Oben bleiben!
Tatsache ist also, dass die spätere Entwicklung die Anfänge der Protestbewegung zu einer kindischen Illusion gemacht hat. Aber diese kindische Illusion war zugleich eine Vision, die sich auch als geschichtsbildend hätte entpuppen können. Sie war eine reale Macht, welche das Erkämpfen der winzigen kosmetischen Veränderungen, die allgemein geschätzt werden, erst möglich machte. Woodstock und der Protest gegen den Vietnamkrieg hängen zusammen.
Aber natürlich ist jede funktionierende Bewegung ein ziemlich kompliziertes Ding. Damit sie funktioniert, müssen Menschen mit ganz verschiedenen Wünschen sich mit den Hauptforderungen identifizieren können. Glänzend gelungen ist das in Stuttgart bei den Protesten gegen die geplante Bahnhofsgruft. Die Kampfparole, die bei Kundgebungen und Demos gerufen wurde, hieß einfach nur »Oben bleiben!«
Schlichtweg genial. »Oben bleiben!« – das ist der kategorische Imperativ aller Arrivierten. So denken die Bessergestellten, die in Halbhöhenlage wohnen, über den Autoabgasen und dem Pöbel. So denken die abstiegsbedrohten Mittelständler. So denkt überhaupt jeder, der noch einen unter sich hat.
Von mir selbst hatte ich geglaubt, dass es mir eigentlich nur darum ginge, mich bei Bahnreisen nicht wie die Kanalratte in der Rohrpost fühlen zu müssen. Der Zug ist das einzige Verkehrsmittel, mit dem man noch vor sich hin dösend das Vorbeifliegen der Landschaft genießen kann, und ich liebe das.
Inzwischen bin ich mir meiner selbst nicht mehr so sicher. Ich sah auf den Demonstrationen zu viele Leute aus meiner Altersgruppe. Und als Rentner erkennt man, vielleicht ohne es selbst zu wissen, in der Parole »Oben bleiben!« noch einen tieferen Sinn, so tief wie die Grube, wie das Grab, das auf einen wartet. »Oben bleiben!« – so klingt es aus tausend Kehlen, wenn aus dem Greis wieder das Trotzköpfchen wird, weil er nicht ins Gras beißen will. Und dann heißt der Bahnchef, der S21 durchpaukt, auch noch »Grube«. Kein Wunder, dass er bei Rentnern nicht beliebt ist.
So ist das bei Bewegungen. Man weiß nicht, was die anderen wollen – das wäre noch verständlich. Schlimmer: Man weiß nicht mal genau, was man selbst will, und welche Saiten es waren, die in der eigenen Brust angeschlagen wurden. Eine plausible Rationalisierung hat man natürlich schnell zur Hand, zumal als Profi in der Branche Sinn & Bedeutung. Aber die wirklichen Motive und die treibende Kraft liegen oft viel tiefer und verborgen.
Und was am Ende bei so einer Bewegung herauskommen wird, das weiß man natürlich überhaupt nicht. Oft ist es das Gegenteil des Bezweckten. In Stuttgart zum Beispiel gleich zwei Übel statt nur einem, also nicht Bahnhofsgruft allein, sondern Bahnhofsgruft + Kretschmann. Wer weiß, wozu es gut ist. Auf einer der zahlreichen Demos wurde ein Plakat hochgehalten. Darauf stand: »Mappus war überheblich. Kretschmann ist erbärmlich.« Für ein Ministeramt, so die Erkenntnis, fressen die Grünen jedem aus der Hand. Und sie fressen alles, nicht nur Bio. Die Wege zur Weisheit sind eben oft beschwerlich und dornenreich. Und teuer. Vielleicht sollte man den Aufwand für die Milliardengruft unter dem Posten Volksbildungskosten verbuchen.
Lächerlich ist die Gegenwart, die Vergangenheit war es vergleichsweise nicht. Die Mao-Kittel und die Che-Guevara-Baskenmützen damals zum Beispiel sind nicht lächerlich, sondern Jugendtorheiten gewesen, die Protagonisten waren in einem Alter, wo man sich gern modisch kleidet. Lächerlich wird es erst, wenn heute in die Jahre gekommene Veteranen selbst das Mainzelmännchen machen und sich für Zeitungen ablichten und abbilden lassen, was sie nicht getan hatten, als sie noch jung gewesen waren.
Aber die Alterseitelkeit, wie man sie heute so oft beobachten kann, im Fernsehen bei Heiner Geißler oder gerade in der Meinungsbranche und in der schreibenden Zunft, ist wohl ein unausweichlich vergreisende Populationen begleitendes Dekadenzphänomen, großartig beschrieben von P.D. James in ihrem Roman »Das Land der leeren Häuser«. Die Über-30-Partys gibt es schon, die Über-60-Partys werden folgen. Einer, der das schon früh gesehen und in ein Bild gefasst hat, war Roman Polanski in seinem »Tanz der Vampire«. Die gruselig-komische Ballszene am Ende des Films entpuppt sich vierzig Jahre später als prophetisch.
