
»Die Sterblichen nannten uns einst wertlose Kreaturen des Bösen,
heute ist selbst ihre Erinnerung an uns verblasst. Nur in manch
finsterer Stunde entsinnt sich ein uralter Teil ihrer Seele, die
sie Angst nennen, an unsere Existenz. In der alten Zeit fühlten die
Sterblichen sich jedoch erhaben über uns, obwohl ihre eigene
Bösartigkeit in ihrer Verlogenheit die unsrige übertreffen mag.
Denn wir, die Kinder der Dunkelheit, verleugnen nicht unsere wahre
Natur. Wir folgen – rein und wahr – unserer
vorgeschriebenen Bestimmung.«
Geheimer Auszug aus
»Grimoire* der Untoten«,
Neuauflage von 2010
Der Zug hatte die grauen Vororte Londons längst hinter sich gelassen und ratterte unermüdlich weiter nach Norden, fraß sich wie ein hungriges Tier mit lautem Getöse durch die Landschaft. Die dunklen Wolken verschluckten das Licht des Tages und ein wütender Wind peitschte den Regen mal nach links, mal nach rechts, als ob er mit seinen eisigen Böen jeden Schlupfwinkel unter Wasser setzen wollte.
Lilith fröstelte und schlang ihre Jacke um sich.
»Ist kalt geworden, nicht?«, fragte die alte Dame, die mit Lilith im Abteil saß.
Ihre Stimme klang brüchig. Die Frau war sicherlich schon über siebzig, doch sanfte Augen strahlten aus dem mit Falten eingerahmten Gesicht.
Sie blickte schaudernd aus dem Fenster. »Als ob der Herrgott die Welt unter Wasser setzen wollte!«
Lilith nickte. »Ja, ein scheußliches Wetter!«
Die Frau musterte sie neugierig. »Bist du alleine unterwegs?«
»Mein Vater hat mich in London zum Bahnhof gebracht. Ich besuche meine Tante in Bonesdale.«
Leider war das nur die halbe Wahrheit. Lilith konnte sich einen tiefen Seufzer nicht verkneifen. Eigentlich hatte ihr Vater sie in aller Eile vor dem Bahnhof abgesetzt, da er noch zahlreiche Reisevorbereitungen für seinen Auslandsaufenthalt treffen musste. Joseph Parker war ein angesehener Archäologe und Historiker. Er hatte vor einigen Tagen überraschend die Genehmigung für die Mithilfe bei den Restaurierungsarbeiten der Tempelanlage Bagans erhalten. Schon seit Jahren hatte Joseph Parker im Namen des archäologischen Instituts um diese Möglichkeit gebeten, doch das burmesische Militärregime hatte kein Interesse daran, ausländische Wissenschaftler in ihrem Land rumschnüffeln zu lassen, und verweigerte jedem archäologischen Team den Zutritt. Es schien ein hoffnungsloser Fall zu sein. Umso überraschender war es nun, dass Joseph Parker plötzlich als fachkundiger Berater angefordert worden war. Liliths Vater würde für Monate, wenn nicht gar für Jahre im Ausland sein. Sein Lebenstraum schien in greifbarer Nähe. Dabei hatte er nur noch ein Problem: seine Tochter Lilith. Was sollte mit ihr geschehen? Wer sollte sich um sie kümmern? Außer ihrem Vater und Tante Mildred hatte Lilith keine Verwandten.
Sie bettelte und flehte, in London bei ihrer besten Freundin Thea wohnen zu dürfen, aber ihr Vater, der ihr ansonsten keinen Wunsch abschlagen konnte, blieb dieses Mal hart. Für ihn schien die Sache eindeutig: Entweder er konnte Lilith bei ihrer einzigen lebenden Verwandten unterbringen, oder er musste seine Burmareise absagen. Wenigstens fürs Erste, so tröstete er Lilith, sollte sie bei ihrer Tante unterkommen, mit etwas Zeit und Geduld konnte man sich vielleicht nach einem passenden Internat umsehen.
