Als Lisa in den Rückspiegel blickt, kann sie den Widerschein des Lichtermeers erkennen, der den nächtlichen Himmel überzieht wie ein sanfter Flaum.

Vor ihr aber erstreckt sich schnurgerade die schwarze Autobahn. Gleichmäßig verschlingt der Wagen Stück für Stück die durchbrochene Linie, die sich in der Mitte der Straße entlangzieht.

Auf dem Beifahrersitz neben ihr ist Till zur Seite gesunken und eingeschlafen. Ihre Schwester und ihre Mutter hat Lisa vorhin noch zu Betty nach Hause gefahren. Bettys Haus würde sich außerhalb der primären Gefahrenzone befinden, hatte ihnen ein Straßenposten versichert, und die beiden Frauen wollten dort bleiben, bis sich die Lage geklärt haben würde. Lisa und Till aber haben sich aufgemacht, um die Stadt zu verlassen.

Lisa beugt sich nach vorn und dreht am Autoradio. Es knackt, dann dringt leise Musik zu ihr in die Fahrzeugkabine.

Sie hat mit Till geschlafen, vorhin, kurz nachdem sie die Stadtgrenze überquert hatten. Sie haben auf einem Parkplatz gehalten, sind in den angrenzenden Wald gegangen - und haben sich auf den Boden gelegt.

Lisa hat ihren Kopf auf seinen Bauch gebettet und zugehört, wie Till begonnen hat zu sprechen - von der Zeit vor etlichen Jahren, als er zum ersten Mal bei ihnen aufgetaucht ist. Während sie Till zugehört hat, hat Lisa es alles wieder vor sich gesehen: Max, Betty, Claire, ihre Mutter … wie sie damals unbeschwert in dem Haus gelebt haben - und ihren Vater, den sie kurz darauf verloren hat. Zuerst hat Lisa nicht verstanden, was Till ihr zu sagen versucht hat. Irgendwann aber hat sie begonnen zu begreifen.

Till war derjenige, der für das Verschwinden ihres Vaters verantwortlich war. Es war kein Zufall, dass ihr Vater nicht mehr aufgetaucht ist, nur wenige Wochen nachdem Till in ihrer Familie aufgenommen worden war. Till hat ihn auf einer Wanderung durch die verborgenen Stollen unter der Stadt in einen Verschlag gesperrt.

Minutenlang hat Lisa Till dabei zugehört, wie er von Max erzählt hat, von Dingen, die sie im Gartenhaus des Vaters entdeckt hatten, davon, was Max und er als Kinder damals meinten glauben zu müssen.

Sie hat auf dem Waldboden gelegen und seiner Stimme gelauscht, während er versucht hat, die richtigen Worte zu finden. Während er versucht hat, ihr zu sagen, dass er nicht nur schuld war am Tod ihres Vaters, sondern auch am Zusammenbruch ihres Bruders.

Irgendwann hat Lisa aufgehört, auf Tills Worte zu achten, aufgehört, sich darum zu bemühen, den Sinn zu erfassen, den sie haben mochten - und sich ganz dem Gefühl hingegeben, das sie für den Mann empfand, auf dem sie lag. Gewusst, dass sie ihn - wenn sie ihn jetzt noch einmal verlor - nicht wieder finden würde.

Sie hat seine Hand genommen und auf ihren Körper gelegt, gespürt, wie er unter ihre Bluse geglitten ist und sie entblößt hat, wie er sie berührt und geliebkost hat, bis das Verlangen sie beide fest im Griff hatte.

Gleichmäßig zieht der weiße Streifen in der Mitte der Fahrbahn an ihr vorbei.

Sie kann noch fühlen, wie Till mit ihr geschlafen hat, und sie weiß, dass der Tag günstig war. Sie hat nichts dagegen unternommen, schwanger zu werden, und sie ist sich sicher, dass auch Till das nicht gewollt hätte.

Max.

Sie werden das Kind Max nennen, wenn es ein Junge werden sollte, denkt Lisa. Und Claire, wenn es ein Mädchen wird, denn Lisa ahnt, dass sie Claire nicht wiedersehen wird.

Es knackt. Die Musik, die aus dem Radio dringt, verliert sich.

Eine Stimme ist zu hören, die die Sendung unterbricht, aber Lisa kann nicht verstehen, was die Stimme sagt - zu sehr sind die Worte von einem elektrischen Knistern überlagert.

Dann dringt nur noch ein gleichmäßiges Rauschen in die Fahrzeugkabine, das sich mit dem dumpfen Brummen des Motors vermischt.

Nacht.

Es ist Nacht draußen und die beiden Scheinwerferkegel, die vor Lisa über den Asphalt huschen, sind das Einzige, was sie noch sehen kann.

Sie fährt weiter, aber die Welt um sie herum versinkt.

 

 

 

ENDE

Berlin Gothic 7: Gottmaschine
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