‚Lisa wird es nicht ertragen, wenn sie erfährt, dass du ihren Vater getötet hast.‘ Das war es, was Felix Till auf dem Dach zugerufen hat, nachdem er Till und Lisa durch sein Auftauchen auseinandergetrieben hatte. Fast ist es Till so vorgekommen, als hätte Felix die beinahe fleischliche Verbindung, die zwischen ihm und Lisa sofort wieder bestanden hatte, mit seinen Zähnen regelrecht durchbissen.

‚Sie wird nie wieder glücklich werden, wenn sie begreift, was derjenige, den sie liebt, ihr angetan hat, Till. Du musst die Liebe, die sie für dich empfindet, in ihr löschen!‘

Felix wusste, dass Till Lisas Vater in den Verschlag gesperrt hatte - Max selbst hatte es Felix erzählt, als Max bereits entschlossen war, nach Rom zu gehen, und Felix die Rechte an den Büchern seines Vaters überlassen hatte - als Max bereits alle Hoffnung hatte fahren lassen.

‚Sie wird niemals glücklich werden, wenn sie erfährt, was du ihr angetan hasst, Till. Du musst sie von dir befreien.‘

Und Till hat Felix recht gegeben.

Er hat Lisa von sich gestoßen. Aufgerieben wie er war von den Ereignissen, die sich in den wenigen Stunden seines Aufenthalts in Berlin geradezu überstürzt hatten: Erst Max‘ Beerdigung, dann das Erwachen in dem Kellerloch, schließlich das Wiedersehen mit Lisa.

‚Ich habe immer an Irina oder Nina denken müssen, um mit dir schlafen zu können.‘

Aus dem Augenwinkel heraus hat Till gesehen, wie Lisa von dem Tisch, an dem sie gesessen hatten, aufgestanden ist und auf ihn herabgeblickt hat. Es ist ihm vorgekommen, als hätte er ihren Atem an seinem Ohr gespürt, ihre Bewegungen unter sich gefühlt, während sie sich in einer Vereinigung verloren. Aber sie haben nicht schweißnass zwischen zerwühlten Laken gelegen, sie haben sich in einem Restaurant befunden - und Lisa ist zur Tür gegangen, während er sitzen geblieben ist.

Seit er sie hat verschwinden sehen, ist es in Tills Kopf wie ein Rauschen - ein Summen, als wäre er unter einer luftdichten Glocke verschlossen, ein Summen, das sich mischt mit dem Pochen und Puckern an seiner Seite, wo die Nähte gerissen sind.

„In dem Keller, beim Rattenmann, weißt du?“, hört er Felix neben sich sagen. „Er hat um Hilfe geschrien, und du? Was wolltest du tun? Die Wand aufreißen, um ihn zu retten? Natürlich wolltest du das - aber getan hast du es erst einmal NICHT, Till. Du hast auf mich gehört - und den Mann weiter um sein Leben schreien lassen, brüllen, toben, rasen.“

Till sieht Felix neben sich auf dem Bürgersteig stehen, gerade sind sie ebenfalls aus dem Restaurant ins Freie getreten, in dem Till Lisa vor den Kopf gestoßen hat. Auf der Straße herrscht rege Betriebsamkeit, ein hoher Sirenenton scheint in der Luft zu stehen. Till hört Felix auf sich einreden, aber es ist fast, als würden Felix‘ Worte an ihm abprallen wie Gummibälle.

Warum verlasse ich diese Betonstadt nicht endlich?, geht es Till durch den Kopf. Er wollte ohnehin nicht lange bleiben. Raus hier, raus aus diesem Kessel, weg von diesem Sirenenton, der sich immer hartnäckiger in seine Schläfe zu schrauben scheint. Weg von dem beginnenden Sommer, der heißer zu werden verspricht als jeder andere Sommer, den diese Stadt je erlebt hat.

„Du tust nicht, was du willst, Till. Wolltest du Lisa vor den Kopf stoßen? Wolltest du ihr weh tun, sie von dir fortscheuchen, sie verletzen, so sehr, dass sie sich von dir abwenden würde. WOLLTEST DU DAS?“

Till sieht ihn nicht an.

