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Es war mitten in der Nacht. Francesca saß in der Küche, neben sich eine große Kanne Kaffee und vor sich Knüttelsiels Buch:
Das bei meinen Beschwörungen verwendete Spiegelpentagramm bewirkte jedoch nicht nur eine Krafteindämmung des Necronomicons, sondern verkürzte gleichzeitig in starkem Maße die Zeitdauer der Portalöffnung. Nach eingehenden Versuchen bin ich zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Spiegelpentagramm zwar eine Beschwörung der Jenseitigen gefahrlos macht, aber die Beschwörung nur innerhalb eines Zeitfensters von maximal sieben Minuten aufrechtzuerhalten …
Francesca gähnte, der Text verschwamm vor ihren Augen. Mittlerweile war sie so müde, dass sie den Inhalt überhaupt nicht mehr aufnehmen konnte. Eine wissenschaftliche Abhandlung war wahrscheinlich auch nicht die beste Lektüre, um eine Nachtwache durchzustehen.
Gianna hatte versprochen, ihr in dieser Nacht beizustehen, doch während der letzten Stunde war sie immer stiller geworden. Mittlerweile hatte sie den Kopf auf ihren Ellbogen gebettet und war selig eingeschlafen. Francesca konnte sich einen neidischen Seitenblick auf ihr entspanntes Gesicht und ihre ruhigen Atemzüge nicht verkneifen. Seit sie das Necronomicon mit dem Silberbesteck und sämtlichen Salzvorräten im Koffer verstaut hatten, waren die Nächte im Palazzo wieder friedlich geworden und keiner seiner Bewohner litt mehr unter Albträumen. Durch den Verlust der Traumgondel war es nun jedoch wieder Francesca, die vor ihnen Angst haben musste …
Sie spielte gedankenverloren mit der leeren Tasse in ihrer Hand. Ihre Mutter hatte ihr einmal erzählt, dass sie während eines Tages im Büro vier bis fünf Becher Kaffee trank. Francesca schüttelte sich angeekelt. Nach nur zwei Tassen dieses bitteren Zeugs war ihr übel geworden und sie bekam Magenschmerzen. Auch hatte sie einen Grad der Erschöpfung erreicht, in dem die Wirkung des Koffeins kaum noch spürbar war – schon mehrmals war sie kurzzeitig eingenickt. Glücklicherweise war es dabei nicht zu einer Traumbegegnung mit Nyarlath gekommen. Vielleicht hatte sie einfach nicht lange genug geschlafen. Oder aber der Zettel mit den Symbolen der Traumgondel, den ihr Gianna geschrieben hatte, wirkte tatsächlich.
Francesca atmete tief durch. Ihre Augen waren schwer … so unglaublich schwer …
Es würde so guttun, sie für einen winzigen Moment zu schließen.
Nur für einen winzigen … Moment …
»Nein!«, ermahnte sie sich selbst. »Ich muss wach bleiben!«
Nyarlath durfte nicht erfahren, dass sie das Necronomicon schon besaß. Die Zeit bis zum Ablauf seines Ultimatums musste sie unbedingt nutzen. Francesca hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass ihr bis dahin eine Lösung für all ihre Probleme einfallen würde. Sie warf einen nachdenklichen Blick auf den Koffer, den sie vorsichtshalber mit in die Küche genommen hatte. Nach dem letzten Erdbeben hatte ein Seismologe in einem regionalen Radiosender prophezeit, dass noch stärkere Beben folgen würden und ältere Gebäude einstürzen könnten. Diese Nachricht hatte in der Bevölkerung für zusätzliche Panik gesorgt. Einige hatten sogar ihre Häuser verlassen und sich auf dem Festland in Sicherheit gebracht.
Um die Müdigkeit aus ihren Gliedern zu vertreiben, stand Francesca auf und ging zum Kamin. Das Feuer, das Gianna und sie gegen die nächtliche Kälte entfacht hatten, war fast heruntergebrannt. Sie legte einen Holzscheit nach und schon wenige Minuten später züngelten die Flammen wieder in die Höhe. Eine wohltuende Wärme kroch in Francescas ausgestreckte Handflächen. Cosimo gesellte sich zu ihr und strich schnurrend um ihre Beine, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass sie ihm zum Dank für seine Liebesbezeugung eine Zusatzportion Futter in den Napf schüttete. Aber Francesca hatte heute Nacht andere Sorgen.
Natürlich hatten sie sofort nach ihrer Rückkehr aus dem Staatsarchiv mit Fiorella Kriegsrat gehalten und stundenlang darüber diskutiert, was Leonardo mit dem letzten Abschnitt seines Briefes gemeint haben mochte. Seiner Ansicht nach gab es nur eine Möglichkeit, beide Flüche aufzuheben – und zwar eine äußerst gefährliche. Doch sosehr sie sich auch den Kopf zerbrachen, es blieb ihnen ein Rätsel, was er vorgehabt hatte. Immerhin hatte Gianna dank des Briefes endlich eingesehen, dass es nicht die beste Lösung war, auf Nyarlaths Erpressung einzugehen und ihm das Buch zu übergeben. Er würde die Mächte des Buches entfesseln und das hätte am Ende wahrscheinlich schlimmere Folgen als allein den Untergang Venedigs. Aber was dann?
Francesca riss sich vom Anblick der tanzenden Flammen los. Vielleicht sollte sie das Necronomicon noch einmal untersuchen? Schließlich hatten sie auch schon das Wappen und Alessandros Initialen übersehen. War es nicht möglich, dass es noch weitere Hinweise gab?
Francesca zog den Koffer zu sich, kniete sich hin und öffnete leise den Reißverschluss, um Gianna nicht zu wecken. Trotz des Feuers in ihrem Rücken überlief sie wie immer ein kalter Schauer, als sie das Necronomicon in die Hand nahm. Für einen kurzen Moment glaubte sie sogar, eine schwarze Nebelschwade über den Buchdeckel gleiten zu sehen und gleichzeitig eine Art erleichtertes Seufzen zu hören.
Suchend fuhren ihre Finger über den Einband. Francesca überprüfte jede Unebenheit, jede noch so kleine Einkerbung des Leders, doch im Schein des Feuers konnte sie nichts entdecken, außer dem Titel und dem mit bloßem Auge kaum erkennbaren Wappen. Sie starrte frustriert auf die fast unsichtbaren Initialen Alessandros. Wahrscheinlich war er der Einzige, der wusste, wie man den Fluch, den er ausgesprochen hatte, wieder aufheben konnte.