Früher habe ich die Rentner verachtet, Leute, die nichts anders tun und wollen als nicht abtreten und uralt werden. Schon der Gedanken an die Rente, selbst das Wort, war mir ein Graus. Und jetzt bin ich selbst eine dieser vegetierenden Mumien. Aber die Pointe kommt noch: Ich stelle fest, dass ich genau dies eigentlich schon mein ganzes Leben lang gewesen bin, abgesehen von der kurzen Zeitspanne, als die Aussicht auf so ein schäbiges Leben das Motiv für den Protest gegen die Gesellschaft, den Imperialismus und was weiß ich noch alles gewesen ist, ein Motiv, das man dann später irgendwo zwischen Marx und Murks ganz aus den Augen verloren hat, wofür man am Ende die Quittung bekommt.
Es geht ums ungelebte Leben. Der Protest dagegen war damals die treibende Kraft hinter den Widerstandsaktionen gegen Notstandsgesetze, Institutsordnungen und all den Kram, an den man sich gar nicht mehr erinnert. Man hat in jeden Knochen gebissen, der einem hingeworfen wurde.
In jenem Teil des Stuttgarter Schlossparks, der nun bald Baugrube werden soll, haben sich Jungs von Robin Wood in schwindelnder Höhe Baumhütten gebaut. Die Bäume selbst sollen verteidigt werden und ein angeblich dort hausendes winziges Tier namens »Juchtenkäfer«, das ich noch nie gesehen habe. Lächerlich. So lächerlich wie unsere Aktionen gegen Notstandsgesetze und Institutsordnungen damals.
Aber für die Jungs oben in den Bäumen ist es, zumal im Sommer, eine schöne Zeit, eine Gnadenfrist vor dem Abtauchen in die lebenslange Tretmühle, aus der es kein Entkommen mehr geben wird, und ein vielleicht letztmalig aufzuckender Widerstand dagegen. Und wenn ich nun diesen Jungs die Unsinnigkeit und Vergeblichkeit ihrer Aktionen unter die Nase riebe, dann wäre das so, wie wenn man einem zum Tode Verurteilten in die Henkersmahlzeit spuckt oder ihm erklärt, dass er eh keine Zeit haben wird, sie zu verdauen.
Weil die gesellschaftliche Deformation der Individuen viel tiefer reicht und immer wieder Adornos Wort bestätigt, wonach es kein richtiges Leben im falschen gibt, werden Kabarett und Satire matt und fade. Die Merkel durch den Kakao ziehen hat nur Sinn, wenn dabei herauskommt, wie vermerkelt man inzwischen selbst geworden ist, und dass es dazu der Merkel gar nicht bedurft hätte. Das schafft man ganz aus eigener Kraft. Denunziation ohne Selbstdenunziation ist öde.
Leider wird letztere gemieden und vermieden. Vor der eigenen Türe kehren will keiner. Es ist, ganz im Gegenteil, eine gewisse Selbstgefälligkeit zu konstatieren, vor allem in der Rückschau. Verlage wie Edition Tiamat in Berlin, Konkret in Hamburg, Ça Ira mit dem IFS in Freiburg, und auch die taz – sie alle und andere existieren inzwischen dreißig Jahre und länger, sie haben so lange durchgehalten, eine halbe Ewigkeit. Dort, wo sie jeweils angesiedelt sind, gehören sie schon zur Tradition, zur Lokalfolklore und zum kulturellen Erbe, sie sind mit den Jahren ein Partikel dessen geworden, was die Protestbewegung mit dem Ausdruck tiefster Verachtung als »Establishment« bezeichnet hatte. Sie sind eine Frequenz im monotonen Grundrauschen des Ensembles. Und ich beobachte interessiert, wie das eigene Durchhaltevermögen die Eigentümer oder Beteiligten mit unverkennbarem Stolz erfüllt, wo eigentlich Katzenjammer angebracht wäre. Sogar Betriebsjubiläen werden gefeiert wie bei Siemens oder Bosch. Es hatte eine Revolution werden sollen, und dann wurde es eine Papierschleuder im Dauerbetrieb. Ist das wirklich so toll? Ist es kein Elend, Bilanz zu ziehen und dabei feststellen zu müssen, dass man dreißig Jahre lang den gleichen Kram gemacht hat, ohne dass mehr als Lebenserhaltung dabei herausgekommen ist, und ohne Aussicht, dass es jemals anders werde?
Und ist es nicht symptomatisch, dass dieser naheliegende Gedanke heute rigoros verdrängt wird? Dass man sich heute durch genau die verlogenen und schwachsinnigen Lobhudeleien, die aus Anlass solcher Jubiläen produziert werden, diesen Nachrufen zu Lebzeiten, gebauchstreichelt fühlt, die früher einen Lachanfall ausgelöst hätten? Ein Titel von Christian Schultz-Gerstein fällt mir dazu ein, nur der Titel, ich weiß gar nicht mehr, um was es dort ging: »Kranzschleifen für das Leben.« Genial.
