Wo kommt der Kapitalismus her?
Ist das nun etwa doch Kritik am Kapitalismus geworden? Damit gebe ich mich nicht mehr ab. Kritik am Kapitalismus ist, wie wenn die Maus dem Elefanten auf den Fuß tritt. Der Maus mag es Befriedigung verschaffen, sie kann vor anderen Mäusen damit angeben, der Elefant merkt davon nichts.
Aber deshalb hört man nicht plötzlich mit dem Denken auf, wenn man es gewohnt ist. Das kann man gar nicht. Man macht genau das, was die Hamsterer von gebrauchten Joghurtbechern machen. Man macht weiter. Die mit dem Sammeln. Man selbst mit dem Denken. Sinnlos ist beides. Aber auch ein sinnloser Tag hat 24 Stunden. Und gerade weil die Denkerei so sinnlos, also praktisch unbedeutend ist, kann man sich auch sinnfreie Spekulationen leisten.
Der Kapitalismus ging beispielsweise mit einem rasanten Bevölkerungswachstum einher. »Aus 23 Millionen Menschen im Jahr 1816, gezählt auf dem späteren Reichsgebiet, waren bis 1914 fast dreimal so viele geworden, nämlich 67 Millionen«, hatte ich mal ermittelt. Im gleichen Zeitraum haben die Europäer durch Auswanderung noch die halbe Welt gefüllt. Das schaffen heute nicht mal Chinesen und Inder. Also Kapitalismus = sprunghaftes Wachstum der Bevölkerung.
Doch jetzt kommt die spannende Frage: Was ist Ursache, was ist Wirkung? Für den Marxisten sind die Prioritäten klar, Schuld hat immer das Kapital. Wie aber, wenn der Kapitalismus nur das Derivat von übermächtigen Populationsgesetzen wäre? Wenn man die Hypothese aufstellen würde, dass eine bestimmt Bevölkerungsdichte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Kapitalismus produziert?
Über diese Populationsgesetzte wird man niemals etwas Genaues in Erfahrung bringen, ebenso wenig wie über den Klimawandel, weil die Beobachtungszeiträume, um valide Daten zu erheben, jedes menschliche Maß um Dimensionen übersteigen. Aber zu existieren scheinen sie. Populationen, Zivilisationen und Imperien sind entstanden und wieder verschwunden. Das ist so. Warum? Keiner weiß es. Hingegen weiß man wieder, dass die Durchschnittsgröße einer Bevölkerung, gemessen von Scheitel bis zur Sohle, schwankt. Die Menschen werden länger, dann schrumpfen sie wieder, werden wieder länger etc. Und keiner weiß, warum.
Es geht um die Frage, wer eigentlich am längeren Hebel sitzt, die Menschen mit ihren Schnapsideen, von denen eine der Kapitalismus ist, oder am Ende eben doch die Natur. Schließlich ist der Mensch selbst ein Stück Natur, er ist ein Naturprodukt, in der Fabrik gemacht wurde bislang noch keiner.
Und am natürlichsten verhält er sich, wenn er genau das tut, was den »Naturschützern« überhaupt nicht gefällt. Ein Heuschreckenschwarm verschwendet auch keinen Gedanken an »Nachhaltigkeit«, also daran, dass auf dem Landstrich, den er gerade ratzekahl frisst, auf absehbare Zeit nichts Essbares mehr wächst. Die Karnickel in Australien vereinbarten keine Ein-Kind-Politik, weil sie keine Fressfeinde hatten, sondern sie mühten sich, den Kontinent in eine einzige Karnickel-Kolonie zu verwandeln. Und niemand kann bestreiten, dass Heuschrecken und Karnickel Natur sind.
Aber der Mensch, so sagt man, habe doch einen Verstand. Nicht sehr viel, muss man einwenden, wenn man an die Naturschützer denkt, die mit ihrem Dogma den Bock zum Gärtner machen wollen.
Doch jetzt kommt schon die nächste spannende Frage: Welcher Mensch? Der Mensch als Einzelwesen, als Individuum? Oder der Mensch als Kollektiv? Wie jedes Tier kann der Mensch nur existieren, wenn viele seiner Sorte vorhanden sind. Beim Menschen ist die Masse nicht nur die biologische Grundlage seiner Existenz, sondern die Voraussetzung seiner Menschlichkeit. Lebte nur einer auf der Welt, könnte er nicht mal sprechen, weil die Sprache nur im Verkehr vieler Menschen untereinander entstehen kann.