Dabei hatte Lilith ihre Tante noch nie zu Gesicht bekommen. Ihr Vater und Tante Mildred mussten sich aus irgendeinem Grund zerstritten haben, was Lilith sehr ungewöhnlich fand. Sicher, ihr Vater war das typische Exemplar eines zerstreuten Wissenschaftlers und konnte manchmal etwas unsensibel sein, aber im Grunde war er ein herzensguter Mensch. Deswegen überraschte Lilith die Kälte in seiner Stimme, als er mit Tante Mildred vor einigen Tagen telefoniert hatte, um mit ihr Liliths Kommen abzusprechen. Warum verhielt sich ihr Vater nur so abweisend seiner Schwester gegenüber? Für Lilith gab es nur eine logische Schlussfolgerung: Ihre Tante musste eine durch und durch unsympathische Person sein. Und nun sollte Lilith auch noch bei ihr leben! Sie sank tiefer in sich zusammen.
»Ich hoffe, du bist nicht mehr allzu lange unterwegs zu diesem, wie hieß es noch? Bonesdale?« Die Frau betrachtete Lilith besorgt. »In deinem Alter sollte man nicht alleine reisen müssen. Du bist doch wahrscheinlich erst …«
»Dreizehn«, half ihr Lilith. »Eigentlich noch zwölf, aber in ein paar Wochen habe ich Geburtstag.«
»In deinem Alter konnte ich es auch kaum erwarten, älter zu werden.« Die alte Frau lachte auf. »Und heute muss ich manchmal nachrechnen, weil ich tatsächlich vergessen habe, wie alt ich bin.«
Der Zug begann sein Tempo zu drosseln. Die Frau sah erfreut auf. »Ah, endlich sind wir in Larkhall. Jetzt muss ich raus.«
Sie erhob sich schwerfällig und wollte sich strecken, um ihren Koffer aus der Ablage zu ziehen, als der Zug einige Male unsanft hin- und herruckelte. Die alte Dame drohte das Gleichgewicht zu verlieren und schrie erschrocken auf. Lilith konnte gerade noch rechtzeitig ihren Arm ergreifen und ihr Halt geben.
»Was für eine Reise«, stöhnte die Frau mit bleichem Gesicht. »Als ob einen das Unglück verfolgen würde.« Sie tätschelte erleichtert Liliths Hand. »Ohne dich wäre ich jetzt wohl gestürzt!«
»Kein Problem. Warten Sie, ich helfe Ihnen.«
Lilith, die für ihr Alter groß gewachsen war, zog den kleinen Koffer aus der Ablage. Dankbar nahm ihn die Frau entgegen. »Viel Glück auf der Weiterreise«, wünschte sie Lilith zum Abschied.
»Danke!« Auch wenn es Lilith nichts ausmachte, alleine unterwegs zu sein, hatte sie doch das Gefühl, dass sie dieses Glück noch dringend nötig haben würde.
Nachdem die ältere Dame gegangen war, saß Lilith alleine im Abteil. Im ganzen Zug schienen sich kaum noch Passagiere zu befinden. Anscheinend war Liliths Reiseziel für andere Menschen wenig verlockend.
Lilith wurde unruhig. Sie hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Es war wie ein kaltes Prickeln auf ihrer Haut. Sie sah aus dem Fenster auf den belebten Bahnsteig, doch sie konnte im Gewühl keinen Blick ausmachen, der den ihren kreuzte. Niemand schien sie wahrzunehmen.
Das Kribbeln auf ihrer Haut wurde immer intensiver. Jede Faser ihres Körpers war angespannt.
Lilith stand auf und schob das Abteilfenster hinunter. Lautes Stimmengemurmel schlug ihr entgegen, gemischt mit den eintönigen Lautsprecherdurchsagen des Bahnhofs und einem wummernden Bass, der aus dem Ghettoblaster einiger Jugendlicher dröhnte. Nervös sah Lilith auf die Menschen hinab, die wie in einem unsichtbaren Labyrinth kreuz und quer durch die Gegend eilten, andere standen wartend auf dem Bahnsteig und starrten gelangweilt vor sich hin.
Schon glaubte Lilith, sie hätte sich alles nur eingebildet. Dann sah sie die schwarzen Augen. Lilith hielt erschrocken die Luft an.
Auf dem Dach des Schaffnerhäuschens saß eine Krähe. Sie fixierte Lilith mit stechendem Blick. Es gab keinen Zweifel. Die Augen der Krähe waren nur auf sie, Lilith, gerichtet und verfolgten jede ihrer Bewegungen. Lilith bekam eine Gänsehaut. Irgendetwas sagte ihr, dass dies keine gewöhnliche Krähe war. Lilith hatte den Aberglauben, nachdem dieser als Unglücksrabe verschriene Vogel Krieg und Tod ankündigt, nie nachvollziehen können. Im Gegenteil, sie hatte das schwarz glänzende Gefieder und die wachsame, fast menschliche Art dieser Vögel immer bewundert. Doch nicht bei diesem Tier. In seinen Augen lag eine Bösartigkeit, wie Lilith sie noch bei keinem anderen Lebewesen gesehen hatte. Der Blick der Krähe durchbohrte sie. Lilith hatte das Gefühl, als würde sie rundherum in Eis gepackt.
