„Ich habe dich so lange nicht richtig angeschaut, Till, komm doch mal her, hier ans Licht … ja - genau.“
Es ist nicht weit gewesen. Was ihm als Junge wie eine Weltreise vorgekommen wäre, hat keine zwei Stunden gedauert. Zwei Stunden Marsch durch die bewaldete, hügelige Sandlandschaft am südlichen Stadtrand Berlins. Zwei Stunden von Brakenfelde bis zum Haus der Bentheims.
Die Sackgasse, die Veranda mit den mächtigen Säulen, die Freitreppe, die auf das Dach des Vorbaus führt. Es ist alles noch da. Nicht ganz so frisch angemalt wie damals, nicht mehr so gut gepflegt, dafür aber umso verwunschener. Mit Bäumen, die noch älter, Sträuchern und Hecken, die noch dichter geworden sind und den Blick in den Garten des Hauses noch weniger durchlassen.
Als Till an der Villa angekommen ist, ist die Haustür verschlossen gewesen und niemand hat auf sein Klingeln geöffnet. Er ist an dem Haupthaus vorbei in den Garten gelaufen, hat die Glastür zum Wohnzimmer offen stehen gesehen und das Haus ohne weiteres betreten. Hat den flüchtigen Mischgeruch nach frischer Wäsche und Holz wahrgenommen, der sich in all den Jahren nicht geändert zu haben schien. Vom Wohnzimmer aus ist er in die Halle gegangen, hat das ganze untere Stockwerk abgesucht, aber niemanden angetroffen. Erst im oberen Stockwerk hat er sie dann entdeckt. Julia Bentheim. Die Mutter von Max und Lisa hat in dem gleichen Schlafzimmer gelegen, in dem auch früher schon ihr großes Doppelbett gestanden hat, das sie sich damals jedoch, als Till hier gewohnt hat, noch mit Xaver geteilt hat.
„Er hat es so gewollt, Till. Er meinte, dass es gut für dich wäre“, hört Till sie sagen und er spürt, wie Julias Blick sein Gesicht überwacht, um zu sehen, wie er diese Nachricht aufnimmt.
Grauhaarig und ein wenig zusammengeschnurrt liegt sie vor ihm, obwohl sie noch gar nicht so alt ist. Der Verlust des Sohnes scheint die Lebenslust aus Julia herausgerissen zu haben.
Nein, ihr fehle eigentlich nichts, hat sie auf seine Nachfrage geantwortet, und Till hat gesehen, wie sie sich gefreut hat, ihn bei sich zu haben. Sie habe sich nur ein wenig müde gefühlt und deshalb ins Bett gelegt.
Er hat sich zu ihr auf die Bettkante gesetzt und erst langsam, dann immer hastiger davon berichtet, wo er gerade herkommt.
Wie das sein kann, dass Brakenfelde so nah beim Haus von Felix von Quitzow liegt. Dass nicht einmal ein Zaun die beiden Grundstücke voneinander abgrenzt.
Lange schaut sie ihn von ihrem Kissen aus an, und vielleicht zum ersten Mal fällt Till auf, wie ähnlich sich Julia und ihre Tochter Lisa eigentlich sehen.
„Er wollte, dass du stark wirst, Junge, stark und mit eiserner Durchsetzungskraft, damit du einmal zuende bringen kannst, was er und Xaver begonnen hatten. Er hatte kein Vertrauen in Max. Er hielt ihn für labil, für unkonzentriert und verdreht. Er meinte, dass du das Vorhaben übernehmen solltest, wenn Max dazu zu schwach sein würde.“
Till starrt sie an. Und wenn er genau hinsieht, kann er auch erkennen, dass Julia die Frau ist, die sich damals nach dem Unfall über ihn gebeugt hat - nach dem Unfall auf dem Alexanderplatz, als er vor ihren Wagen gelaufen ist.
„Ich sollte dich nicht aus den Augen lassen, Till. Nach dem Tod deines Bruders hat er alles dafür getan, dass immer jemand auf dich aufpasst. Er wollte nicht, dass dir etwas zustößt. Auch nachdem du aus Brakenfelde geflohen bist, warst du nie wirklich allein. Als du mir plötzlich vor den Wagen gesprungen bist … damals auf dem Alexanderplatz, erinnerst du dich? Ich konnte nicht mehr schnell genug bremsen. Ich sollte dich im Auge behalten - anfahren natürlich nicht. Ich habe einen furchtbaren Schrecken bekommen und war unendlich erleichtert, als Trimborn festgestellt hat, dass dir nichts passiert ist.“
Während Till ihren Worten lauscht, ist es ihm beinahe, als würde sein ganzes Leben, seine Persönlichkeit, seine bisherige Existenz zerplatzen wie ein filigranes Traumgebilde, das beim Herauftauchen aus dem Schlaf zerstäubt. Als würde derjenige, für den er sich immer gehalten hat, umgekrempelt werden wie ein Handschuh, dessen Inneres man nach außen stülpt.
„Warum hast du mir denn nie … “, seine Stimme ist belegt, und doch wendet er den Blick nicht von ihrem Gesicht ab, das er in all den Jahren so lieb gewonnen hat, „ … warum hast du mir denn nie etwas darüber gesagt, Julia - wie konntest du das vor mir verschweigen?“
Er sieht, wie es sie aufwühlt, darüber zu sprechen. „Du warst ein prächtiger, gesunder Junge, Till.“ Ihr Blick ist weich und sie hat seine Hand genommen. „Ich hatte das Gefühl … ich weiß nicht. Max war unglücklich, zerquält, zerfurcht, zermartert, ständig habe ich mir über ihn Sorgen gemacht. Aber du? Du hattest etwas Unbeschwertes, Glückliches an dir … und ich wusste nicht … ich wusste nicht, ob ich das nicht zerstören würde, wenn ich dir sagte, wer dein Vater ist.“
Felix.
Felix von Quitzow ist sein Vater. Felix hat ihn und seinen Bruder Armin nach Brakenfelde gegeben, damit sie im Kinderheim aufwachsen. Um sie abzuhärten, um sie der Aufgabe gewachsen zu machen, die Felix für seine Söhne ins Auge gefasst hatte. Sie sollten einmal das Vorhaben fortführen, das er schon damals im Kopf gehabt hatte. Das fiktive Universum fortsetzen - gerade so, wie Felix es vorhin mit Till besprochen hat. Natürlich wusste Felix auch damals schon, dass die Maschine, die ihm vorschwebte, ihren Zweck erst erfüllen können würde, wenn viele kommende Generationen daran gearbeitet haben würden. Aber Felix war auch klar, dass seine Maschine ihr Ziel überhaupt jemals nur erreichen konnte, wenn in jeder einzelnen zukünftigen Generation alles richtig gemacht werden würde. Wenn in jeder einzelnen Generation alle Arbeiten an der Maschine in genau die richtige Richtung gehen würden. Wenn jeder neue Baustein des fiktiven Universums die Sucht der Menschen nur noch steigern würde, bis schließlich alle dem Sog verfielen. Dafür, dass seine Nachfolger dies hinbekämen, hatte Felix sorgen wollen, indem er Till und Armin nach Brakenfelde geschickt hat - wo sie abgehärtet werden sollten, wo ihr Geist geschliffen werden sollte, anstatt im Überfluss weich zu werden.
Armin jedoch hat das nicht überlebt.