Francesca presste enttäuscht die Lippen zusammen. Sie wusste, dass das Necronomicon ihr einziger Ansatzpunkt war. Es musste ihr irgendwie weiterhelfen … Sie hatte das Gefühl, dass sie die Lösung direkt vor Augen hatte. Der Gedanke schien zum Greifen nahe, sie musste nur ihre Hand danach ausstrecken und – nein, sie kam nicht darauf.
Sie ließ das Buch kraftlos auf ihre Knie sinken. Wenn sie nicht bald eine Idee hatte, war alles verloren. Solange es Nyarlath gab und der Fluch auf Venedig lag, würde sie niemals Frieden finden – selbst wenn sie ihm das Necronomicon übergab. Sie betrachtete voller Abscheu das Buch. Es war schuld daran, dass jahrhundertelang Generationen von Medicis gequält und in den Wahnsinn getrieben worden waren – und wenn sie, Francesca, keine Lösung fand, würde es am Ende immer so weitergehen. Ihr kam ein schrecklicher Gedanke. Was wäre, wenn sie selbst irgendwann Kinder bekäme? Durch ihr Verschulden war der einzige Schutz, die Traumgondel, verloren. Das bedeutete, dass nicht nur sie für den Rest ihres Lebens in Angst vor der Nacht leben musste, sondern vielleicht auch ihre Nachkommen …
Die ganze Verantwortung für das, was in Zukunft geschehen würde, lastete nun auf Francesca. Mit jedem neuen Beben, das Venedig erschütterte, erinnerte Nyarlath sie daran. Sie allein musste in wenigen Stunden dem Dämon gegenübertreten – entweder mit oder ohne Necronomicon.
Sie trug die Schuld, wenn die prächtigen Paläste Venedigs im Meer versinken würden. Wie Atlantis würde La Serenissima vom Wasser verschlungen werden und nur noch Geschichten würden von der Goldenen Stadt zurückbleiben. Venedig, eine verklingende Melodie – einzig ihr Name würde auf ewig bestehen, als letztes Echo ihrer einstigen Pracht.
Aber genauso hatte Francesca es zu verantworten, wenn Nyarlath die Mächte des Buches entfesselte und die ganze Welt ein Ort des Schreckens und der Dunkelheit wurde. Mit Grauen dachte sie daran, wie er mithilfe des Necronomicons unzählige seiner Brüder in diese Welt holen würde. Ohne Gnade würden sie sich auf alles Lebendige stürzen, genau wie die Kreatur in Fiorellas Zimmer über Francesca hatte herfallen wollen.
Sie ließ die Schultern hängen. Das war doch nicht fair! Sie spürte, wie ihr Tränen der Verzweiflung über die Wangen liefen. Es war alles so aussichtslos. Dieses elende Buch! Mit jeder Faser ihres Herzens wünschte sie sich, dass Baldini es ihr niemals gegeben hätte … Wenn Gianna sie nach Fiorellas Unfall nur nicht davon abgehalten hätte, das Necronomicon in den Kanal zu werfen! Dann wäre sie nun nicht in der schwierigen Lage, eine solche Entscheidung fällen zu müssen. Sie wollte diese Verantwortung nicht tragen, sie wollte dieses Buch nicht haben! Ehe Francesca wusste, wie ihr geschah, hatte sie das Buch gepackt und in einer wütenden Geste ins Feuer geschleudert. Sofort griffen die Flammen danach, züngelten um den Ledereinband und die wertvollen Pergamentseiten, um sie für immer zu verschlingen.
Entsetzt sah Francesca in den Kamin. Augenblicklich bereute sie, was sie getan hatte. Wie konnte sie sich nur zu so einer Dummheit hinreißen lassen?
»Oh scheiße!«, stieß sie panisch hervor.
Erschrocken fuhr Gianna in die Höhe. Als sie das Necronomicon inmitten der Holzscheite liegen sah, weiteten sich ihre Augen.
»Bist du verrückt geworden?«, schrie sie.
»Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Es … es liegt wohl an der Übermüdung«, stammelte Francesca eine Entschuldigung und rang hilflos die Hände. »Ich konnte nicht mehr klar denken und war so wütend, weil wir doch keine Chance …«
Gianna schnitt ihr mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort ab. »Schnell, mach was!« Sie stand so hastig auf, dass ihr Stuhl zu Boden polterte. »Hol es wieder raus!«
Gianna hatte recht: Francesca musste das Buch retten, ehe es vollständig verbrannte! Hektisch griff sie nach dem Schürhaken und ignorierte den Schmerz, der ihr dabei in ihr verstauchtes Handgelenk fuhr. Zu ihrem Pech war das Necronomicon mittlerweile über die Holzscheite nach hinten auf die Kaminwand zugerutscht. Wagemutig beugte sie sich über die Flammen. Hitze brandete über ihr Gesicht und für einen Moment hatte sie das wahnwitzige Gefühl, dass ihre Gesichtszüge schmelzen würden. Endlich war sie nahe genug, um den Schürhaken unter das Buch zu schieben.
Stirnrunzelnd hielt Francesca inne. Täuschte sie sich? Spielten ihre Augen ihr nur einen Streich? Sie sah, wie die Flammen um das Buch züngelten, doch es … brannte nicht.
»Worauf wartest du denn?« Ungeduldig stieß Gianna sie beiseite und entriss ihr den Schürhaken. Beherzt schob sie ihn unter das Buch und zog es mit einem Ruck aus dem Feuer.
Es war völlig unversehrt. Sprachlos blickte Francesca auf das am Boden liegende Buch. Sie fuhr mit der Hand über den Einband. »Es ist eiskalt.«
»Da haben wir noch mal Glück gehabt!« Mit einem erleichterten Lächeln blickte Gianna auf das Necronomicon.
»Das war kein Glück«, widersprach Francesca heftig. »Es lag minutenlang im Feuer, das Papier ist alt und ausgetrocknet. Es hätte sofort anfangen müssen zu brennen.« Sie warf Gianna einen eindringlichen Blick zu. »Dass es nicht die geringsten Brandspuren hat, ist absolut unmöglich.«
Sie erinnerte sich an ihr letztes Gespräch mit Baldini. Hatte er ihr nicht erzählt, dass er das Buch ursprünglich hatte zerstören wollen, nachdem ihm seine Gefährlichkeit bewusst geworden war? Dass er stattdessen ein silbernes Verlies für das Necronomicon gebaut hatte, konnte nur bedeuten, dass auch er an diesem Vorhaben gescheitert war.