Sie zuckte zusammen. Die Türen der Waggons hatten sich mit einem lauten Schlag geschlossen. Nur einen Wimpernschlag später stieß die Krähe einen Schrei aus. Sie spreizte ihre Flügel und hüpfte bis zum äußersten Rand des Daches. Direkt in Liliths Richtung. Lilith trat so schnell vom Fenster zurück, als hätte sie sich daran verbrannt. Sofort wurde ihr klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Nun konnte die Krähe ungehindert durch das Fenster in ihr Abteil gelangen. Lilith glaubte ein erfreutes Blitzen in den Augen des Vogels erkennen zu können.
Quälend langsam setzte der Zug sich in Bewegung. Im gleichen Moment hob die Krähe mit einem einzigen Schlag ihrer Flügel ab und stürzte nach vorne. Lilith wurde aus ihrer Starre gerissen. Sie stolperte ans Fenster.
»Oh nein!«, entfuhr es ihr. Obwohl sie mit aller Kraft drückte, ließ sich das Fenster nicht nach oben schieben. Es klemmte.
Die Krähe krächzte erneut, dieses Mal klang es wie ein hämisches Lachen. Lilith drückte, so fest sie konnte, an den beiden Fensterhebeln. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Dann hörte sie ein metallenes Ächzen. Das Fenster glitt nach oben und rastete ein. Die Krähe, so kurz vor dem Ziel, schlug wütend den Schnabel zusammen und drehte im letzten Moment vor der geschlossenen Scheibe ab. Sie entschwand aus Liliths Blickfeld. Atemlos ließ sich Lilith auf ihren Sitz fallen.
Der Zug ließ den Bahnhof hinter sich und die Welt begann wieder vor ihrem Fenster vorbeizufliegen.
Was für eine seltsame Begegnung. Ob die Krähe tatsächlich zu ihr ins Abteil hatte fliegen wollen? Lilith schüttelte den Kopf, als wollte sie einen schlechten Traum vertreiben. Unsinn! Das hatte sie sich vermutlich nur eingebildet. Die Krähe verbarg sich wahrscheinlich wegen des Unwetters unter dem Bahnhofsdach und war nun auf der Suche nach etwas Essbarem. Liliths Abteil schien dem hungrigen Tier aus irgendeinem Grund wohl ein vielversprechendes Jagdgebiet gewesen zu sein.
Bei diesem Gedanken fiel Lilith auf, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Sie zog ihren Rucksack auf den Schoß und warf einen Blick in ihre Verpflegungsdosen, die ihre Haushälterin Clara ihr noch heute Morgen mit Tränen in den Augen in die Hand gedrückt hatte. Karottensalat mit Sojasprossen und Schwarzbrot mit Tofuwurst. Lilith verzog das Gesicht. Igitt. Zum Glück hatte sie sich auf dem Bahnhof mit dem Geld, das ihr Vater ihr zugesteckt hatte, mit etwas weniger gesundem Reiseproviant eingedeckt. Sie zog zwischen einer Chipspackung und einer Tafel Schokolade einen Energydrink hervor. Clara hatte ihr wegen des Koffeins und dem vielen Zucker immer verboten, solche Getränke zu kaufen. Lilith grinste. Dies war einer der Vorteile, wenn man ohne Erwachsene reiste: Man konnte plötzlich tun und lassen, was man wollte. Im Überschwang hatte sich Lilith sogar gleich drei Koffeindrinks gekauft. Wenn sie die bis Bonesdale alle ausgetrunken hatte, würden ihr vor Anspannung wahrscheinlich ihre schwarzen Haare zu Berge stehen.
Lilith nahm einen Schluck des zuckersüßen Getränks und seufzte wehmütig. Trotz der Tofuwurst würde sie Clara vermissen. Sie war wie eine Freundin für Lilith, ja, nach all den Jahren, die Clara bei den Parkers gearbeitet hatte, war sie fast schon so etwas wie eine Mutter.
