Alle Wege führen zum Kapitalismus

Die kommunistische Gesellschaft wird also nicht das Resultat der Revolutionen in den arabischen Ländern sein. Warum sollten die Leute dort etwas schaffen, was bislang noch keinem gelungen ist? Und wenn nicht hier und nicht dort, wo dann? Vielleicht nirgends? Unabhängig von Zeit und Ort: Gibt es überhaupt eine Alternative zum Kapitalismus?

Ebenso gut könnte man fragen, ob es eine Alternative zum irdischen Leben gibt. Ich sehe keine, aber ich habe nichts gegen Leute, die daran glauben. Vielleicht brauchen sie das. Vielleicht braucht das der Kapitalismus.

Es ist doch so: Auf dieser Welt kann man nichts Gutes tun, ohne dass es zum Gedeihen des Kapitalismus beiträgt. Und wenn man was Schlechtes tut, nützt es ihm auch.

Das ist kein Bonmot, sondern Lebenserfahrung. Wir haben damals, in der Protestbewegung, als unbezahlte und übermotivierte Hilfskräfte des heimischen Kapitals der BRD-Gesellschaft den längst fälligen Modernisierungsschub verpasst. Wir haben das »Bildungsnotstandsland Bundesrepublik« (eine Paro­le aus den Anfängen der Protestbewegung) vor dem Abstieg in die Drittklassigkeit bewahrt. Es war eine nationale Schande, dass Deutschland bei den prozentualen Bildungsausgaben auf dem Niveau von Uganda lag, wie uns vorgerechnet wurde. Wir haben die Scharte ausgewetzt.

Uns ist es zu verdanken, dass heute an den Universitäten ein Fach namens Bildungsökonomie gelehrt wird. Die Fachleute können, so sagen sie, sogar eine Bildungsrendite berechnen. Wir haben damals dafür gesorgt, dass Milliarden in den Ausbau der Unis flossen und die Professorenzahl sich innerhalb kurzer Zeit vervielfacht hat.

Ziemlich drollig das Ganze, wenn man so zurückblickt. Es bestätigt sich die Regel: »Der Mensch denkt, Gott lenkt.« Nehmen wir die Zeichenkette »Gott« als Platzhalter für je nach Belieben Kapital, Wert, Geschichte, Vorsehung, Schicksal – es stimmt immer.

Und wie trickreich! Die Kraft des Glaubens an eine Revolution und die Begeisterung für sie der Stärkung des Kapitals dienstbar zu machen, das ist schon beinahe diabolisch.

Die Frauenemanzipation hat Deutschland die höchste Beschäftigungsquote seiner Geschichte beschert. Bezogen auf die Zahl der Erwerbsfähigen war die Zahl der Erwerbstätigen noch nie so hoch, vergangenes Jahr 41 Millionen.

Das ist das gesellschaftlich notwendige falsche Bewusstsein. Es funktioniert wie die Rübe, die man dem Esel an einer Art Angel vor die Nase hält, damit er den Karren zieht. Die Menschen müssen glauben, durch ihre Anstrengung etwas Erwünschtes zu bekommen oder zu erreichen. Dann spuren sie. Wenn sie wüssten, was tatsächlich dabei herauskommen wird, legten sie sich lieber wieder schlafen.

Und die Oktoberrevolution? War gar keine Revolution, sondern eine Kriegsfolge. Und es wurde damals nicht der Kapitalismus überwunden, von dem es in Russland viel zu wenig gab, sondern der Zarismus. In China gab es überhaupt keinen. Eine Kommunistische Partei in einem Land ohne Kapitalismus - ein Witz.

Es hat auch bei mir endlos gedauert, bis der Groschen fiel. Aber nicht aus jugendlicher Begeisterung für die Bolschewiki von einst, sondern weil diese Geschichte mich derart angeödet hat, dass ich es nie über mich brachte, sie ein bisschen zu studieren. Ich verstehe bis heute nicht, wie man freiwillig Lenin lesen kann, von Mao Tse­tung ganz zu schweigen. Lieber das Telefonbuch.

