Noch eine Weltuntergangssekte: Verzweifelte Marxisten
Jetzt noch mal ganz ernst und ohne Blödelei die Frage: Was bedeutet es denn nun, wenn ein Schirrmacher von der FAZ einer Sahra Wagenknecht von der Linkspartei Avancen macht und wenn die Zeit »Alternativen zum Kapitalismus« sucht?
Ganz einfach: Es bedeutet, dass die Meinungsführer fühlen, was ich weiß: Es gibt keine Alternative zum Kapitalismus. Sie schwatzen darüber, weil es nur Geschwätz ist. Wie würden die Zeitungen wohl aussehen, wenn das Kapital tatsächlich bedroht wäre, wenn ein kommunistischer Umsturz auch nur als vage Möglichkeit am Horizont erschiene? Dann würde pausenlos »Die freie Gesellschaft und ihre Feinde« gedudelt, die Presse schösse aus allen Rohren.
Mit solchen Formulierungen handelt man sich nur Ärger ein. Wenn sie »kommunistischer Umsturz« hören, denken manche Leute sofort an die Partei, die immer Recht hat. Aber kommunistische Parteien sind heute nostalgische Traditionsvereine, eigentlich Folklore. Vor denen braucht sich niemand fürchten. Vielleicht erbarmen sich die Artenschützer dieser KPs, oder sie kommen ins Weltkulturerbe der UNESCO.
Jedenfalls werden sie nie wieder eine Massenbasis haben, weil es die Massen einfach nicht mehr gibt. Das Industrieproletariat ist heute in der BRD eine Minderheit, nicht umsonst heißt das Ding, worin wir leben, »Dienstleistungsgesellschaft«.
Andere Leute sind richtig gemein. Sie fassen mit der vollen Patschhand in die offene Wunde und fragen, was denn ein kommunistischer Umsturz eigentlich wäre. Genau das weiß ich nämlich auch nicht, und sie haben es gerochen. Ich weiß nur, was keiner ist. Aber wenn ich mal einen zu sehen bekäme, also so ein Ding, was ich nicht kenne, nämlich den kommunistischen Umsturz, dann, glaube ich, wäre es eine Offenbarung.
Stellen wir es uns wie bei Bildern vor. Könnte man, wenn man die Mona Lisa noch nie gesehen hat, sagen und beschreiben, wie das Bild aussehen muss? Unmöglich. Aber wenn man das Bild siehst, dann weiß man: Das ist es. Ähnlich bei aller wirklichen Kunst: Man sieht, hört, liest etwas, was man sich nie ausgemalt hatte, worauf man selbst nie gekommen wäre – und man versteht es sofort.
Das ist übrigens ein weiterer Grund, warum ich Marxisten wie Robert Kurz – der aus Marx einen Unheilspropheten macht, und der wie alle Sektenpriester ein baldiges Eintreten der geweissagten Katastrophe verkündet, ohne sich auf ein Datum festzulegen – für Totengräber der Revolution halte, harmlose Totengräber, denn die Leiche modert seit vielen Jahren im Grab. Wenn man erst mal zehn Jahre fulltime Marx büffeln muss, um gegen die bestehende Gesellschaft rebellieren zu wollen, wird die Rebellion nie stattfinden. Wer kann sich denn diesen Luxus leisten?
Und wenn er es kann, hat er sich nach zehn Jahren im Büffeln eingerichtet und büffelt einfach weiter. Was dabei rauskommt, hat man in Konkret (12/2011) nachlesen können. Das Blatt hatte eine Expertenkommission zusammengetrommelt und druckte nun Auszüge aus dem »Streitgespräch über den Kapitalismus in der Krise mit Thomas Ebermann, Michael Heinrich, Robert Kurz und Joseph Vogl.« Gremliza löcherte die Runde mit der Frage, wie man sich den großen Kladderadatsch denn vorzustellen hätte, ob die Versorgung mit Lebensmitteln zusammenbräche etc. Das hätte mich auch interessiert, aber die Wirtschaftsweisen schwiegen eisern. Mit solchen Trivialitäten geben sich Marxisten nicht ab. Stattdessen klang es so: »Der Kapitalismus, und da würde ich auch Robert Kurz recht geben, ist ein gerichteter Prozess.« Ich weiß nicht, wen dies sinnfreie akademische Geschwätz aufrütteln soll, mir fallen dabei die Augen zu.