„Natürlich wolltest du es nicht, Till. Du hast den natürlichen Impuls, der dich zu ihr treibt, in dir bekämpft - hast den Impuls unterjocht und deinen Verstand dein Gefühl überwinden lassen. Um am Ende das Gegenteil von dem zu machen, was du eigentlich willst. Verstehst du? Du hast auf deinen Verstand gehört - und GEGEN dein Gefühl gehandelt.“

Lass ihn reden. Geh einfach weg. Lass ihn stehen. Kehr der verdammten Stadt hier den Rücken. Sie hat dir kein Glück gebracht. Max liegt in seiner Holzkiste, Lisa irrt durch die Straßen. Du hast den beiden Geschwistern nicht gut getan. Versuche, ein neues Leben zu beginnen. ‚Aber was ist mit Felix?‘, hört Till es in sich weiterflüstern. Soll Felix wirklich alles bekommen, was er will: Lisa, die Ideen von Max‘ Vater …

Hat er, Till, nicht schon vor Jahren mit Max darüber gerätselt, was Felix und Max‘ Vater zu erreichen versuchten? Was Felix mit den Ideen von Max‘ Vater vorhat? All die Wirrnisse, die Intrigen, der Kummer - für nichts? Max‘ Tod - umsonst? Ist es das, Till, fragt er sich: Bist du einer, der immer nur fortläuft? Der sich zurückzieht, wenn es brenzlig wird?

Er hört Felix‘ Stimme neben sich weitergehen, ohne dass die Worte in sein Bewusstsein dringen.

Dieser Sirenenton … Was ist es, das die Stimmung in dieser Stadt so aufheizt?

Tills Blick bleibt an einem Lastwagen hängen, der weiter unten in der Straße gehalten hat. Zuerst hat er gedacht, der Wagen würde mit Waren beladen - doch jetzt bemerkt er, dass es Menschen sind, die sich auf der offenen Ladefläche zusammendrängen. Und noch immer klettern weitere Personen auf die Pritsche hinauf. Es erinnert an Bilder aus fernen Ländern, aus Indien vielleicht oder einem Europa von vor vielen Jahren. Es sind Männer und Frauen und sie tragen Taschen, Koffer, Mäntel, obwohl es dafür doch schon viel zu warm ist. Till sieht einen Fahrer in die Kabine des Wagens steigen, einen anderen Mann hinten stehen und den letzten Nachzüglern Zeichen geben, dass sie sich beeilen sollen.

Während die ganze Zeit über der Sirenenton nicht aufhören will, in Tills Ohr zu schrillen.

Der hintere Mann schlägt die Ladeklappe hoch, macht dem Fahrer ein Zeichen - der Motor springt an.

„Warten Sie!“ Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm kommt aus dem Hausflur gestürzt, vor dem der kleine Laster gehalten hat.

Tills Augen verengen sich zu Schlitzen. Felix neben ihm kommt ihm vor wie ein kleiner Hund, der nicht aufhören will, zu kläffen.

Till sieht, wie die Frau aufgeregt auf den Mann einredet, der hinten an der Laderampe des Lasters steht. Der Fahrer vorn wirft immer wieder Blicke in den Rückspiegel und lässt den Motor aufheulen. Einige von den Leuten, die auf der Pritsche zusammengepfercht sind, haben sich über die Ladeklappe heruntergebeugt, verfolgen die Auseinandersetzung zwischen der Frau und dem Mann. Immer spitzer weht ihre Stimme über die Straße auf Till zu, aber er kann nicht verstehen, was sie sagt. Da sieht er, wie sie plötzlich ihr Kind mit ausgestreckten Armen vor sich hinhält, ein Mädchen, das noch viel zu klein ist, um zu erfassen, worum es geht, das seine großen Augen aber auf den Mann geheftet hat, mit dem seine Mutter spricht.

