. Hast du verstanden? Und ich stärke dir den Rücken.«

»Danke«, sagte Mitt. Es kam wahrhaft von Herzen.

Wie er zum Lager zurückfand, konnte er später nicht mehr genau sagen. Er kletterte wieder über die Mauer des Herrensitzes, das wusste er noch, denn am Rand des Steilhangs über dem Meer zu balancieren erforderte seine ganze Konzentration. Als er das hinter sich hatte, begann er das Geschehen zu verarbeiten. Die Dinge kamen und gingen. Er wusste hinterher noch, dass er Gräfin wiederfand, denn das Pferd versuchte, ihn wie gewohnt zu beißen. Dumpf erinnerte er sich, den glatten Weg zur Grünen Straße hinaufgeritten zu sein, denn das erforderte alle Konzentration, die er noch übrig hatte. Doch kaum war das Pferd auf der Straße nach Orilsweg, sodass es sich nicht mehr verirren konnte, als Mitt vermutlich im Sattel einschlief. Er glaubte zu träumen, Alk habe ihm den Ring des Adons gegeben. Das muss ein Traum gewesen sein, dachte er, als er nur ungefähr hundert Schritt vom Lagerplatz entfernt zu sich kam. Dass Alk so etwas täte, war höchst unwahrscheinlich. Warum war er aufgewacht? Vermutlich lag es an Gräfin, der sich plötzlich nicht mehr schwankend dahinschleppte, sondern eine weit energischere Gangart vorlegte. Nein, er war aufgewacht, weil mit seiner linken Hand etwas nicht stimmte.

Etwas nicht stimmte? Das war wohl eine Untertreibung! Sein kleiner Finger fühlte sich an, als sei er in einem von Alks Schraubstöcken eingeklemmt. Und jemand erhöhte gerade die Kraft der Backen. Bumb, bumb, bumb. Mitt spürte geradezu, wie sein Finger anschwoll. Er ließ die Zügel los und zerrte an dem Ring. Er bewegte sich kein bisschen. Lodernder Ammet! Eher riss er sich den Finger aus, als dass er den Ring abstreifen könnte! Er brauchte Licht – Hilfe – irgendetwas! Er sprang vom Pferd und eilte in die Richtung los, in der er das Lager vermutete.

Maewen sprang auf. Sie hatte halb wach gelegen, ständig gelauscht und gehofft, Mitt nicht auf seinem furchtbaren Pferd in Schwierigkeiten gebracht zu haben. Sie hörte wilde Trampelschritte, auf die ein heiserer Fluch folgte und dann die laute Frage: »Wo ist dieses verdammte Lager denn nur? Die können doch nicht ohne mich aufgebrochen sein!« Maewen lief in die Richtung der Stimme. Und da war Mitt, eine langbeinige Gestalt, die durch das Dunkel wie wahnsinnig auf den südlichsten Wegstein zurannte und dabei die Hände zu ringen schien.

»Was ist denn?«

Mitt eilte zu Maewen und baute sich über ihr auf, während er noch immer an seinem Finger zerrte. »Ich hab deinen Ring. Das verdammte Ding sitzt auf meinem Finger fest! Den krieg ich im Leben nicht mehr ab!«

Maewen ergriff die Hand, mit der er ihr vor dem Gesicht umherwedelte. Sie ertastete den Ring, ein dünnes Metall um einen Finger, der so groß und heiß erschien wie eine Brühwurst, die frisch aus dem Siedewasser kommt. »Ach du liebes bisschen!« Sie zog daran. Mitt jaulte auf. Der Ring steckte so fest, wie ein Ring nur feststecken kann. »Was bist du auch so unvernünftig, dir einen Ring aufzuziehen, der zu klein für dich ist.«

»Woher sollte ich das wissen? Ich hab mein Lebtag noch keinen Ring getragen!«

»Na, du hättest aber doch nachdenken können! In alter Zeit waren die Leute so klug!« Aber das ist die alte Zeit. Und er ist nicht klug. Egal.

Sie beugten sich über Mitts Hand, beide von der gleichen Panik erfasst. »Ich werde das Ding bis an mein Lebensende tragen müssen!«, quetschte Mitt hervor.

