Schon Marx hatte sich am Kapitalismus die Zähne ausgebissen
Überhaupt kann man den Kapitalismus nur bewundern, je länger man sich mit ihm befasst. Marx ging es wohl ganz ähnlich, er hat am Ende auch nicht mehr gewusst, durch was man ihn ersetzen könne. Das Kapitel über den Kommunismus am Ende vom dritten Band des Kapitals ist ganz kurz. Und bestimmt nicht deshalb, weil Marx zu früh gestorben ist, um das Werk zu vollenden. Auch wenn er noch weitere 100 Jahre gelebt hätte, wäre ihm das nicht gelungen.
Ich habe drei Erklärungen.
Die erste: Bekanntlich reicht es nicht, das »Kapital« zu lesen. Viel interessantere Gedanken findet man oft verstreut im Rohentwurf. Wie jeder Autor stand Marx irgendwann vor dem Problem, die Gedankenfülle der Vorstudien in eine publizierbare Form zu packen. Dabei gehen immer eine Menge Gedanken über Bord, jeder, der schreibt, kennt das: Verzichte ich zugunsten der Übersichtlichkeit und der Systematik auf eigentlich wichtige Gedanken, oder verzichte ich auf Systematik zugunsten wichtiger Gedanken?
Um diesen Verlust zu vermeiden, um diesem Dilemma zu entkommen, schrieb schon Nietzsche Aphorismen, oder später Adorno die »Minima Moralia«. Adornos Hauptwerk ist die »Minima Moralia«, nicht die »Negative Dialektik«. Marx steht am Übergang von einer Welt der großen philosophischen Systeme zu einer Welt, die sich systematisch nicht mehr erfassen und darstellen lässt. Marx ist der letzte große Systematiker und zugleich der Erste, bei dem die Bruchstücke so wichtig sind wie das ausgearbeitete System. Das »Kapital« ist das bewundernswerte Dokument eines großartigen Scheiterns. Die Zeit für solche Werke war vorbei, nach Marx hat keiner mehr welche zustande gebracht.
Die zweite: Als Marx mit der Arbeit begann, da glaubte er, befeuert vom revolutionären Elan dieser Zeit, zu wissen, was der Kommunismus wäre. In den folgenden Jahren der Stagnation war dieser Glaube verblasst und am Ende ganz verschwunden. Das Zeitfenster für die proletarische Weltrevolution hatte sich wieder geschlossen. Und Marx war zu unerbittlich gegen sich selbst, zu wahrheitsliebend und zu ehrlich, um gegen seine Überzeugung seichte Banalitäten über den Kommunismus an danach hungernde Jünger gewinnbringend zu verteilen, wie es die heutigen Erbauungsbücher über »Alternativen zum Kapitalismus« tun.
Die dritte: Marx hat zu lange und zu tief gegraben. Er hat wirklich alles über das Kapital herausgekriegt. Und deshalb wusste er, dass es unbezwingbar sein würde. Wer in das Labyrinth eintaucht, um es zu ergründen, findet den Ausgang nicht mehr. Wie schon gesagt: Es gibt Dinge, die man besser nicht wissen sollte. Marx wusste zu viel, denn Wissen kann auch lähmen. So gesehen, sollten Revolutionäre »Kapital«-Schulungskurse meiden. Manchmal kann das Unmögliche ja doch gelingen, aber nur, wenn man von seiner Unmöglichkeit keine Ahnung hatte. Das Kapital ist mehr als nur Vermögen, es ist ein Mysterium, eine Religion. »Macht euch die Erde untertan« – war das nicht Gottes Wort, das Wort unseres Christengottes? Das Kapital ist sein Vollstrecker, nicht der Vatikan.
Es gibt den Spruch, der Glaube könne Berge versetzen. Das kann er natürlich nicht, mit einer Ausnahme: Der Glaube an eine gute Rendite schafft es wirklich. Kraft dieses Glaubens wurden der Suezkanal und der Panamakanal ausgehoben, kraft dieses Glaubens wurde der Ärmelkanal untertunnelt. Bei jedem dieser Projekte haben die Anleger ihr Geld verloren. Aber die Kraft ihres Glaubens hatte die Kanäle und den Tunnel wahr werden lassen. Und nun schwimmen die Schiffe drin oder es fahren Züge durch. Ist das nicht wunderbar?