Gerade der Ostblock beweist: Alle Wege führen früher oder später zum Kapitalismus. Um einen konkurrenzfähigen und zeitgemäßen Kapitalismus zu entwickeln, haben China und Russland mehr als fünfzig Jahre Stalinismus bzw. Maoismus gebraucht. Das war kein Zu­ckerschlecken. Aber die Kinderarbeit in englischen Kohlegruben war auch keins, der Fortschritt kostet seinen Preis. Die Kleinen wurden mit fünf oder sechs Jahren ins Bergwerk gesteckt und haben nur in Ausnahmefällen ihren 20. Geburtstag erlebt. Sie hatten das Licht der Welt nur erblickt, um es gleich wieder verschwinden zu sehen.

Wenn man so sachlich, nüchtern und wahrheitsgetreu die Geschichte bilanziert, sind die Leute schnell verschnupft und es kommt mit Sicherheit die vorwurfsvolle Frage: Ist das nicht der gleiche Zynismus wie im »Dritten Mann«?

Wunderbarer Film, wunderbare Szene. Und Orson Welles, ausnahmsweise ein echtes Genie, hat die Szene selbst geschrieben, obwohl Carol Reed Regie führte. Sie geht so:

Die Spannung, ob der Schieber Harry Limes seinen Freund, den Western-Autor Holly Martins, in der Riesenradgondel hoch über der Stadt ermorden würde, ist vorbei. Die beiden sind wohlbehalten wieder gelandet, und zum Abschied gibt Harry seinem skrupulösen Freund ein paar aufmunternde Worte mit auf den Weg:

»Denk dran, was Mussolinis gesagt hat. In den dreißig Jahren unter den Borgias hat es nur Krieg gegeben, Terror, Mord und Blut. Aber dafür gab es Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance. In der Schweiz herrscht brüderliche Liebe, 500 Jahre Demokratie und Frieden. Und was haben wir davon? Die Kuckucksuhr.«

Herzerfrischend. In dieser kurzen Sequenz, die so leichfüssig daherkommt, ist alles über das abendländische Ineinander von Barbarei und Zivilisation gesagt, und es ist so formuliert, dass man weder Kulturgeschichte noch Philosophie studiert haben muss, um es zu verstehen. Ich liebe Zyniker, weil sie die Heuchler brüskieren.

In diesem Fall, also bei mir, ist es freilich eher eine Mischung aus Zynismus und Sarkasmus. Wie soll man anders als mit Sarkasmus auf das scheinheilige Geflenne im Westen über chinesische Arbeitsbedingungen in Kohlegruben reagieren? In einer vergleichbaren Phase seiner Entwicklung hat der Kapitalismus im Westen weit schlimmere Menschenopfer gefordert. Das, was dabei herausgekommen ist, nennt sich dann Zivilisation, und der Papst und der Bundespräsident wollen es bewahren. Kulturförderung und Kunstbeflissenheit allenthalben, nirgends mehr Benjamins Mahnung in den Hohlköpfen, bei der Bewunderung für die großen Kunstwerke der Vergangenheit nicht das Elend der Sklaven zu vergessen, die dafür schwitzen und sterben mussten. Obwohl, es wird besser, viele Provinztheater müssen schließen. Manchmal tut sogar die Schuldenbremse Gutes.

Alle sind doch für den Fortschritt, nämlich für den gewesenen. Also den Fortschritt, der das Ergebnis von unter anderem zwei Weltkriegen und einem 30jährigen Krieg gewesen ist, in welchem die Europäer einander beinahe ausgerottet hätten. Verglichen mit den Taten mordlustiger christ­­licher Gotteskrieger damals, als Protestanten gegen Katholiken kämpften, haben Sunniten und Schiiten miteinander heute im Irak nur ein bisschen Spaß.

Diesen Fortschritt wollen alle. Den wollen sie sogar bewahren. Und sie mögen es als pietätlos empfinden, an die Kosten dieses Fortschritts erinnert zu werden, aber Zynismus ist das leider nicht, nur eine Tatsachenfeststellung.