Abendland vs. Islam: Gottlose im Religionskrieg
Wer was erreicht hat, wer es zu was gebracht hat, lebt fortan mit der Sorge, es wieder zu verlieren. Europa hat Angst. Seit 100 Jahren ist das so, seit Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes«. Der vergreisende und lendenschwache Kontinent igelt sich ein und geht in Abwehrstellung, mal gegen die USA, mal gegen die fürchterlich fleißigen Chinesen, neuerdings bevorzugt gegen den Islam. Daraus resultiert die Standardfrage im aufgeklärten Politikdiskurs, ob man eine wirkliche Revolution mit Beteiligung des Volkes überhaupt noch gutheißen kann, wenn diese bedeutet, dass anschließend die Scharia wieder eingeführt wird, wie das wahrscheinlich in Ägypten der Fall sein wird.
Mit der Scharia kenne ich mich nicht so gut aus. Ich weiß nur so viel: Wenn ein Idiot heute weder von Religion noch von Politik und auch sonst gar keine Ahnung hat – von der »Scharia« quasselt er immer. Wenn es um den Islam geht, ist jeder Dorftrottel plötzlich Spezialist für Glaubensfragen, Orientalistik und Islamwissenschaft, ja sogar für Arabisch. In jedem Diskussionsforum im Internet gibt es faschistische Hetzer, die Koran-Suren angeblich aus dem Original zitieren, um zu beweisen, wie schrecklich und gefährlich der Islam sei. Diese Akribie erinnert an Eichmanns Judenreferat im Reichssicherheitshauptamt der SS, wo mit der Zeit die umfassendste Sammlung von Judaika zusammengetragen wurde und die Beflissensten unter den Mördern sogar Hebräisch gelernt hatten. Die kannten den Talmud besser als jeder Jude. Und so ist das heute auch. Die Moslemfresser können Koran-Suren zitieren, die einem Moslem mit Sicherheit unbekannt sind.
Breivik hat viele Brüder im Geiste.
Anzunehmen ist, dass im Koran tatsächlich einige unschöne Regeln stehen. Aber das ist bei allen monotheistischen Religionen so. Davor hatte man einen ganzen Haufen Götter, einen für den Krieg, einen für die Liebe etc. Jetzt hatte man nur noch einen. Um trotzdem gemäß den Vorschriften der Glaubenslehre leben zu können, brauchte man ein einziges Religionsbuch, worin alle Wechselfälle des Lebens berücksichtigt sind. Und das bedeutet, dass es wie im Bauernkalender zu jeder Regel eine andere gibt, die das genaue Gegenteil besagt. Religionsbücher sind Ratgeber für alle Lebenslagen.
Je nach Lebenslage sucht man sich im Religionsbuch die passende Stelle aus, eine passt immer. Wenn man seinen Feind töten kann, nimmt man »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Wenn man sich mit dem Feind lieber nicht anlegen will, weil er stärker ist, nimmt man »halte die andere Wange auch noch hin«. Oder Jesus als Wutbürger passt besser zu den eigenen Interessen, also die Geschichte, wie er die Händler aus dem Tempel vertrieben hat. Der Glaube und die Machthaber profitieren einerseits von dieser Flexibilität, andererseits bedeutet sie, dass Kriege noch heftiger werden als zuvor, weil es nicht mehr nur um materielle Dinge geht, sondern um die richtige Interpretation der Heiligen Schrift.
Ich bin weder bibelfest noch könnte ich die zehn Gebote aufsagen. Mich interessieren diese Religionsbücher nicht. Ich will wissen, wie die Leute ticken, und das weiß ich. Nämlich so: Allah ist groß – aber ein Cadillac ist größer. Dem Iran geht es um Atomwaffen, nicht um fromme Sprüche.
Wir kennen den faulen Zauber doch von der Wiedervereinigung. Erst sagten die Ossis, dass es ihnen um die Freiheit ginge, auch so eine Religion. Das hätte ich mir noch gefallen lassen. Aber dann kam heraus, was sie wirklich wollten, nämlich unsere D-Mark. Und beim Geld hört die Freundschaft auf.
Überhaupt zeichnet sich das Entsetzen über die Frömmigkeit der Moslems durch einen Totalausfall jeglicher Selbstwahrnehmung aus. Wenn die Nachrichten melden, in einem islamischen Land habe eine islamische Partei die Wahl gewonnen, dann nicht ohne besorgten Unterton.
Ist es hier denn anders? Wir leben in einem Land, wo eine Christlich Demokratische Partei und eine Christlich Soziale Union zusammen mit der FDP an der Regierung sind, und wo dauernd mit dem »christlichen Menschenbild« herumgewedelt wird, welches unsere Verfassung präge.