Wie von selbst wanderte Liliths Hand zu dem Amulett, das sie unter ihrer Jacke um den Hals trug. Das Amulett ihrer Mutter. Es war alles, was sie von ihr besaß. Es gab sonst nichts, nicht einmal ein Foto, und ihr Vater war nicht bereit, mit seiner Tochter über dieses Thema zu sprechen. Lilith wusste nur, dass ihre Mutter kurz nach ihrer Geburt gestorben war und Lilith ihr sehr ähnlich sehen musste. Denn die ebenholzschwarzen Haare, die helle, fast schon weiße Haut und die großen blauen Augen hatte Lilith eindeutig nicht von ihrem Vater geerbt. Er musste sich jedes Mal, wenn er Lilith ansah, an ihre Mutter erinnert fühlen. Ob er sie nach all den Jahren immer noch so sehr vermisste, dass er es nicht ertrug, über sie zu sprechen? Lilith hatte es aufgegeben, mit ihrem Vater darüber reden zu wollen. Sie drehte das Amulett zwischen ihren Fingern. Automatisch meldete sich ihr schlechtes Gewissen.
Sie hatte es gestohlen.
Schon als kleines Kind hatte sie gewusst, dass sie nicht an Vaters Vitrinen mit seinen wertvollen Sammlerstücken gehen darf, und der Wandtresor in seinem Arbeitszimmer, in dem er seine kostbarsten Schätze hütete, war absolut tabu. Sie hatte sich immer an diese Regel gehalten, nur dieses eine Mal nicht.
Es war an dem Tag, als ihr Vater den Anruf erhalten hatte, als archäologischer Berater in Burma arbeiten zu können. Wahrscheinlich hatte er deshalb vergessen, den Tresor zu schließen. Als Lilith in sein Arbeitszimmer kam, um ihren Vater zu suchen, fiel ihr sofort auf, dass der Tresor offen stand. Wie in Trance lief sie darauf zu und nahm die schwarze Schatulle heraus, in der das Amulett ihrer Mutter lag. Sie hatte es zuvor nur ein einziges Mal gesehen. Damals hatte Lilith ihren Vater so inständig darum angebettelt, ihr etwas von ihrer Mutter Cathy zu erzählen, dass er schließlich seufzend aufgestanden war und die Schatulle aus dem Tresor holte. Lilith hatte beim Anblick des Amuletts überrascht die Luft angehalten. Ein Schmuckstück dieser Art hatte sie noch nie gesehen. Es war geformt wie ein fünfspeichiges Zepter, in dessen Inneren ein Bernstein, wie von unsichtbarer Hand gehalten, in der Luft schwebte. Die goldenen Speichen des Zepters waren umwickelt mit einer Art silbernem Faden und jeder Zwischenraum war mit fremdartigen Symbolen verziert. Als Tochter eines Archäologen erkannte Lilith sie sofort: Es handelte sich dabei um Runen. Obwohl die Form und die feinen Linien nicht altmodisch wirkten und das Metall den Glanz des Lichtes spiegelte, erweckte das Amulett den Eindruck, schon ungeheuer alt zu sein. Am meisten faszinierte Lilith jedoch der reine und vollkommen runde Bernstein, der jeden Lichtstrahl in ein goldenes Schimmern verwandelte. In der Mitte des Steins schien etwas eingeschlossen zu sein, womöglich ein Insekt, doch es war zu klein, um es zu erkennen. Auch konnte Lilith selbst bei genauerer Betrachtung nicht feststellen, von was der Stein im Inneren des Zepters gehalten wurde. Es war ein wirklich außergewöhnliches Schmuckstück.
Doch etwas war seltsam gewesen. Ihr war aufgefallen, dass ihr Vater darauf bedacht war, das Amulett auf keinen Fall zu berühren. Als sie ihn gebeten hatte, das Schmuckstück aus der Schatulle nehmen zu dürfen, hatte er nur wortlos genickt und sie nervös beobachtet. Lilith legte es sich vorsichtig um den Hals und fühlte sich einen Atemzug lang vom Kopf bis zu den Zehenspitzen wie von einem wärmenden Energiestrahl durchdrungen. Aber dies lag wahrscheinlich nur an ihrer Aufregung. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich ihrer Mutter so nah gefühlt wie in diesem Moment. Als Lilith ihrem Vater nach einigen Minuten das Amulett wieder zurückgab, kämpfte sie immer noch mit den Tränen. Joseph Parker jedoch schien aus irgendeinem Grund überrascht, ja fast schockiert zu sein.