»Es muss durch irgendeinen Zauber geschützt sein«, überlegte sie laut. »Man kann es nicht zerstören wie ein gewöhnliches Buch.«
»Eigentlich war das fast zu erwarten, oder nicht?«, meinte Gianna. Sie setzte sich wieder an den Tisch und rieb sich über ihre vom Schlaf verquollenen Augen. »Immerhin kann man damit Dämonen beschwören und Tote zum Leben erwecken. Warum sollte es dann nicht auch unzerstörbar sein?«
Francesca wollte gerade etwas erwidern, doch dann erstarrte sie.
»Tote zum Leben erwecken …«, wiederholte sie leise. Ihr Blick wanderte vom Necronomicon zu Knüttelsiels Abhandlung und zurück.
»Du hast schon wieder dieses seltsame Leuchten in den Augen«, bemerkte Gianna nervös. »Mir schwant Übles.«
Francesca setzte ein breites Grinsen auf. »Ich hatte gerade eine Eingebung«, verkündete sie und bestätigte damit wohl Giannas schlimmste Befürchtungen. »Jetzt weiß ich, was wir tun müssen, um die beiden Flüche aufzuheben.«
»Ich finde immer noch, dass das eine richtig blöde Idee ist«, sagte Gianna wahrscheinlich zum hundertsten Mal.
Sie waren im Ballsaal des Palazzos und Francesca konzentrierte sich gerade darauf, mit einem Kohlestift fremdartige Zeichen auf den Boden zu malen.
»Ich weiß, das sagtest du schon«, antwortete sie abwesend. »Könntest du mir bitte noch mal die Seite mit dem Spiegelpentagramm zeigen? Ich möchte hier nichts falsch aufzeichnen.«
Widerwillig hielt Gianna ihr Knüttelsiels Abhandlung unter die Nase. »Hast du mir nicht selbst erzählt, dass du Baldini versprechen musstest, nie in dem Buch zu lesen? Was du jetzt vorhast, ist sogar noch schlimmer. Viel, viel schlimmer.«
»Ja, ja«, stöhnte Francesca genervt.
»Ja, ja«, äffte Gianna sie nach. »Damit willst du wohl sagen Leck mich am …«
»Nein«, fiel ihr Francesca ins Wort. »Das war ein ›Ja, ja‹ im Sinne von: Ich kenne die Argumente, die dagegensprechen, selbst alle sehr gut, aber mein Entschluss steht fest.«
Sie erhob sich und betrachtete zufrieden ihr Werk. »Jetzt ist es fertig.«
Sie hatte zwei große Pentagramme auf den Boden gemalt und fein säuberlich die Schriftzeichen in die Dreiecke eingefügt. Links war das Schutzpentagramm, in dem sie selbst stehen würde, rechts würde der von ihr heraufbeschworene Geist gefangen sein. Jedenfalls, wenn sie alles richtig gemacht hatte. Genau in der Mitte der Pentagramme, in einem hoch aufgeschütteten Kreis aus Salz, lag das Necronomicon auf Violas Kochbuchhalter. »Nun kann es losgehen!«
Gianna schwieg. Ihre zusammengezogenen Augenbrauen machten deutlich, was sie von alldem hielt.
Francesca fasste sie an den Schultern und sah ihr in die Augen. »Glaub mir, das ist die einzige Lösung. Das hat auch unser Großvater erkannt.«
»Das weißt du doch überhaupt nicht!«
»Ich bin davon überzeugt, dass Großvater genau dasselbe geplant hat. Wahrscheinlich wäre alles anders gekommen, wenn Baldini ihm nur richtig zugehört hätte«, erklärte Francesca. »Bevor Großvater an jenem Abend ins Antiquariat gegangen ist, hat er Fiorella versprochen, dass ein neues Leben für sie beginnen werde. Er wollte das Necronomicon benutzen, aber nicht, um sich Macht oder Reichtum zu verschaffen. Er wusste, dass es nur einen einzigen Weg gibt, in Erfahrung zu bringen, wie man die beiden Flüche aufheben kann: Man muss Alessandro di Medici beschwören. Und genau das werde ich jetzt machen.«
»Aber das darfst du nicht, selbst wenn du damit recht hast!« Gianna schüttelte entschieden den Kopf. »Das Necronomicon ist böse, wir haben es selbst erlebt. Es ist absolut verrückt, die Macht des Buches auch noch zu benutzen!« In ihren großen braunen Augen lagen Unverständnis und Sorge. »Großvater hat in seinem Brief geschrieben, dass es unglaublich gefährlich ist, was er vorhat. Er hat sogar damit gerechnet, dabei zu sterben – ansonsten hätte er Cecilia überhaupt nicht erst geschrieben. Wie kannst du nur glauben, dass du diesen Mächten standhalten kannst?«
Um Giannas bohrendem Blick auszuweichen, bückte sich Francesca hastig und zog mit dem Kohlestift eine Ecke des Pentagramms nach. »Im Gegensatz zu Großvater kann ich für die Beschwörung das Spiegelpentagramm aus Knüttelsiels Abhandlung benutzen«, antwortete sie und versuchte dabei, jede Unsicherheit aus ihrer Stimme zu verbannen. »Solange ich in meinem Schutzpentagramm stehen bleibe, kann mir nichts passieren.«
»Aber wenn dieser Knüttelsiel wirklich ein Spinner ist und dein Schutzpentagramm überhaupt nichts hilft?«, konterte Gianna. »Dann stehst du gleich einer Horde Dämonen gegenüber und bist ihnen vollkommen ausgeliefert.«
Nach einem unangenehmen Moment des Schweigens räusperte sich Francesca. »So negativ würde ich meine Chancen eigentlich nicht einschätzen«, meinte sie mit hochgezogenen Schultern. »Ich könnte ihnen zum Beispiel etwas von der Lasagne, die Stella gestern gekocht hat, anbieten. Die würde die Dämonen wahrscheinlich umbringen.«
Gianna verdrehte die Augen, brachte aber ein kleines Lächeln zustande. »Ich habe Mama vorgeschlagen, dass sie die Lasagne als Kohlebrikett verwenden soll«, gestand sie schmunzelnd.
