Marxologie

Marx hat durch eigene Aktienspekulationen viel Geld verloren, zum Glück nur das von Engels. Der hatte ja genug davon, Marx selbst hatte keins.

Als Materialist hätte er es besser wissen müssen: Zwischen Theorie und Empirie liegen Welten. Selbstverständlich wusste er das. Im Gespräch mit Engels soll er über seine eigenen Theorien gewitzelt haben: »Und wenn es dann doch ganz anders kommt, lösen wir diesen Widerspruch eben auch noch dialektisch auf.« Trotzdem hat es ihn gereizt, bei der Zockerei mit zu machen, der Kapitalismus ist einfach unwiderstehlich.

Was bei Marx eine amüsante private Schrulle gewesen war, wächst sich bei den Marxologen aus zu einer Spielart von Scientology. Der grundlegende Unterschied: Marx wollte nur nebenbei ein kleines Vermögen machen. Den Marxologen geht es um den Status von Priestern einer Weltuntergangssekte mit Marx als Propheten.

Wie der Scientology-Gründer Lafayette Ronald Hubbard schon erkannte, hat der moderne Aberglaube nur im Gewand von Wissenschaftlichkeit eine Chance. Das war schon bei den Nazis so und ist bei Sarrazin nichts anders. Mit der Wissenschaftlichkeit aber haben Marxisten in der Regel ein Problem. Es handelt sich um Vertreter der Geistesbranche, was sich meist schon in der Schule abgezeichnet hat: Deutsch und Geschichte gut, Mathe und Physik mäßig. Das Schicksal der weichen Fächer ist es, am Katzentisch sitzen zu müssen. Man lässt sie gewähren, aber man nimmt sie nicht ernst. Ohne Gleichungen und Powerpoint geht Hard Science einfach nicht.

Umso dankbarer sind die Marxologen für das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate. Schon allein, dass es ein Gesetz sein soll: Endlich hat man mal etwas Gewissheit in der Hand. Noch besser: Endlich kann man gleichziehen mit den Profis, man kann rechnen und Kurven malen. Am besten: Die Formel ist so trivial wie die Vitaminpillenreklame und so eingängig wie die populäre Erklärung für einen angenommenen Klimawandel.

Sie gestattet es jedem, der Bruchrechnen kann, sich zum kleinen Kreis der Eingeweihten zu zählen. Deshalb muss die Formel zugleich ein Geheimnis sein. Das wird sie durch die Geschichte ihrer Entdeckung. Die Marxologen haben sie in ihrem Weisheitsbuch ausgegraben, in einer Ecke, wo noch keiner nachgeschaut hat, nämlich im dritten Band vom Kapital.

Worum handelt es sich? Um eine Wenn-Be­dingung. Wenn die Profitrate der Quotient aus Mehrwert und Kapital ist, dann sinkt sie nach Adam Riese mit der Menge des pro Arbeitsplatz erforderlichen Kapitals. Und wenn die Konkurrenz jeden Kapitalisten dazu zwingt, immer mehr teure Maschinen pro Arbeitsplatz einzusetzen, dann kommen wir nach Adam Riese zum Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate. Ganz arm dran wären demnach die Hersteller von Computerchips, weil die Fab für eine moderne CPU zwischen 3 und 5 Milliarden kostet und nach der Fertigstellung gerade mal ein paar hundert Mann beschäftigt, denen der Kapitalist die Butter vom Brot kratzen kann.

Viel besser stünde eine Gebäudereinigungsfirma da, die ebenfalls ein paar hundert Mitarbeiter beschäftigt, von denen aber jeder nur einen Plastikeimer und einen Wischer braucht, wenn er sein Werkzeug und Material nicht sogar selbst stellen muss.

Auf Länder gemünzt: Griechenland mit seiner unterentwickelten Industrie müsste Kapitalisten anziehen wie ein Misthaufen die Fliegen, während sie um China mit seinen hochmodernen Produktionsstätten einen ganz weiten Bogen machen müssten.

In ähnlichen Fällen hat Marx noch einmal nachgedacht, man kann ja auch von der Grundrente oder vom Monopolprofit ganz anständig leben, die Energieversorger und die Mineralölkonzerne ma­chen es vor.

Mit solchen Abschweifungen halten die Marxologen sich nicht auf. Sie lesen Marx, als handelte es sich um Nostradamus. Hingeworfene Formulierungen, etwa wenn Marx von einer »Spirale« oder einer »inneren Schranke« spricht, deuten sie als düstere Botschaft. Und ausgestattet mit der unerschütterlichen Gewissheit, dass es zu Ende gehen wird, sehen sie überall die Zeichen an der Wand: Genossen, der Untergang ist nah!