Und wie war das mit der Homosexualität in Deutschland? Ich zitiere mal Wikipedia:
»Der § 175 des deutschen Strafgesetzbuches existierte vom 1. Januar 1872 (Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches) bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Bis 1969 bestrafte er auch die ›widernatürliche Unzucht mit Tieren‹ (ab 1935 nach § 175b ausgelagert).«
Ich habe die Zeit noch mitgekriegt, wo der Hotelier ein Doppelzimmer nur an nachweislich verheiratete Paare vermieten durfte, weil er sich andernfalls der Kuppelei strafbar machte. Und so lange ist es noch nicht her, dass eine »uneheliche Mutter« – so hieß die damals – sozial geächtet war. Kinder hatten dem heiligen Bund einer auf Lebenszeit geschlossenen Ehe zu entstammen. Wenn nicht, dann war das nicht nur für die Mama, sondern auch für die Kinder ein Makel.
Die Moslems anzuschwärzen hilft also den Westlern, die eigene dunkle Vergangenheit zu verdrängen und den eigenen Dreck, der immer noch herumliegt, unter den Teppich zu kehren. Oder es hilft, dem Objekt eigener Begierden nahe zu sein, indem man sich bei anderen Personen darüber entrüstet.
Das ist zum Beispiel beim Thema »Zwangsverheiratung minderjähriger Mädchen durch ihre Eltern« in Internetforen zu beobachten. »Der Wüstling und die blütenreine Unschuld« – der Stoff, aus dem die Träume alter Männer sind. Von denen gibt es gerade hier eine ganze Menge, aber die fliegen lieber nach Thailand, wo man mit jungem Gemüse Spaß haben kann, ohne gleich Lebenslang zu kriegen.
Komisch, dass keiner Mitleid mit dem zwangsverheirateten Mann hat. Die gleiche Gewalt, die ihm das junge Mädchen zuführte, verhindert nämlich die Trennung von der Frau, die ihn hasst und ihren Hass auskosten wird, wenn die Zeit für das Altersmatriarchat gekommen ist.
Klar, es ist bitter für die Frau, einen Mann nehmen zu müssen, den sie nicht will. Das kommt aber auch ohne Zwangsheirat vor. Nämlich dann, wenn der Mann, den sie will, sie nicht will. Liebeskummer war früher ein häufiges Selbstmordmotiv.
Die Pointe bei der Geschichte: In der Türkei ist das Thema noch beliebter und populärer als hier. Es liefert den Stoff für eine sensationell erfolgreiche Telenovela, die im ganzen Land für Gesprächsstoff sorgt. Das Publikum leidet mit dem perfekt besetzten schönen jungen Mädchen und verabscheut den ebenso perfekt besetzten viel älteren und ekelerregenden Mann. Vermutlich würde die Serie auch in Deutschland ein Erfolg, in ganz Nahost wird sie es bestimmt.
Schade, dass es bei uns Herz & Schmerz-Geschichten von vergleichbarer Qualität nicht mehr gibt. Vielleicht sollte man das Jus primae noctis wieder einführen, nur damit man noch einmal den moralischen Triumph genießen kann, der sich bei der Abschaffung dieses Unrechts einstellt. Herrliche Zeiten, als Revolutionäre vor so einfach lösbaren Aufgaben gestanden haben. Aber diese Zeiten sind vorbei, nicht nur hier, auch in Ägypten. Bestimmt bricht in den arabischen Ländern nicht das Reich der Freiheit an. Vielmehr sind dort ein paar Nachhutgefechte im Gange, die hier schon abgeschlossen wurden. Und das Ende vom Lied wird der Kapitalismus sein, ob er sich nun christlich, islamisch, konfuzianisch oder sonstwie nennt.
Natürlich kann man einerseits sagen, dass durch Revolutionen alles nur noch schlimmer geworden ist. Die Französische Revolution hat der Menschheit den Nationalismus und die allgemeine Wehrpflicht gebracht. Letztere hat es möglich gemacht, dass die Gemetzel in den beiden Weltkriegen alle vorangegangenen in den Schatten stellten. Und ohne Demokratie kein NS-Regime. Anderseits: Niemand weiß, was uns geblüht hätte ohne die Französische Revolution.
Auf jeden Fall kann man von Menschen nicht verlangen, dass sie sich mit der Despotie und den Folterkellern eines Mubarak-Regimes abfinden sollen. Sie haben das volle Recht, es mit Gewalt zu stürzen, ohne zu bedenken, was nachher kommt. Und vielleicht kommt es bei ihnen ja nicht so schlimm, wie es bei uns gekommen ist.