»Man könnte damit aber auch den Palazzo stabilisieren, falls er nach dem nächsten Erdbeben zur Seite kippen sollte«, schlug Francesca vor und stimmte prustend in Giannas Gelächter ein.
Arme Stella, zum Glück konnte sie nicht hören, für was für Heiterkeitsausbrüche ihre Kochkünste sorgten!
Gianna wurde wieder ernst und trat an Francesca heran. »Ich mache mir doch nur Sorgen um dich.«
»Aber ich habe keine andere Wahl, Gianna. Ich muss das Risiko eingehen.«
Ihre Cousine nickte schweigend, dann drückte sie Francesca einen silbernen Fingerhut in die Hand. »Hier, den habe ich aus dem Nähkästchen geholt. Dann musst du das Buch nicht direkt berühren.«
Francesca steckte ihn sich auf den Zeigefinger. Er passte wie angegossen, auch wenn damit das Umblättern nicht ganz einfach werden würde. Ihr rechter Arm sah nun reichlich merkwürdig aus: An jedem Finger trug sie mindestens zwei Silberringe und über dem Verband ihres verstauchten Handgelenks reihten sich sämtliche Armreifen, die sie im Karton des Necronomicons hatte finden können. Der Fingerhut bildete nun die Krönung dieses Schmuckarrangements. »Danke, jetzt habe ich eine fast perfekte magische Rüstung.«
»Ich stehe draußen vor der Tür und passe auf, dass niemand reinkommt. Wenn du Hilfe brauchst, rufst du mich, okay?«
»Natürlich«, versprach Francesca, obwohl sie wusste, dass sie es nicht tun würde. Wenn das Spiegelpentagramm nicht wirkte und mit der Beschwörung etwas schieflief, würde ihr Gianna auch nicht mehr helfen können.
Nachdem ihre Cousine den Ballsaal verlassen hatte, schloss Francesca leise die Tür ab und steckte sich den Schlüssel in die Tasche. Nicht nur, damit Gianna sich nicht selbst in Gefahr brachte, sondern auch, damit nichts aus dem Saal entkommen konnte. Immerhin wusste sie tatsächlich nicht so genau, was für ein Wesen sie gleich heraufbeschwören würde.
Francesca ließ den Blick prüfend durch den Raum gleiten. Sie konnte nur hoffen, dass eine mystische Stimmung für die Beschwörung nicht zwingend notwendig war. Anstatt zahlreicher Kerzen beleuchtete ein Baustellenscheinwerfer die Szenerie und die vielen Werkzeuge und aufgestapelten Bodenplatten erstickten jede geheimnisvolle Atmosphäre im Keim. Allerdings war sie ganz froh darüber. Der Anblick dieser Alltagsgegenstände beruhigte sie irgendwie. Wenn sie allein im flackernden Kerzenschein hätte stehen müssen, wäre ihre Angst sicherlich ins Unermessliche gestiegen.
Francesca atmete tief durch und ging langsam auf das Necronomicon zu. Sie spürte, wie sich Schweiß in ihren Achseln sammelte. Vorsichtig, um den Salzkreis nicht zu beschädigen, kniete sie sich auf den Boden. Ihre Hand, die zögernd über dem Buch schwebte, begann zu zittern. Plötzlich packten sie Zweifel. Tat sie wirklich das Richtige? Hätte sie diese Sache nicht erst mit Fiorella durchsprechen sollen?
Nein, sie durfte sich jetzt nicht von ihrer Angst übermannen lassen! Genau wie sie Gianna gesagt hatte, war sie sich absolut sicher, dass dies der richtige Weg war. Abgesehen davon durfte sie die Beschwörung nicht länger aufschieben. Denn wenn Alessandro ihr verraten würde, wie der Fluch gelöst werden konnte, konnte es unter Umständen einige Zeit in Anspruch nehmen, seine Anweisungen in die Tat umzusetzen.
Ohne weiter zu zögern, schlug sie das Necronomicon auf. Sofort erhob sich eine schwarze Nebelsäule von seinen Seiten, die tastend hin- und herzuckte. Francescas Herz hämmerte wild an ihre Brust, als ob es ihr damit das Signal geben wollte, mit dem, was sie vorhatte, aufzuhören.
Vorsichtig blätterte sie um. Die alten Buchseiten raschelten und die geschwungenen Buchstaben waren schwer zu entziffern. Wie Francesca befürchtet hatte, kam sie wegen des Fingerhuts nur langsam voran. Auch musste sie jedes Mal, wenn ihr die Nebelsäule gefährlich nahe kam, zurückweichen. Zwar war ihre Hand durch den Silberschmuck ein wenig geschützt, aber sie durfte kein unnötiges Risiko eingehen. Wenigstens, so bemerkte Francesca erleichtert, funktionierte ihr Plan und es gelang der Nebelsäule nicht, das Innere des Salzkreises zu verlassen.
Mit Bedauern stellte sie fest, dass das Necronomicon kein Inhaltsverzeichnis besaß, und so durchsuchte sie wahllos das Buch. Dabei fiel ihr auf, dass die Beschwörungen nach ihrem Schwierigkeitsgrad und ihrer Mächtigkeit geordnet waren. Einer Eingebung folgend schlug sie die letzten Seiten auf. Es war, wie sie vermutet hatte: Dort prangte der Name des mächtigsten Fluchdämons, den man beschwören konnte. Nyarlath. Beseelt von seiner Rache hatte Alessandro den stärksten Fluch des Necronomicons über Venedig verhängt.
Endlich stieß sie auf die Seite mit der Totenbeschwörung. Sie befand sich im ersten Drittel des Buches, was Francesca hoffen ließ, dass auch sie – obwohl sie keine Ahnung von diesen Dingen hatte – die Beschwörung bewerkstelligen konnte. Konzentriert überflog sie die Seite. Dort war das gleiche Pentagramm abgebildet, das sie schon aus der Abhandlung abgezeichnet hatte. Natürlich fehlte jedoch das von Knüttelsiel entwickelte Schutzpentagramm, auf das Francesca all ihre Hoffnungen gesetzt hatte. Sie hatte wirklich Glück gehabt, dass der Professor ausgerechnet die fünf Seiten hatte studieren können, unter denen sich auch die Totenbeschwörung befand. Um einen Missbrauch der magischen Kräfte zu verhindern, hatte er in seiner Abhandlung jedoch den genauen Wortlaut der Beschwörung weggelassen.