Betrachten wir lieber die Tatsachen: Seit das Kapital existiert, stolpert es von einer Krise in die nächste. Dabei gedeiht es prächtig, Untergänge wirken aufs Kapital wie ein Jungbrunnen. Immer dann, wenn man meint, es sei am Verenden, ist es gerade dabei, neue Kräfte zu sammeln.
Wunderbar, dieses Kapital, einfach wunderbar. Sein einziger Daseinszweck besteht darin, sich zu vermehren – wie das Leben selbst. Und wie das Leben selbst schöpft es aus der Vergänglichkeit alles Irdischen seine ewige Kraft. Alles geht und ging irgendwann zu Bruch, wann und wo steht in den Geschichtsbüchern. Das scheint unvermeidlich. Aber als das Römische Reich kollabierte, da war es auch wirklich kaputt und weg, aus und vorbei. Wenn hingegen das Kapital zusammenbricht, was es wie alles Irdische von Zeit zu Zeit und sogar ziemlich oft tut, steht es danach umso besser da.
Die »zweite Natur«, wie Marx das Kapitalverhältnis gelegentlich auch nannte, weil es den Menschen mit der Macht einer fremden, undurchschauten und ungebändigten Naturgewalt entgegentritt, diese »zweite Natur« also gleicht der ersten auch in dem Sinne, dass ihr jedes Ende ein Anfang ist und das, was den Menschen als eine Katastrophe erscheint, nur ein verschwindendes Moment im unendlichen Prozess, welcher aus der Abfolge solcher Momente besteht.
Manche werden vielleicht einwenden: Trotzdem sind Konjunktur- und Krisenprognosen wichtig. Man muss schließlich wissen, was einem blüht. Wozu? Krisenprognosen sind so nützlich wie etwa die Diagnose, man sei unheilbar an Krebs erkrankt, oder wie die Vorhersage, der nächste Sommer werde Dauerregen bringen. Je später man das weiß, desto besser. Denn tun kann man dagegen nichts, das Wissen verdirbt einem nur im Voraus schon die Laune. Es gibt eben Dinge, die man besser nicht so genau weiß. Möchte jemand zum Beispiel heute schon sein genaues Sterbedatum kennen? Er hätte am Leben dann vermutlich nicht mehr viel Spaß.
Das einzig Gute an dem Krisengequatsche ist, dass es kein Mensch mehr ernst nimmt. Verglichen mit Konjunkturforschung ist Astrologie exakte Wissenschaft. Manche sagen auch: Aber Krisenprognosen sind sinnvoll, weil sie die Bevölkerung gegen das System mobilisieren, das solche Krisen hervorbringen.
Ach woher! Es ist doch so: In der Krise zeigt das Kapital den Menschen seine Krallen. Es zeigt ihnen, wie restlos abhängig von ihm sie sind. Nur das Kapital kann sie vor der Verelendung bewahren, nur das Kapital kann sie retten. Und wenn es zum ganz großen Kladderadatsch kommt, werden sie noch einmal von den Vorzügen und der Unausweichlichkeit der freien Marktwirtschaft überzeugt. Bricht alles zusammen, so ist das erste Pflänzchen, das in den Ruinen erblüht, der Schwarzmarkt. Viele verdanken ihm ihr Leben. Nur er kann die Versorgung der Bevölkerung noch halbwegs zustande bringen, wenn der Staat nicht mehr funktioniert. Und auf dem Schwarzmarkt werden die Vermögen verdient, die später das Startkapital für florierende Unternehmen sind, wir kennen das doch aus der Nachkriegsgeschichte.
Wenn eine Partie zu Ende ist, beginnt die nächste. Neues Spiel, neues Glück, wie bei Monopoly. Marxisten begreifen natürlich nicht, wie simpel der Kapitalismus im Prinzip ist. Kein Experte gibt zu, dass seine Expertise sinnlos und nutzlos ist.
Wenn man als Marxist unter Marxisten so spricht, erntet man fassungslose Staunen: Und du glaubst wirklich, dass das immer so weiter geht? Dass es nicht irgendwann den ganz großen Knall gibt? Damit ist natürlich ein Ereignis gemeint, das etwas ganz Neues, noch nie Dagewesenes wäre. Und daran glaube ich wirklich nicht. Dies Gerede vom »totalen Zusammenbruch« und der »Barbarei« ist nichts anderes als christliche Untergangsmystik. Schon Jesus hatte seinen Jüngern das Ende der Welt noch zu deren Lebzeiten prophezeit, als Ansporn, sich bei der Werbung neuer Mitglieder ein bisschen zu beeilen.