Der einzelne Mensch wird also erst durch das Kollektiv zum Menschen. Aber die Kollektive – jetzt kommen wir wieder zu Marx – folgen eigenen Zwecken und einer eigenen Logik, die der einzelne Mensch nicht kennt und nicht versteht.
Jedenfalls bis Marx kam und die Sache mal erklärte mit der Erkenntnis, dass alle bisherige Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen sei. Und jetzt? Bin ich dadurch schlauer geworden? Kaum. Wenn ich weiß, dass ich dumm bin, bin ich deshalb nicht klüger.
Wie wird es also mit dem Kapitalismus weitergehen? Das würde mich selbst interessieren. Die hohen Raten für Wirtschaftswachstum waren immer mit hohem Bevölkerungswachstum verbunden. Das war im 19. Jahrhundert so, und genauso in Zeiten des Wirtschaftswunders hier, wo fünfzehn Millionen konsumfreudige Flüchtlinge ohne Gepäck in die alte Bundesrepublik geströmt waren. Das ist heute so, wo die amerikanischen Staatsschulden viel weniger als die europäischen drücken, weil es in den USA, anders als in Europa, immer noch einen nennenswerten Geburtenüberschuss und ein Bevölkerungswachstum gibt. Und in den Schwellenländern natürlich auch. Aber wie sieht das in dreißig Jahren aus, wenn die chinesische Ein-Kind-Politik Früchte trägt und in Indien die europäische Lebensphilosophie sich durchsetzt, »Eigentlich wollten wir ein Kind, aber dann wurde es ein Auto«?
Marxisten reagieren auf solche Spekulationen irritiert. Manche fragen mich, ob ich die Hypothese, dass eine bestimmte Bevölkerungsdichte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Kapitalismus produziert, etwa tatsächlich glaube. Das wüsste ich selbst gern. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass ich diesen Gedanken denke, und das bedeutet, ich schließe ihn nicht mehr aus.
Wenn ich diesen Gedanken habe, geistert er in allen Köpfen herum, auch in den Köpfen der orthodoxen Marxisten. Es ist vermessen, zu glauben, irgendeinen Gedanken hätte man für sich allein. So schlau oder dumm, wie man selbst ist, sind die anderen auch. Die Frage ist nur, ob man sich über solche Gedanken Rechenschaft ablegt, oder ob man versucht, sie zu unterdrücken und zu verscheuchen.
Wenn aber Zweifel an der Idee des Kommunismus unterdrückt und verscheucht werden müssen, verwandelt diese Idee sich in einen reinen Glaubensgrundsatz, und der Preis für das unbeirrbare Festhalten an ihm ist die Absorbtion aller Geisteskräfte für diesen einen Zweck. Die Linientreue lähmt, sie verwandelt die Marxisten in die Anhängerschaft verschiedener zerstrittener Sekten.
Tatsache ist, dass wir im Augenblick nicht wissen, ob ein »Verein freier Prouzenten« oder »Verein freier Menschen« – Marxens Umschreibung für das, was der Kommunismus wäre – möglich oder der Kapitalismus unvermeidlich ist. Wir wissen es einfach nicht, und in dieser Situation hilft ein fester Glaube allein nicht weiter.
Ich ließe mich gern davon überzeugen, dass meine Zweifel unbegründet sind. Leider sehe ich keinen, der das tut. Der Kommunismus existiert nun schon so lange ausschließlich im Ideenhimmel, dass man anfangen muss, daran zu zweifeln, ob er überhaupt jemals auf die Erde niederkommt. Um den Zweifel abzutöten, braucht man inzwischen schon fast die Glaubenskraft der frühen Christen. Ich bewundere Leute, die solche Glaubenskraft besitzen, ich selbst gehöre leider nicht dazu. Die Frage ist freilich, ob Leute, die so viel Glaubenskraft investieren können, dafür nicht höhere Renditeerwartungen fordern, als der Kommunismus sie bieten kann. Die Heilsversprechen der richtigen Religionen mit Paradies und Wiederauferstehung von den Toten sind eindeutig lukrativer.