Francesca zog überrascht eine Augenbraue hoch. Die Formel war kürzer, als sie erwartet hatte. Es handelte sich dabei um eine fremdartig klingende Silbenfolge, die für sie keinerlei Sinn ergab. Still formten ihre Lippen die Laute, bis sie glaubte, sie sich genügend eingeprägt zu haben.
Unvermittelt schoss eine eisige Kälte ihren Arm hinauf. Erschrocken sah Francesca auf.
Sie war so auf die Formel konzentriert gewesen, dass sie die Nebelsäule vollkommen vergessen hatte. Nun hatte sich ihre dünne Spitze wie eine Schlange mehrfach um Francescas kleinen Finger gewickelt. Nur mit Mühe konnte sie einen panischen Aufschrei unterdrücken.
Was sollte sie jetzt tun? Sofort versuchte sie, mit schnellen, ruckartigen Bewegungen ihren Finger zu befreien, doch die Nebelschlange ließ sich nicht abschütteln. Francescas Gedanken überschlugen sich, hektisch versuchte sie, eine Lösung zu finden. Schon spürte sie, wie die seltsame Kälte immer weiter von ihr Besitz ergriff und sich dunkle Schatten in ihr Bewusstsein schlichen. Da bemerkte sie, dass die Nebelschlange einen deutlichen Abstand zu dem Silberring an ihrem Finger einhielt. Vielleicht konnte sie die silbernen Armreifen so weit vorschieben, bis sie damit die Nebelschlange berühren konnte? Einen Versuch war es wert! Doch in dem Moment, als sich ihre linke Hand innerhalb des Salzkreises befand, teilte sich auch der schwarze Nebel und eine zweite Säule begann, nach der neuen Wärmequelle umherzutasten. Sofort zog Francesca ihre noch freie Hand zurück. Nun wünschte sie sich, sie wäre nicht so dumm gewesen, die Tür zum Ballsaal zu verschließen. Gianna hätte ihr nur die silberne Schöpfkelle aus dem Koffer reichen müssen und schon wäre sie die Nebelschlange losgeworden. Niemals hätte Francesca damit gerechnet, dass sie noch vor der eigentlichen Beschwörung in solch eine Lage kommen würde … Wäre sie nur nicht so unvorsichtig gewesen!
Angst und Panik brachen wie eine Flutwelle über sie herein und verschleierten ihren Blick. Oder war dies etwa schon die Macht des Necronomicons, die Stück für Stück ihren Körper und ihr Denken eroberte? Füllten sich vielleicht ihre Augen wie bei Fiorella gerade mit dem schwarzen Nebel? Francesca keuchte auf und Schweißtropfen perlten auf ihrer Stirn.
Plötzlich spürte sie, wie etwas in ihr Bewusstsein eindrang. Zuerst glaubte sie, nur eine Art Summen in ihrem Kopf zu hören, dann wurde es jedoch immer lauter und spaltete sich in eine Vielzahl bösartig zischender Stimmen auf.
»Was willst du?«, fragten sie im Chor.
»Nichts. Ich will nichts«, stammelte Francesca, starr vor Schreck.
»Jeder Mensch will etwas. Immer sehnt ihr euch nach etwas, das ihr nicht bekommen könnt. Das liegt in eurer Natur. Ihr seid nicht dazu fähig, glücklich zu sein. Wonach sehnst du dich, Mensch?«
»Nach nichts«, beteuerte Francesca wimmernd. »Ich sehne mich nach nichts.«
»Das glauben wir nicht. Was ist dein größter Wunsch? Bist du arm und sehnst dich nach Reichtum? Wir können dir dazu verhelfen, alles zu besitzen, was du dir je erträumt hast. Bist du schwach und sehnst dich nach Stärke und Macht? Durch unsere Hilfe werden alle zu dir aufsehen. Ist dein Herz gebrochen und willst du eine verlorene Liebe zurückgewinnen? Möchtest du ewiges Leben? Alles ist für uns möglich, es gibt keine Grenzen.«
»Ich will nichts von alldem.« Francesca schüttelte vehement den Kopf. »Lasst mich in Frieden! Ich bin glücklich.«
Verwundert stellte sie fest, dass dies sogar der Wahrheit entsprach. Francesca war sich dessen nie wirklich bewusst gewesen. Sicher, manchmal wünschte sie sich, dass ihrer Mutter ihre Arbeit nicht so wichtig wäre und sie mehr Zeit zusammen verbrächten oder dass ihr in der Schule die Matheaufgaben leichter fallen würden. Oder dass sie sich, wie in den vergangenen Tagen, nicht so sehr zwischen Venedig und ihrer Heimat in Deutschland hin- und hergerissen fühlte. Doch dies waren alles Dinge, die ihre Seele nicht wirklich quälten. Im Grunde, so erkannte sie plötzlich, hatte es sogar Vorteile, dass es auf dieser Welt zwei Orte gab, an denen sie sich zu Hause fühlte. Francesca hatte ihre Freunde in Deutschland, ihre Familie in Venedig und tief in ihrem Herzen fühlte sie sich von ihrer Mutter bedingungslos geliebt. Sosehr sie auch in sich hineinhörte, nichts von alldem, was die Stimmen ihr versprachen, brachte sie wirklich in Versuchung. Sogar ihr tizianrotes Haar, auf das sie so ungern angesprochen wurde, wollte sie nicht anders haben. Ihre auffällige Haarfarbe war ein Teil von ihr und machte sie auf gewisse Weise einzigartig.
»Ich will nichts von alldem, was ihr mir anbietet«, wiederholte sie. »Mein Leben ist gut, so, wie es ist.«
Die Stimmen schwiegen. Für einen Moment keimte in Francesca die verzweifelte Hoffnung auf, dass sie alles überstanden hätte.
»Bist du ein … Kind?«, zischte schließlich eine einzelne, vor Bosheit verzerrte Stimme. Die Abscheu, mit der sie diese Frage ausstieß, war nicht zu überhören.
Eine einzelne Träne rann Francesca über die Wange. »Ja.«
»Nur ein Kind kann ein Herz ohne quälende Sehnsucht haben und wahres Glück empfinden. Nur ein Kind besitzt die Fähigkeit, dem Leben selbst im größten Leid mit einem Lächeln zu begegnen. Doch es hat eine große Schwäche.«
Francesca schluckte schwer.