Auf den kapitalistischen Weltuntergang warten wir jetzt schon geschlagene 150 Jahre, und immer noch können die marxistischen Konjunkturastrologen uns kein Datum nennen. Sie vertrösten uns, sie wissen nur, der finale Zusammenbruch der Weltwirtschaft kommt ganz bestimmt, irgendwann – wie der jüngste Tag.
Also wenn es so lange dauert, dann kann ich auch gleich auf den Messias warten. Warum ausgerechnet auf die Katastrophe? Wenn schon Hokuspokus, dann wenigstens einer, der Freude macht.
Nicht, dass ich kein menschliches Verständnis für die Ideologie der Untergangsprognostiker aufbringen könnte. Sie erinnern an den Widerstand gegen Franco im Nachkriegsspanien. Es gab Untergrundorganisationen, es gab Attentatsversuche, keiner hat geklappt. Und irgendwann kam man als Beobachter zu dem Schluss, dass es die Spanier aus eigener Kraft einfach nicht schaffen, ihren greisen Diktator abzuhalftern. Es blieb nur der Trost, dass Franco aus Altersgründen ohnehin bald sterben würde, und das hat er 1975 getan, mit 83 Jahren. Schade. Ich hätte ihm gerne weitere zwanzig Jahre gegönnt. Eine Bevölkerung, die es nicht schafft, ihren Diktator zu stürzen, hat es verdient, ihn behalten zu müssen.
Am Kapital murksen die Marxisten schon viel länger herum als die Spanier sich mit Franco abgemüht hatten, bei stetig schwindender Hoffnung, dass eine proletarische Revolution es einmal werde hinwegfegen können. Was dann noch bleibt, ist allein das sehnsüchtige Warten auf seinen natürlichen Tod, also den des Kapitals. Die Revolutionäre verwandeln sich dabei in Betschwestern. Mit ihren gemurmelten dunklen Ahnungen von einen bevorstehenden Ende wollen sie den Untergang des Kapitals herbeireden.
Natürlich ist das, was so martialisch als Hardcore-Marxismus daherkommt, nichts anderes als windelweicher sozialdemokratischer Dünnpfiff.
Was bedeutet es denn, wenn man in Theorie und Agitation einen künftigen Totalzusammenbruch des Kapitals an die Wand malt? Nichts anderes als dies: Das Schlimmste am Kapital ist, dass es irgendwann wieder verschwindet, und zwar nicht einfach nur in die Billiglohnländer, sondern ganz von dieser Welt. Und solchen Leuten, die sich um das Ende der kapitalistischen Klassenherrschaft sorgen, soll man glauben, dass sie diese Herrschaft stürzen wollen?
Sie sagen doch selbst, nur anders formuliert: Mit dem Kapitalismus, so, wie er ist, könnten wir ganz gut leben, wenn … ja wenn nicht eines Tages das dicke Ende käme in Gestalt der Barbarei oder was immer man sich ausmalen mag.
Das ist die Haltung derer, die sich ihre Marxismus-Nische gemütlich eingerichtet haben. Fachfremd und unwissenschaftlich werden sie denken, wenn sie bei Walter Benjamin lesen:
»Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ›so weiter geht‹, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweilig gegebene. Strindbergs Gedanke: die Hölle ist nichts, was uns bevorstünde – sondern dieses Leben hier.«
Den Widerspruch, das Kapital einerseits ganz erträglich zu finden, es aber andererseits abschaffen zu wollen, lösen die Marxisten agitatorisch auf. Sie wollen den Menschen Angst machen, Angst vor einem ganz schrecklichen Ende in ferner Zukunft. Und diese Angst soll sie auf die Barrikaden treiben oder in die Arme der Linkspartei oder von wem auch immer – als wäre eine Revolution für bereits verängstigte Menschen was anderes als Selbstmord aus Angst vor dem Tod.