Was ist der Stolz aufs Durchhaltevermögen denn anderes als eine nachträgliche Preisgabe aller revolutionären Hoffnungen, und aller Hoffnungen der Jugend überhaupt? Spiegelt sich darin nicht genau die Lebensphilosophie des resignierten Spießbürgers, nämlich »Durchhalten!«, ganz gleich, ob man sich dabei marxistisch, kritisch, avantgardistisch, situationistisch, dadaistisch, kapitalistisch oder sonst wie kostümiert?
Wer etwas erreichen will, geht das Risiko ein, zu scheitern. Wer streitet oder kämpft, geht das Risiko ein, zu verlieren. Wer vor fünfzig Jahren eine andere Welt erstreiten wollte, ist gescheitert, und er hat verloren. Der Niederlagen sollte man sich nicht schämen. Im Gegenteil, sie beweisen, dass man einmal etwas anderes wollte als das, was heute ist.
Nur mit Trostpreisen sollte man sich nicht behängen. Sie beweisen das Gegenteil. Aber das ist keine neue Erkenntnis, schrieb ich doch schon 1976:
»Die Glücklicheren unter denen, die einst Schule und Hochschule radikal infrage stellten, die in aktiven Streiks die Abschaffung des Dozenten proklamierten und die Selbstorganisation des Studiums praktizierten, und die anhand der Thesen von Il Manifesto die Überflüssigkeit des Volksschullehrers diskutierten – sie sind nun selbst Lehrer an Schulen oder Hochschulen geworden. Diejenigen also, die einst die Zumutung empört zurückgewiesen hätten, durch ihre Arbeit in den Institutionen dieser Gesellschaft zur Funktionsfähigkeit des schlechten Ganzen beizutragen, und dies um den Preis, im Trott des bürgerlichen Berufsalltags selbst zur Schießbudenfigur mit schütterem Haar, verbitterter Seele, eisernem Pflichtgefühl und schlaffen Gliedern zu werden – sie alle sind entweder verbeamtet oder aber verelendet, dequalifiziert, kaputt, inhaftiert oder tot. Den Davongekommenen, die teils auch die Revolution nicht ohne die Rückversicherung eines ordnungsgemäßen Studiums betrieben, teils rechtzeitig ihre akademische Resozialisierung einleiteten, meist aber einfach Glück hatten – ihnen erging es nicht anders als allen in dieser Gesellschaft, die sich überhaupt noch dazu aufraffen, etwas Substanzielles zu wollen: sie endeten als gescheiterte Existenzen. Daraus ist ihnen kein Vorwurf zu machen, wohl aber daraus, dass sie das unglückliche Bewußtsein davon verdrängen.
Auffällig ist ein eiserner Vorhang aus Optimismus, der wie eine Festung verteidigt wird und jede Verständigung unmöglich macht. Ohne es recht zu merken, haben die berufstätigen Linken von den Institutionen, die sie zu unterminieren glauben, deren eigentümliches Verhältnis zum Rest der Welt übernommen. Was in dieser nicht in Ordnung ist, reduziert sich dabei aufs Funktionelle. Die Missratenheit der Welt taucht nur noch in der Form auf, wie die Institutionen sie definieren: als Objekt der Macher und Organisatoren. In diesem Verhältnis zu den Unterprivilegierten, namentlich aber auch in diesem Verhältnis zu sich selbst, sind sämtliche alltäglichen Erfahrungen abgeblockt, an deren Radikalität sich die Revolution als lebendige Notwendigkeit erweisen würde: Grauen, Ekel, Entsetzen. Die Unfähigkeit, in sich selbst das trostlose Schicksal einer gescheiterten Existenz zu erkennen, entspricht der Fähigkeit, den Umstand, daß man ein paar armen Teufeln zu Almosen nach dem Bundessozialhilfegesetz verholfen hat, mit sichtlicher Befriedigung als Erfolgserlebnis zu verbuchen. Die Verhärtung gegen sich selbst korrespondiert dem sozialfürsorgerischen Verhältnis zu den anderen Menschen. Dessen Eiseskälte ist die Voraussetzung dafür, den Deformierten auch noch freundlich auf die Schulter zu klopfen. Als Objekte brauchen sie nicht ernst genommen zu werden. Ekel und Grauen, die das Wesen ihres wie des eigenen Daseins treffen würden, kann man sich daher sparen. Als Sterilität der eigenen Erfahrung haben auch die Linken den manipulativen Blick der Institutionen übernommen. Ihre voraussetzungslose Menschenfreundlichkeit verdankt sich dabei in Wahrheit weniger der politischen Überzeugung, als daß sie ein Erfordernis des Berufslebens ist: als Lehrer ist man gezwungen, mit den Schülern auszukommen, und sei es durch Anbiedern.«
Wieder ein Beweis dafür, wie wenig sich die Zeiten geändert haben.