»Es ist die Angst. Die Angst vor dem Dunkel, in dem das Böse lauert. Die Angst, dass dir dieses Böse raubt, was dir lieb ist. Auch du hast diese Angst, Menschenkind, nicht wahr?«
Sofort dachte sie daran, wie sie vor ein paar Tagen Fiorellas scheinbar leblosen Körper an sich gedrückt hatte. Schon allein die Erinnerung daran stach wie ein Messer in ihr Herz. Das Gefühl, nie wieder ihre Stimme hören zu können, nie wieder ihre warme Berührung fühlen zu dürfen, war schrecklich gewesen.
»Wir können dich von deiner Angst befreien. Niemals wird dich jemand verlassen, der dein Herz bewohnt. Das willst du doch, oder?«
Francescas Mund öffnete sich ganz automatisch. Sie wollte zustimmen, den Widerstand gegen die Stimme aufgeben und sich ihren verheißungsvollen Versprechungen hingeben.
Doch ein kleiner Teil ihres Bewusstseins erinnerte Francesca daran, dass sie den Mächten dieses Buches nicht vertrauen durfte. Das waren die Lockrufe des Necronomicons, denen auch schon Fiorella erlegen war. Doch im Gegensatz zu ihrer Großmutter war sie, Francesca, gewarnt – sie wusste, dass sie nicht auf diese Stimmen hören durfte! Sie waren böse und alles, was sie ihr versprachen, würde ebenfalls im Bösen enden.
Entschlossen schüttelte Francesca den Kopf. »Nein, ich weiß, dass ihr lügt! Ihr wollt mich nur dazu bringen, das Necronomicon in eurem Sinne zu benutzen. Aber ich werde mich nicht zu eurer Marionette machen lassen!«
Sie musste es irgendwie schaffen, ihre Hand aus diesem Kreis herauszubekommen. Sobald es ihr gelingen würde, sich dem unsichtbaren Schutzschild des Salzkreises zu nähern, würde die Nebelsäule von ihr ablassen müssen. Eine fast schon störrische Entschlossenheit durchflutete sie und gab ihr neue Kraft. Francesca stützte sich auf dem Boden ab und begann so fest zu ziehen, wie sie konnte.
Der Chor der Stimmen in ihrem Kopf schrie entrüstet auf, die Nebelschlange klammerte sich verzweifelt an ihren Finger. Doch auch Francesca hatte nicht vor, nachzulassen und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht nach hinten. Während ihr kleiner Finger sich in einem unnatürlichen Winkel seitlich abspreizte, näherte sich ihre Hand Stück für Stück dem Schutzschild. Je näher sie ihm kam, umso mehr ließ die Kraft der Nebelschlange nach und die kreischenden Stimmen in ihrem Kopf wurden leiser.
»Bleib bei uns, Menschenkind … du kannst uns nicht entfliehen … bleib …«
Sie presste die Augen zusammen. Nur noch ein kleines Stückchen! Der Schmerz in ihrem Finger wurde unerträglich. Sie war sich sicher, dass der Knochen jeden Augenblick brechen würde, doch Francesca biss die Zähne zusammen. Sie musste ihre Hand befreien, sie musste diese Stimmen loswerden!
Da, endlich – ihr Handgelenk befand sich außerhalb des Schutzkreises. Das war ihre Chance! Nun konnte sie mit ihrer linken Hand die Armreifen nach vorne schieben. Sie gab dem Silberschmuck so viel Schwung, dass er sich wie von alleine in Richtung ihrer Finger schob. Noch ehe die Armreifen die Nebelschlange berührten, zuckte diese schon zurück und gab den Finger frei. Francesca stürzte mit vollem Schwung nach hinten zu Boden. Sie hatte es geschafft!
Benommen blieb sie liegen. Francesca konnte es kaum glauben: Ihr war es gelungen, sich von der unheimlichen Macht des Necronomicons zu befreien! Vorsichtig bewegte sie ihren kleinen Finger und stellte erleichtert fest, dass er nicht gebrochen war.
Als sich ihr Herzschlag langsam wieder beruhigte, richtete sie sich auf. Die Nebelsäule tanzte unruhig über dem geöffneten Buch. Nervös massierte Francesca ihren schmerzenden Finger. Wollte sie tatsächlich mit der Beschwörung fortfahren? War es nicht reines Glück gewesen, dass sie den Kampf mit der Nebelschlange gewonnen hatte? Vielleicht hatte Gianna recht damit gehabt, dass sie sich mit Mächten anlegte, denen sie nichts entgegenzusetzen hatte. Gerade hatte sie einen kleinen Vorgeschmack davon bekommen, was sie bei einer Beschwörung erwarten konnte. Nicht umsonst zitterte sie immer noch am ganzen Körper.
Moment mal …
Francesca riss die Augen auf. Das war nicht allein ihr Körper, der zitterte, es war schon wieder ein Erdbeben! Kaum, dass es ihr bewusst geworden war, wurde es auch schon stärker und griff auf die Wände über. Der ganze Palazzo wurde wie von einem Riesen durchgerüttelt. Francesca blieb stocksteif auf dem Boden sitzen und vergrub ihren Kopf schützend unter ihren Armen. Putz löste sich von der Decke und rieselte als feiner Staub auf sie herab. Gegen ihren Willen hatte Francesca plötzlich die Baumstämme vor Augen, auf denen Venedig ruhte – wie das versteinerte Holz unter Wasser Tonnen von Gewicht zu tragen hatte und nun durch den bebenden Untergrund erschüttert wurde. Wenn die Baumstämme nachgaben, würden die Häuser in sich zusammenfallen und alles in die Tiefe reißen, was sich in ihnen befand …
Zu Francescas Erleichterung ebbten die Erdstöße ab. Das war zum Glück nicht das große Beben gewesen, das die Seismologen befürchtet hatten. Doch Nyarlath würde Venedig nicht in dieser Nacht zerstören, Francescas Frist war noch nicht abgelaufen. Aber auch wenn es nur ein kleines Beben gewesen war, hatte es Francesca daran erinnert, was sie zu tun hatte. So einfach würde sie Nyarlath nicht gewinnen lassen! Entschlossen stand sie auf und stellte sich in das Schutzpentagramm. So ein leichtsinniger Fehler wie gerade eben würde ihr nicht mehr unterlaufen. Ab sofort würde sie besser aufpassen!