Als sie ihren Vater einige Wochen später darum gebeten hatte, sich das Amulett noch einmal ansehen zu dürfen, war er nicht mehr dazu bereit gewesen, es aus seinem Tresor zu holen.
So konnte Lilith an diesem Tag, allein in Vaters Arbeitszimmer und vor dem geöffneten Tresor, nicht widerstehen. Sie klappte die Schatulle auf und wieder raubte ihr die Schönheit des Amuletts den Atem. Zu welchen Anlässen ihre Mutter diese Kette wohl getragen hatte? Das Schmuckstück war sehr auffällig, wahrscheinlich war sie damit der Mittelpunkt jeder Veranstaltung gewesen.
Plötzlich keimte in Lilith eine Idee. Wenn ihr Vater nicht bereit war, ihr mehr über ihre Mutter zu verraten, so konnte es vielleicht das Amulett. Lilith biss sich nachdenklich auf die Lippe. Aber würde sie damit nicht ihren Vater hintergehen? Mit zitternden Fingern strich sie über das Schmuckstück. Wie schon beim ersten Mal erfüllte sie dabei eine tiefe Ruhe und Sicherheit. Wie aus weiter Ferne nahm sie wahr, dass die Haustüre ins Schloss fiel. Das Geräusch ließ Lilith zusammenzucken. Ihr Vater war zurückgekehrt. Sie musste sich entscheiden.
Als Joseph Parker wenige Sekunden später das Arbeitszimmer betrat, war Lilith verschwunden und die Schatulle lag wieder im Tresor. Sie war leer.
Der Schaffner zog die Tür des Abteils auf und riss Lilith aus ihren Gedanken. Sie fuhr erschrocken in die Höhe, sodass der rote Energydrink aus der Dose schwappte und sich über ihre Jacke und das weiße T-Shirt ergoss. Im Nu sah es aus, als sei es von Blut durchtränkt. Damit würde ihre Tante Mildred sicherlich einen großartigen ersten Eindruck von ihr bekommen!
»Oh, verfluchte Sch …« Lilith konnte sich gerade noch rechtzeitig stoppen. Sie hatte mit ihrem Vater und ihren Lehrern schon oft genug Ärger bekommen, weil sie so herzhaft fluchen konnte. Clara meinte immer, selbst gestandene Hafenarbeiter würden vor Scham rot werden, wenn Lilith richtig loslegte.
»Na, na, junge Dame!«, rügte sie der Schaffner schmunzelnd. »Wenn ich dich nicht schon kontrolliert hätte und wüsste, dass du ein Ticket hast, hätte ich dich gerade garantiert für einen Schwarzfahrer gehalten. So schuldbewusst zucken nur die zusammen, die ein schlechtes Gewissen haben.«
Lilith spürte, wie sie rot wurde. Der Schaffner wusste ja nicht, wie recht er hatte.
»Hast du nicht gesagt, dass du nach Bonesdale auf die Insel St. Nephelius reist?«, erkundigte er sich.
Lilith nickte.
»Zwei Waggons weiter sitzt ein Junge mit seiner Mutter, die dasselbe Reiseziel haben. Ich habe ihnen erzählt, dass du alleine unterwegs bist. Sie würden sich freuen, wenn du dich ihnen anschließt.« Der Schaffner nickte ihr aufmunternd zu. »Ihr müsst euch nachher in Greynock beeilen, um noch rechtzeitig die letzte Fähre zu erreichen. Könnte knapp werden, da wir etwas Verspätung haben.«
»Ich werde die beiden gleich suchen gehen«, versprach Lilith. »Vielen Dank!«
»Du kannst sie nicht verfehlen. Es sind kaum noch Leute im Zug.« Der Schaffner tippte sich an die Mütze und wandte sich zum Gehen. Dabei blieb sein Blick an Liliths Amulett hängen, das sie bei seinem Eintreten vergessen hatte wie üblich unter ihr T-Shirt gleiten zu lassen. Etwas Dunkles begann in seinen Augen aufzuflackern.
»Du hast eine schöne Kette«, sagte er mit seltsam belegter Stimme. Wie hypnotisiert hing sein Blick an dem Schmuckstück um Liliths Hals. Mit ausgestreckter Hand ging er langsam auf Lilith zu.
»Ähm. Danke.«..: