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Sechs Wochen vorher

 

„Komm schon, es ist Donnerstagabend, die Stadt ist voller Leute, wollen wir nicht noch was trinken gehen?“ Der junge Mann strich sich über seinen Dreitagebart und wandte seine hübschen, braunen Augen nicht von ihr ab.

„Kommst du mit?“ Lisa schaute zu dem Schreibtisch, der neben ihrem stand und hinter dem sich ihre Kollegin Jenna in ihren Stuhl zurückgelehnt hatte.

„Wann - jetzt gleich?“ Jenna zog die Augenbrauen hoch.

„Ja?“

„Lisa, Schätzchen - ich kann nicht!“

Lisa spürte förmlich, wie Enrico neben ihr aufatmete. Sie hatte ihm schon zweimal ‚nein‘ gesagt - wird er es denn nie begreifen?

„Enrico, hör zu …“ Weiter kam sie nicht.

„Warte, Stopp!“ Enrico lachte. „So wird das nichts.“

Kommt drauf an, was du meinst …

„Wenn du mir jetzt noch einen Korb gibst, kann ich dich nie wieder fragen.“ Er grinste, was ihm gut stand. „Anfrage zurückgezogen.“ Und mit einem Blick auf Jenna, die ihnen neugierig zugehört hatte: „Und vorm nächsten Vorstoß unterhalte ich mich erstmal mit Jenna über dich.“ Seine Augen wanderten zurück zu Lisa.

Sie musste lächeln. Na gut. Allen Mut wollte sie ihm ja nun auch nicht nehmen. Sie mochte Enrico. Er begriff schnell, sah gut aus, hatte ihr in den ersten Monaten ihrer Tätigkeit bei der Zeitung viel erklärt - und immer gezeigt, dass sie ihm gefiel.

„Was soll das denn bringen?“, schaltete sich jetzt Jenna ein. „Sich mit mir vorher zu unterhalten, meine ich.“ Sie nippte an dem Plastikbecher, den sie in der Hand hielt. „Wenn wir uns schon unterhalten, dann nur über mich!“ Sie ließ die Rückenlehne ihres Schreibtischstuhls nach vorn schnappen und holte einen weiteren Plastikbecher aus einer Schublade. „Auch einen Schluck?“ Sie blickte zu Enrico, der noch immer neben Lisas Schreibtisch stand.

Jenna war für Lisa zwar nicht ganz so hilfsbereit gewesen wie Enrico, aber Lisa mochte an ihr, dass sie meistens ziemlich direkt äußerte, was sie dachte. Auch wenn das nicht unbedingt immer schmeichelhaft war: Es gefiel Lisa, wenn sie bei jemandem wusste, woran sie war.

„Gern.“ Enrico zog sich mit dem Fuß einen freien Drehstuhl heran und ließ sich darauf fallen.

Jenna langte nach der Sektflasche, die auf dem Boden neben ihrem Schreibtisch stand, schenkte den frischen Plastikbecher voll und reichte ihn Enrico.

„Willst du auch noch?“ Sie schaute zu Lisa.

„Gern.“

Der Sekt zischelte in den Bechern. Er war angenehm kalt und trocken. Jenna hatte die Flasche am Nachmittag im Redaktionskühlschrank kalt gestellt. Ein längerer Artikel von ihr sollte in der morgigen Ausgabe erscheinen. Unmittelbar nach Redaktionsschluss hatte sie die Flasche geöffnet, um das gebührend zu feiern.

„Warum sind eigentlich noch so viele da?“ Lisa ließ den Blick durch das Großraumbüro wandern.

Sicher, es war nicht gerade die Redaktion der New York Times, in Lisas Augen gab es in Deutschland im Moment aber im Grunde genommen kein besseres Blatt. Normalerweise lichteten sich um diese Zeit die Reihen der Redakteure, einige fuhren los, um noch eine Abendveranstaltung zu besuchen, andere verabschiedeten sich langsam in den Feierabend, um am nächsten Morgen zur Frühkonferenz wieder aufzutauchen. Heute aber waren die meisten Schreibtische noch besetzt.

„Ist es wegen des Verkaufs?“ Lisa warf Enrico einen Blick zu.

„Kann schon sein.“ Er nippte an seinem Becher. „Treibel ist jedenfalls schon ganz aufgeregt.“

Treibel - das war für Lisa der wichtigste Mann im Haus. Ohne dass der Chefredakteur ihn abgenommen hätte, kam kein Artikel von ihr in die Zeitung. Nicht einmal eine größere Recherche konnte sie in Angriff nehmen, ohne sich das vorher von Treibel abnicken zu lassen.

„Haben die Schweden denn jetzt gekauft?“ Lisa stellte die Spitzen ihrer Pumps auf die Oberkante des Rollcontainers, der unter ihrem Schreibtisch stand. Sie hatte gehört, dass ein schwedischer Energiekonzern die Zeitung erwerben wollte, wusste jedoch nicht, ob an dem Gerücht etwas dran war.

„Treibel hat wahrscheinlich Angst, dass ihn heute Nacht noch ein Schwede feuert.“ Enrico grinste. „Wäre nicht der erste Chefredakteur, den ich gehen sehe, nachdem seine Zeitung verkauft worden ist.“

„Ach was: Schweden“, mischte sich Jenna ein. „Was ich gehört habe, deutet in eine ganz andere Richtung.“

„Das hab ich auch gehört, aber ich glaub das nicht“, fiel ihr Enrico ins Wort, und Lisa konnte spüren, wie ihn Jennas Bemerkung beunruhigte.