Sie schloss die Augen und rief sich die Beschwörungsformel ins Gedächtnis. Adrenalin schoss durch ihren Körper und ihr Mund war plötzlich so trocken, dass es ihr schwerfiel, die ersten Worte auszusprechen. Sie hörte, wie ihre heisere Stimme von den Wänden des Ballsaals zurückgeworfen wurde und die fremdartigen Laute den Raum erfüllten. Wie im Necronomicon beschrieben, wiederholte sie die Formel dreimal hintereinander und fügte am Ende Alessandros Namen hinzu, dann öffnete sie blinzelnd die Augen.
Nichts war geschehen.
Das ihr gegenüberliegende Pentagramm war leer. Unruhig trat Francesca von einem Bein auf das andere. Hatte sie die Formel falsch ausgesprochen? Ob sie das Schutzpentagramm verlassen und im Buch noch einmal nachsehen sollte? Gerade als sie zögernd einen Schritt vortreten wollte, geschah es.
Die Nebelsäule über dem Necronomicon verdichtete sich und wuchs immer weiter in die Höhe, bis sie fast die Decke erreicht hatte. Erst dann wandte sie sich zur Seite in Richtung des gegenüberliegenden Pentagramms. Hier waren die Zeichen angebracht, die die Macht des Necronomicons anzogen und verstärkten. Trotzdem bewegte sich die Nebelsäule nur quälend langsam auf das Pentagramm zu. Francesca vermutete, dass dies an dem Salzkreis lag, der das Necronomicon schwächte. Sie musste damit rechnen, dass die Beschwörung – wenn sie überhaupt gelingen sollte – noch kürzer werden würde, als Knüttelsiel prophezeit hatte. Denn der Salzkreis war keine von Knüttelsiels Sicherheitsvorkehrungen, das war allein ihre Idee gewesen. Hätte der magische Salzkreis nicht gerade ihre Rettung bedeutet, hätte sie es in diesem Moment wohl bereut, den Kreis angebracht zu haben. Ob die Zeit ausreichen würde, um Alessandro die Wahrheit zu entlocken?
Endlich hatte die Nebelsäule die Mitte des Pentagramms erreicht. Sie war mittlerweile so dünn und schwach, dass sie kaum noch zu erkennen war. Als sie jedoch das magische Zeichen der Totenbeschwörung berührte, schoss etwas mit einem gellenden Schrei aus dem Necronomicon hervor. Francesca konnte nicht erkennen, was es war, denn im selben Moment explodierte die Nebelsäule förmlich. In Windeseile breitete sich der schwarze Nebel im ganzen Ballsaal aus, der Baustellenscheinwerfer begann zu flackern und ein vielstimmiges Kreischen erfüllte den Raum.
Die plötzliche Stille, die danach folgte, war jedoch fast genauso unheimlich.
Eine Gänsehaut kroch Francesca den Rücken hinauf. Im flackernden Licht des Scheinwerfers erkannte sie, dass im Pentagramm nun eine Gestalt stand. Es war ohne Frage ein Mensch, wenn er auch sehr mitgenommen aussah. Seine edle Kleidung war voller Blutflecken, das Hemd zerrissen und seine Haare hingen ihm in langen Strähnen ins Gesicht. Am beunruhigendsten war jedoch das irre Funkeln in seinen Augen. Durch seine eingefallenen Wangen und die tief liegenden Augenhöhlen wirkte er völlig ausgezehrt.
Der Hass hat ihn von innen aufgefressen, schoss es Francesca durch den Kopf. Und mit diesem Mann sollte sie verwandt sein? Automatisch suchte sie in seinen Gesichtszügen nach Ähnlichkeiten und war fast schon erleichtert, als sie keine finden konnte.
Nachdem er einige erfolglose Versuche unternommen hatte, das Pentagramm zu verlassen, fixierte er Francesca mit lauerndem Blick. Sie musste sich selbst daran erinnern, dass sie keine Zeit dafür hatte, einfach nur herumzustehen und mit geöffnetem Mund ihren Vorfahren anzugaffen. Abgesehen davon waberte der Nebel des Necronomicons unheilvoll umher, bedeckte Werkzeuge, Bodenplatten und die flackernde Lampe. Der große Kamin und die Spiegel des Ballsaals waren von Francescas Standpunkt aus kaum noch zu erkennen. Die Berührung des magischen Zeichens hatte dem Necronomicon zu neuer Kraft verholfen. Im Grunde hatte sie genau das getan, was die Stimmen des Necronomicons von ihr gewollt hatten: Sie hatte die Worte des Bösen ausgesprochen und damit das Portal in die Welt der Jenseitigen geöffnet. Dank Francescas Vorsichtsmaßnahmen war dies natürlich nur für kurze Dauer und die Totenbeschwörung besaß auch nicht die gleiche magische Kraft wie die Herbeirufung eines Fluchdämons, trotzdem erfüllte der Anblick des lebendig wirkenden Nebels Francesca mit einem unguten Gefühl.
Sie räusperte sich. »Bist du Alessandro Demetrio di Medici?«
Er schwieg so lange, dass Francesca schon befürchtete, er habe sie nicht verstanden.
»Wer will das wissen?«, fragte er schließlich.
Oje, das fing ja gut an! Anscheinend gehörte er nicht zu den redseligen Typen. Zu ihrer Überraschung hatte Alessandro jedoch eine warme, angenehme Stimme, die völlig im Gegensatz zu seinem verhärmten Äußeren stand.
»Wenn ja, bin ich deine Nachfahrin – Francesca di Medici. Seit deiner Hinrichtung sind knapp vierhundert Jahre vergangen.«
Zum ersten Mal zeigte sich ein flüchtiges Lächeln auf seinem Gesicht. »Es gibt die Familie Medici somit noch«, meinte er mit sichtlichem Stolz. »Das ist gut! Wir tragen einen großen Namen, die Medicis haben in der Geschichte Italiens Großes bewirkt. Als Medici ist man dazu verpflichtet, die Tradition fortzuführen.«
Alessandro sah sich erneut um und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Abgesehen von dir kann ich kaum etwas außerhalb dieses Pentagramms erkennen. Alles ist seltsam verschwommen. Wo bin ich hier?«
»Im Ballsaal des Palazzos der Medicis.«
Alessandro zuckte sichtlich zusammen.