Darauf lassen sich die Leute nicht ein. Sie essen ja auch weiter, obgleich sie der festen Überzeugung sind, sich mit jedem Bissen zu vergiften. Irgendwann in unbekannter Zukunft an Pestizidrückständen zu verenden, ist eben doch viel angenehmer, als Übermorgen den Hungertod zu sterben.
Außerdem ist man gegen Weltuntergänge inzwischen ziemlich abgehärtet. Wider Erwarten haben wir die Pershing II, die AKWs, das Waldsterben, Tschernobyl, den Golfkrieg, die Schweinegrippe und den Klimawandel überlebt. Die Marxisten hätten ein bisschen früher aufstehen müssen, um ihre Weltuntergangsvision an den Mann zu bringen. Heute glaubt ihnen keiner mehr. Sie haben zu lange in die falsche Ecke geschaut und dabei den Untergang des Ostblock oder des Kommunismus verschlafen. Vor allem haben sie vergessen, dass sie diesen tatsächlichen Untergang weder geahnt noch geweissagt hatten, ein Umstand, der ihre prophetische Gabe stark in Zweifel zieht.
Man wird, wenn man so redet, gern gefragt, ob denn die Weltwirtschaftskrise von 1929 etwa keine Katastrophe gewesen wäre. Nein, war sie nicht. Man könnte sagen, dass das Kapital eine Katastrophe ist, die Katastrophe als Dauerzustand oder Daseinsform. Aber das Kapital selbst erleidet und kennt keine Katastrophen, eben so wenig wie die Natur.
Nicht mal dies haben die Kapitalforscher kapiert. Überhaupt habe ich den Verdacht, dass sie schlichte Gemüter sind, die sich hinter einem bombastischen Vokabular verschanzen. Wenn man das weglässt, kommt eine erschrockene Oma zum Vorschein:
»Echt Wahnsinn, wie das Kapital immer mehr wird. Wo soll das noch hinführen? Wo soll das alles bloß enden? Das kann doch nicht gut gehen! (Tut’s ja auch nicht. Keine Panik, Oma! Ein kräftiger Crash, und die Billionen sind wieder futsch. Nur nicht gleich die Nerven verlieren!)«
Ich habe jetzt den ganzen Gedanken skizziert, aber sie denken nur bis zur Hälfte. Den eingeklammerten Teil lassen sie weg.
Für die Natur ist jedes Ende ein Anfang. Als die Dinos abkratzten, bekamen die Säugetiere ihre Chance. Die waren vorher ganz klein gewesen und hatten sich tagsüber in Erdhöhlen vor ihren Fressfeinden, eben den Dinos, verstecken müssen. Wir leiden heute noch darunter, unter dem Leben unserer winzigen vierbeinigen Vorfahren als nachtaktive Erdhöhlenbewohner. Wir haben viel schlechtere Augen als Vögel und Reptilien. Wir können froh sein, dass wir überhaupt welche haben, denn unser Urahn war ein Maulwurf, und der ist bekanntlich blind.
Wenn die Dinos damals wie Menschen hätten denken und reden können, hätten sie geschrien: »Das ist eine Naturkatastrophe! Das ist der Weltuntergang!« Für sie schon. Für die Natur und die Welt aber nicht.
Die Natur kennt also keine Katastrophen. Und die »zweite Natur«, das Kapital, auch nicht. Geradezu wunderbar, wie es mit Naturkräften ausgestattet ist. Etwa so, wie ein Vulkanausbruch oder ein riesiger Waldbrand dafür sorgen, dass auf der Asche das eben noch von Lava oder Feuer vernichtete Grünzeug nachher umso prächtiger wächst.
Man muss sich einfach mal die Geschichte angucken. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam in Deutschland das Wirtschaftswunder, in Frankreich, England und den USA kam die Flaute. Warum? Weil Bomber Harris mit seinen Geschwadern die deutsche Wirtschaft auf Sanierungskurs gebracht hatte, während die lächerlichen deutschen »Wunderwaffen« – V1, V2 und so was – ungefähr das Destruktionspotential der selbstgebastelten Hamas-Raketen hatten. Reine Terrorwaffen, und im Krieg vollkommen unbrauchbar.
Je mehr Katastrophe, desto besser für das Kapital. Alles muss kaputt sein, wie damals, dann gedeiht das Kapital am besten. Das ist heute noch so, das sieht man immer wieder.