Oder nehmen wir die Immobilienblasen, egal ob Spanien oder USA. Die Banken haben sich verzockt, aber das Resultat der Zockerei ist, dass die Häuser ja nun gebaut sind und dastehen. Und wenn die Preise weit genug gefallen sind, wird auch wieder jemand darin wohnen. Das könnte er nicht, wenn es die Häuser gar nicht gäbe. Es ist schön, dass es jetzt so viel Wohnraum gibt, es war gut, dass so viele Bauarbeiter ein Auskommen hatten. Und wenn dabei die Buchhaltung etwas durcheinander gekommen ist – das kann man alles richten. Klar machen die derzeitigen Immobilienbesitzer mit Zelt und Wohnwagen Bekanntschaft. Aber des einen Pech ist des anderen Glück. Bevor die Häuser verrotten können, werden die Banken sie verramschen, und notfalls zu Preisen, die weit unter den Gestehungskosten liegen. Wer dann zugreifen kann, macht ein Schnäppchen. Jeder freut sich, wenn er Konkursware billig kriegt.
Gibt es was Blöderes als diese »Schuldenbremse«? Was für ein Idiotenwort. Ist es nicht besser, wenn es schöne Häuser gibt und die Bank oder sonst wer pleite ist? Wäre es umgekehrt besser? Ist ein schuldenfreies Leben in bitterer Armut besser als ein gutes Leben auf Kredit?
Doch, es gibt was Blöderes als die Schuldenbremse, nämlich die Begründung für sie. Man sucht sich dafür die Kleinen aus, die nichts verstehen und nicht wiedersprechen können, nämlich die Kinder. Die seien es doch, die die von uns angehäuften Schuldenberge einmal abtragen werden müssen.
Irrsinn. Was kann den Kindern besseres passieren, als in einem Land aufzuwachsen, das sich, und sei es auf Kredit, gutes Essen, gute medizinische Versorgung und gute Schulen für die Kleinen gönnt?
Und die Schuldenlast in fünfzig Jahren: Bis dahin sind wir alle verschmort oder ersoffen, je nachdem, welcher Fraktion der Klimawandler man glauben will. Ulkig, wie man uns einerseits dauernd das baldige Ende prophezeit, und uns andererseits anspornt, möglich schuldenfrei ins Jenseits zu gehen.
Wir wissen nicht mal, was morgen passiert. Aber uns wird suggeriert, in fünfzig Jahren werde die Welt immer noch dieselbe sein wie heute. Der Euro soll auf der Kippe gestanden haben. Geht morgen der Dollar kaputt, sind nicht nur die USA, sondern ist die ganze Welt mit einem Schlag schuldenfrei, weil die meisten Schulden auf Dollarbasis laufen.
Reemtsma hat mir mal einen guten Witz erzählt: Ein bitter armes altes Ehepaar, hungrig und frierend mitten im Winter. Der Mann geht fort und kommt beladen mit Schinken, Wurst und den feinsten Sachen zurück. Woher? Vom König. Wofür? Der Mann erklärt: Er habe mit dem König einen Vertrag geschlossen. Binnen fünf Jahren müsse er seinem Pudel das Sprechen beibringen. Aber wenn er das nicht schaffe werde er geköpft. Die Frau bricht in Tränen aus. Der Mann tröstet sie: »Fünf Jahre – kann sein, ich sterbe vorher. Kann sein, der Hund stirbt. Kann sein, der König stirbt.« Das ist die richtige Einstellung zu Zukunftsfragen.
Typische Reaktion auf propagierte Sorglosigkeit: »Aber wenn die ganze Welt plötzlich schuldenfrei wird, sind deine Spargroschen auch futsch.«
Ärgerlich. Es wird mich gewaltig wurmen. Na und? Wenn ich Geld zur Bank bringen kann, habe ich Geld übrig, das ich es nicht zum Leben brauche. Lebe ich schlechter, wenn es nicht mehr auf dem Sparbuch ist?
Solange nicht, wie die regelmäßigen Bezüge, Einkommen oder Rente, weiterlaufen. Machen wir es doch so: Die Sparguthaben werden einkassiert, und als Kompensation wird das bedingungslose Grundeinkommen eingeführt.