„NEIN!“, hört Till den Mann brüllen. „Was soll ich denn machen?!“

Hände recken sich über die Seitenwände des Lasters nach unten. Das Kind fängt an zu schreien - der Mann wendet sich ab. Die Frau aber, mit einem Gesicht, das zwischen Hilflosigkeit und Verzweiflung zu springen scheint, reicht ihre Tochter nach oben, in die Hände, die sich ihr entgegenstrecken.

Eine dunkelgraue Wolke quillt unter der Karosserie des Lasters hervor, der Fahrer hat das Gaspedal heruntergedrückt - der Wagen setzt sich in Bewegung. Schon ist er drei, sechs, zwölf Meter von der Frau entfernt und doch scheinen sich die Schreie des Kindes, das jetzt von einer älteren Frau auf der Ladefläche gehalten wird, und der Mutter, die auf der Straße zurückgeblieben ist, zu einem ohrenbetäubenden Verzweiflungslaut zu vereinen. Einem Laut, der sich mit dem Geheul der Sirene vermischt und zwischen Tills Augen bohrt, so dass rote Strahlen davon in sein Gesichtsfeld hineinzuragen scheinen. Mit heiserem Röhren faucht der LKW an ihm vorbei, rattert die Straße hinunter.

Tills Blick schwenkt zurück zu der Frau, die verstummt ist. Sie steht noch immer vor dem Hauseingang und sieht dem Fahrzeug nach. Ihre Hände sind leer. Sie wirkt unendlich verlassen.

„ … alles zusammen jetzt, begreifst du?“, hört Till Felix‘ Stimme aus dem Chaos auftauchen, „und ich kann dir sagen: Bentheims Bücher sind einfach großartig für diesen Zweck.“

Wo fahren sie hin - die Menschen auf dem Lastwagen?

„Weiß du, warum ich die Ratten auf dich gehetzt habe, Till?“

Sie stehen noch immer vor dem Lokal. Die Sirene ist endlich verstummt. Die Frau hat den Platz vor dem Hauseingang verlassen.

„Ich will wieder, dass du für mich arbeitest. Diesmal aber nicht im Büro - diesmal sollst du für mich schreiben. Deshalb habe ich dich in den Rattenkeller gebracht. Ich weiß, dass man erst dann wirklich mitreißend erzählen kann, wenn man bestimmte Erfahrungen am eigenen Leib gemacht hat. Erst dann kann man seine Leser wirklich süchtig machen nach dem, was man ihnen erzählt. Und genau das ist es, was ich von dir brauche, Till. Du sollst die Leute für mich süchtig machen. Süchtig nach dem fiktiven Universum!“

Jetzt sieht Till ihn doch an. Das fiktive Universum. Wie oft hat er mit Max und Felix darüber gesprochen, als er das letzte Mal in Berlin gewesen ist.

„Siehst du die Limousine dort stehen?“ Felix nickt zu einem schwarzen Wagen, der in zweiter Reihe schräg gegenüber von dem Lokal gehalten hat. „Der Wagen wartet darauf, uns zu einem Haus von mir in den Süden der Stadt zu bringen. Ich habe dort alles vorbereitet, Till, ich habe ein Zimmer für dich eingerichtet. Dir wird es an nichts fehlen.“

Till sieht sich und Max ins Wohnzimmer von Max‘ Eltern schleichen und am Bücherregal hinaufklettern. Die ganze Nacht lang haben sie in den Bänden von Max‘ Vater gelesen und sich den Kopf darüber zerbrochen, woran Bentheim in seinem Gartenhaus ständig arbeitet. Worum es ihm in seinen Büchern wirklich geht.

„Ein erster, wichtiger Teil des fiktiven Universums steht kurz davor, vollendet zu werden“, hört Till Felix fortfahren. „Ich will, dass du das für mich machst: Diesen Teil vollenden, Till. Du bist dem alten Bentheim noch begegnet, hast Lisa vielleicht besser kennengelernt als jeder andere - und warst unzertrennlich mit Max. Ich will, dass du diesen Kern des fiktiven Universums für mich fertig schreibst, Till, dass du den Schlussstein setzt. Den Schlussstein von Berlin Gothic.“

Berlin Gothic 7: Gottmaschine
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