„So?“ Lisa beugte sich über die Armlehne ihres Drehstuhls in Jennas Richtung, ohne die Füße vom Container zu nehmen. „Was hast du denn gehört?“

„Dass nicht irgendein anonymer Elektrokonzern den Laden hier gekauft hat, sondern ein Mann, der damit was ganz Bestimmtes vorhat.“

„Ach! Und was?“

Jenna zog die Schultern hoch. So weit schienen ihre Informationen nicht zu reichen.

„Wie?“, hakte Lisa nach. „Jemand hat den Laden bereits gekauft, aber niemand weiß, wer es ist?“

Jenna ließ ihre grünen Augen über den Rand des Plastikbechers blitzen, ohne zu antworten.

„Und wieso hält man das so geheim?“

„Die Herausgeber machen sich Sorgen, dass die Leser sich fragen könnten, ob sie der Meinung der Zeitung noch trauen können“, schaltete sich Enrico ein, „oder ob alles, was drin steht, nur noch dazu dient, dem neuen Besitzer in die Hände zu spielen.“

„Dem neuen Besitzer? Wer ist es denn?“

„Na, ich dachte die Schweden … “ Enrico schaute zu Jenna und grinste jetzt doch wieder. „Komm schon, raus mit der Sprache. Was weißt du genau?“

„Da wirst du wohl deine eigenen Quellen anzapfen müssen, mein Lieber“, gab Jenna zurück und schaute betont ungerührt zu Lisa.

„Wenn du schon davon gehört hast, kann es ja so ganz geheim nun auch wieder nicht sein“, stichelte Lisa.

„Nein, klar.“ Jenna legt den Kopf in den Nacken und lachte ihr ansteckendes Lachen. „Sie wollen es ja auch nicht ewig für sich behalten. Im Gegenteil: Wenn mich nicht alles täuscht, soll der neue Besitzer heute zum ersten Mal in die Redaktion geführt werden.“

Heute? Deswegen sind alle noch da!

„Ich dachte, sie führen uns einen Schweden heut vor!“ Enrico war anzumerken, dass er sich ärgerte, so viel schlechter als Jenna informiert zu sein.

Aber die achtete gar nicht auf ihn, sondern zwinkerte Lisa zu. „Rat mal, warum ich mir heute meinen neuen Rock angezogen hab!“

Unwillkürlich fuhr sich Lisa mit der Hand ins Haar. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Jenna aus ihrem Stuhl aufsprang und sich einmal um sich selbst drehte, dass der Saum ihres Rocks hochflog. Enrico schnalzte mit der Zunge, Lisas Schuhe rutschten vom Rollcontainer, ihr Stuhl kippte nach vorn.

Verdammt! Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie sich heute nicht ausgerechnet ihre älteste Jeans angezogen!

Im gleichen Moment registrierte sie, wie ein Raunen - ein Ruck beinahe - durch den Raum ging,

spürte, wie sich Jenna an ihr vorbei schob -

und sah am Ende des Großraumbüros die Tür auffliegen, die zur Chefredaktion führte.

Eine kleine Truppe von Kollegen und Mitarbeitern drängte herein. An erster Stelle Treibel. Ihm auf den Fersen ein Tross von Business-Typen, denen Lisa nur hin und wieder begegnet war, wenn sie in den unteren Stockwerken zur Personalabteilung musste. Keine Journalisten oder Reporter, sondern die Jungs in den Anzügen, die sich um Werbung, Marketing, Vertrieb und die finanziellen Belange des Verlags kümmerten - zu dem neben der Zeitung auch noch ganz andere Unternehmen gehörten.

Und mitten unter ihnen ein Gesicht, das Lisa kannte.

Gleißend klarer Blick. Riesige Augen.

Vollkommen verändert.

Was …

Er wirkte beinahe wie um zwanzig Jahre jünger geworden. Die Konzentration gab seinem fein gemeißelten Gesicht einen fast harten Zug.

Felix.

In ihren Ohren brauste es.

Was hatte er hier verloren?

Felix war gerade in ein Gespräch mit Treibel vertieft, aber Lisa saß so weit von ihnen entfernt, dass sie nicht hören konnte, was sie sagten.

Unwillkürlich fuhr sie aus ihrem Stuhl hoch.

Sie hatte Felix seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen - seitdem sie sich von ihm auf der Straße vor ihrer Wohnung getrennt hatte.

„Liebe Kollegen, ich will es ganz kurz machen, schön, dass Sie noch da sind.“ Treibel war vor den ersten Schreibtischen des Großraumbüros stehen geblieben und hatte das Wort ergriffen. „Ich möchte Ihnen heute Felix von Quitzow vorstellen.“ Während sich die versammelten Journalisten erhoben und nach vorn wandten, nickte er Felix zu, der gerade den Kopf schüttelte, weil einer der Männer, mit denen er hereingekommen war, sich zu ihm beugte und ihm etwas sagen wollte. „Wir freuen uns sehr, dass Herr von Quitzow den Konzern erworben hat und können es kaum erwarten, zusammen mit ihm und seinem Team unser Blatt für die Herausforderungen zu rüsten, die uns in einer Welt im Wandel bevorstehen“, spulte Treibel sein übliches Business-Kauderwelsch weiter ab.

Felix aber, der sich ebenfalls ganz der versammelten Mannschaft zugewandt hatte, schien unter den Redakteuren, die ihm aufmerksam entgegensahen, nach einem bestimmten Gesicht zu suchen.

Lisas Herz setzte aus.

Im gleichen Moment versenkte sich sein Blick in ihre Augen.

Die Muskeln tief drinnen in ihrem Bauch zogen an.

Berlin Gothic 7: Gottmaschine
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