»Leck dran. Wir wollen sehen, was viel Spucke ausrichtet«, sagte Maewen. »Oder Seife.« Aber in ihrem Gepäck hatte sie keine Seife gefunden. Man musste zu dieser Zeit doch schon Seife gekannt haben, oder? Niemand hier kam ihr so schmutzig vor. »Oder … Wasser … mit Wasser können wir deinen Finger kühlen.«

»Ich hab ein bisschen Seife«, sagte Moril von der Seite. »Soll ich sie holen.«

»Ja, und Licht auch«, sagte Maewen.

Moril schoss davon. Mitt hielt sich die Hand vor den Mund und spuckte kräftig darauf. Maewen half ihm, den Speichel ganz über den geschwollenen Finger zu verteilen. Dann zog sie, und Mitt zog auch. Keiner von ihnen hatte den Ring auch nur ein bisschen verschoben, als Moril mit einem Stück Seife und einer entzündeten Laterne aus dem Wagen herbeieilte. In ihrem Licht sah Moril ehrfürchtig und zugleich spöttisch aus.

»Das ist der Ring des Adons?«, fragte er.

»Jawohl«, antwortete Mitt und rieb ihn kräftig mit Seife ein.

»Er passt nur Menschen von königlichem Geblüt«, erklärte Moril.

»Das weiß ich«, fuhr Mitt ihn an. »Ich hab ihn nur aufgesteckt, um ihn nicht zu verlieren, du dämlicher kleiner…«

»Beruhige dich«, sagte Navis. Er brachte einen plätschernden Ledereimer.

»O nein!«, rief Mitt. »Haltet ihn mir vom Leib! Er wird versuchen, ihn loszukochen oder so was!«

»Das ist nur kaltes Wasser«, entgegnete Navis. »Halte deine Hand hinein.«

»Ja, davon sollte die Schwellung zurückgehen«, stimmte Wend ihm zu, der gähnend an Navis’ Seite ging.

Mitt tauchte die Hand in den Eimer. Dann zog er sie heraus, seifte sie neu ein, zog an dem Ring, seufzte und steckte sie wieder ins Wasser. Nachdem er es viermal versucht hatte, brummte er: »So bringe ich noch das Wasser zum Kochen.« Als er die Hand zum sechsten Mal eintunkte, kam Hestefan herbei, rieb sich den Bart und erkundigte sich gähnend, was denn los sei. Mittlerweile stand für Maewen fest, dass sie den Diebstahl des Ringes nicht wie geplant geheim halten konnte; genauso gut hätte sie ihn auch vom Gipfel des nächsten Berges verkünden können.

Als Mitt die Hand zum siebten Mal aus dem Eimer holte, sagte Wend müde: »Lass mich mal versuchen.« Mit einer Hand umschloss er Mitts knochiges Handgelenk, mit der anderen den Ring. Und dann zerrte er.

»Autsch!«, rief Mitt. »Du reißt mir ja die Hand ab!« Aber der Ring war ab. Alles schwieg, als Wend ihn ins Laternenlicht hielt, wo sie den roten Stein aufblitzen sahen. Er reichte ihn Maewen.

Sie spürte, wie ihr der Schweiß zwischen die Sommersprossen trat. »Das ist der Ring des Adons«, sagte sie ohne weitere Umschweife. »Mitt war so freundlich, ihn mir zu… holen. Ich habe vor, alle Gaben des Adons zu sammeln. Morgen reisen wir weiter nach Auental.«

»Wie günstig«, murmelte Navis Mitt zu. Doch Mitt beobachtete Maewen über den Finger hinweg, an dem er sog. Jeder beobachtete sie.

Maewen begriff, dass sie sich unter keinen Umständen von ihr ablenken lassen würden. Sie musste den Ring aufziehen, jetzt und hier, mitten im Licht, und er würde ihr nicht passen. Er war riesig. Mitts Finger wirkten zwar lang und knochig, aber aus einem seiner Finger hätte man zwei für sie machen können. Wenn Vater Recht hat, sprach sie sich Mut zu, dann stammt Mutter irgendwo entfernt von Amil dem Großen ab. Dieser Tropfen königlichen Blutes aber war sehr stark verwässert worden, bevor er zu ihr gelangte. Sie holte tief Luft – und ging ein noch größeres Risiko ein – und schob sich den weiten Goldreif über den rechten Daumen, ihr einziges Glied, bei dem sie auch nur eine entfernte Chance sah, dass er passen könnte. Und er passte tatsächlich. Alles seufzte.

»Ich kümmere mich um dein abscheuliches Pferd«, sagte Navis zu Mitt. »Du legst dich schlafen.«