Im Libanonkrieg, als israelische Bombenflugzeuge den Abrissbagger spielten – die Bewohner wurden vorher gewarnt und hatten die Gebäude geräumt –, stiegen die Aktien der internationalen Baukonzerne. Eigentlich keine schlechte Idee: Statt unappetitliche Gemetzel zu veranstalten haut man von Zeit zu Zeit die Sachen kaputt, dann haben die Leute nachher wieder Arbeit. Was uns natürlich vor die Frage stellt, ob es nicht etwa doch so ist, dass die Gattung Mensch im Kapitalverhältnis zu ihrer artgerechten Bestimmung gefunden hat. Könnte ja sein, wer weiß.
Wogegen eingewendet wird, dass das Kapital doch nur ein gesellschaftliches Verhältnis ist und kein Subjekt, das frei nach Brecht, einen Plan macht und ein schlaues Licht ist, und dann noch einen zweiten Plan macht, gehn tun sie aber beide nicht.
Das Kapital macht keinen Plan. Pläne machen immer Menschen. In diesem Fall die Kapitalisten. Und Pläne gehen oft schief, egal ob von Kapitalisten oder Kommunisten gemacht. Irren ist menschlich. Wenn ein Kapitalist irrt, verliert er. Manchmal passiert das vielen Kapitalisten. Aber es gibt immer einen Gewinner: Das Kapital.
Natürlich ist das Kapital ein gesellschaftliches Verhältnis. Und gerade deshalb ist es die bestimmende Macht über alle Menschen, wo dieses gesellschaftliche Verhältnis herrscht. Menschen sind nun mal gesellschaftliche Wesen.
Wenn man »nur« gesellschaftliches Verhältnis sagt, ist das falsch. Alles, was man ist oder sein kann, ist bestimmt durch das gesellschaftliche Verhältnis. Stellen wir uns mal vor, es wäre die Sklaverei. Dann ist man Sklave oder Sklavenhalter, ein Drittes gibt es nicht. Auch wenn ein Herr seinem Sklaven die Freiheit schenkt, kann der nicht einfach freier Schriftsteller werden. Er käme gar nicht auf diese Idee. Sondern als freier Mann würde er sofort selbst Sklaven kaufen.
Aber solche Finessen sind Marxisten-Tratsch. Für die Realpolitik sind sie bedeutungslos. In der Realpolitik zählt die glorreiche Linkspartei, und in der Linkspartei sitzen keine Marxisten, sondern Realpolitiker, die sich ein paar Prozent Wählerstimmen davon erhoffen, wenn sie die Partei zur Sprecherin des gesunden Volksempfindens machen. Also will die Linkspartei keinen kommunistischen Umsturz herbeiführen, sondern sie will die sogenannten Spekulanten zwiebeln. Und dazu haben alle nur eine Meinung: Ist das, nach der Finanzkrise 2008 und jetzt schon wieder, nicht vernünftig und verständlich?
Nein, ist es nicht. Es ist lächerlich. Es gibt nicht Spekulanten hier und rechtschaffene, grundsolide Fabrikanten dort. In Wahrheit ist jeder Kapitalist Spekulant. Der Schnürsenkelfabrikant spekuliert darauf, dass die Kunden seine Ware auch kaufen. Wenn Schnallenschuhe in Mode kommen, hat er Pech gehabt. Und seine Bank auch.
Das ist ja das Tolle am Kapitalismus, und das macht ihn jeder despotischen Regierung überlegen, dass es keine Sicherheit gibt. Alles ist Glaube, Liebe, Hoffnung. Eines Jeden Schicksal hängt davon ab, den Willen der schweigenden Götter zu erahnen. So ein Herrschaftssystem funktioniert viel besser als Befehl & Gehorsam.
Hitler und Stalin haben es auch gewusst: Nicht das Wort des Führers war Befehl, sondern sein Wille. Und den kannte man halt nicht. Den lernte man erst kennen, wenn es zu spät war. Also kann man sich nie bequem im Sessel zurücklehnen und darauf vertrauen, man habe doch alle Anweisungen befolgt und alles richtig gemacht. Man muss vielmehr permanent versuchen, sich hineinzudenken und hineinzufühlen in den Führer oder in den Markt, man muss versuchen, die Trends zu erschnuppern, und man weiß nie, ob es geklappt hat. Dieses Risiko schärft alle Sinne, es hält einen hellwach.