»Venedig existiert noch?«, stieß er mit bebenden Nasenflügeln hervor. »Aber was ist mit meinem Fluch? Warum hat er nicht gewirkt?«
Unfreiwilligerweise hatte er damit schon Francescas erste Frage, die sie an ihn hatte stellen wollen, beantwortet. Es stimmte also: Alessandro war tatsächlich derjenige, der den Fluch über Venedig ausgesprochen hatte.
»Nyarlath hat den Fluch noch nicht zu Ende gebracht. Dafür ist ein Teil deines schrecklichen Fluches auf die Medici-Familie zurückgefallen. Seit deinem Tod verfolgt er alle erstgeborenen Medicis. In meiner Generation bin ich die Einzige, die den Namen Medici noch trägt, und deshalb werde ich seit Jahren von diesem Fluch gequält. Aus diesem Grund habe ich dich heraufbeschworen«, erklärte sie ihm. »Nyarlath erpresst mich. Er will das Necronomicon haben oder er wird Venedig zerstören. Aber ich glaube nicht, dass er das tun wird, immerhin würde es …«
»Sei dir da nicht so sicher«, fiel er ihr unwillig ins Wort. »Nyarlath muss sehr geschwächt sein. Er stirbt, wenn er zu lange von seinen Brüdern getrennt ist – und bevor das geschieht, wird er den Fluch lieber beenden und in seine Welt zurückkehren.«
Seine Worte waren für Francesca wie ein Schlag ins Gesicht. Sie war davon überzeugt gewesen, dass Nyarlaths Erpressung nur eine Finte war und er seine Drohung nicht wirklich in die Tat umsetzen würde.
»Du hast meine Ausgabe des Necronomicons?«, fragte Alessandro. »Auf der das Wappen der Medicis eingeprägt ist?«
Francesca nickte.
»Das ist eine gute Nachricht!« Er schnalzte zufrieden mit der Zunge. »Ich habe es mithilfe eines Zaubers auf unsere Familie geprägt, sodass es immer wieder in die Hände eines Medicis zurückfindet«, erzählte er. »Der Rat der Zehn wollte das Necronomicon unbedingt in seinen Besitz bekommen. Allein darum ging es ihnen. Sie wollten sich seine Macht aneignen, um die Republik Venedig unantastbar zu machen. Mit meiner öffentlichen Hinrichtung wollten sie demjenigen Angst einjagen, bei dem ich das Buch versteckt haben könnte. Aber sie fanden das Necronomicon nie.« Er stieß ein triumphierendes Lachen aus. »Noch bevor sie mich festnehmen konnten, habe ich es aus dem Fenster in den Kanal geworfen. Ich wusste schließlich, dass es wieder zu unserer Familie zurückfinden würde.«
Mit wachsender Ungeduld hatte Francesca ihm zugehört. »Alessandro, wir haben nicht viel Zeit. Ich habe eine besondere Art der Beschwörung gewählt, die nur wenige Minuten aufrechterhalten werden kann«, sagte sie eindringlich. »Du musst mir verraten, ob man den Fluch, den du ausgesprochen hast, wieder aufheben kann. Sonst wird Venedig untergehen.«
»Aber das ist genau das, was ich will!«, rief er hasserfüllt. »Deswegen habe ich Nyarlath beschworen und auf Venedig gehetzt. Diese Stadt voller Lug und Trug soll vernichtet werden!«
Erschrocken wich Francesca zurück. Sie hatte nicht bedacht, dass Alessandro noch genauso voller Rache sein musste wie am Tag seines Todes.
Sie fuhr herum. Was war das? Hatte sie sich diese Bewegung nur eingebildet? Mit zusammengekniffenen Augen suchte sie den schwarzen Nebel ab. Sie hatte geglaubt, einen fremdartigen Schatten zu sehen. Etwas, das flink wie ein Tier umherhuschte.
»Dafür hat sich meine Seele mit dem Necronomicon verbunden, seit Jahrhunderten lebe ich in der Hölle«, fuhr Alessandro fort. »Doch wenn der Fluch erfüllt wird, ist es das Leiden wert! Nur um ihre eigene Vergänglichkeit zu vergessen, erschufen die Venezianer diese prunkvolle Stadt. Damit etwas von ihnen die Ewigkeit überdauert, während sie selbst schon lange zu Staub zerfallen sind. Deswegen wird es mir eine Freude sein, Venedig endgültig vernichtet zu sehen. Die Stadt, die mir das genommen hat, was ich am meisten auf Erden liebte …« Er verstummte.
»Du meinst Madelina.«
Alessandro nickte traurig. Plötzlich wirkte er so verletzlich, dass Francesca sogar Mitleid mit ihm bekam.
»Ich kann deine Wut und Trauer verstehen, doch heute ist Venedig eine andere Stadt als zu deiner Zeit. Es gibt keine Nobili mehr und auch kein goldenes Buch. Wegen deines Fluches mussten so viele Menschen leiden, auch deine eigenen Nachkommen …«
Francesca stockte. Da war es wieder! Dieses Mal war sie sich sicher, eine Bewegung im Nebel gesehen zu haben. Außer ihr und Alessandro war noch etwas hier … Nun hörte sie auch einen tiefen, grollenden Laut, der jeden Muskel ihres Körpers vor Angst erstarren ließ. Sie hatte dieses Geräusch schon einmal gehört – kurz vor dem Angriff in Fiorellas Zimmer. Ein Jenseitiger war in den Ballsaal gelangt!
»Ich habe nicht geahnt, dass der Fluch auf unsere Familie zurückfällt«, verteidigte sich Alessandro. »Nie hätte ich gewollt, dass Unschuldige leiden müssen. Aber diese Stadt hat diesen Fluch verdient, sie ist durchdrungen vom Bösen! Jedenfalls war sie es zu meiner Zeit«, fügte er etwas unsicher hinzu.
Immer mit der Ruhe, versuchte Francesca ihre aufsteigende Panik im Zaum zu halten. Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren! Im Schutzpentagramm war sie in Sicherheit. Auch wenn es einem Jenseitigen gelungen war, hier aufzutauchen, musste er durch die vielen Spiegel des Ballsaals geschwächt sein. Denn genau deswegen hatte sie diesen Ort für die Beschwörung gewählt: Die angelaufenen Spiegel des Salone da ballo besaßen eine Silberbeschichtung und schwächten alle magischen Kräfte. Jedenfalls hoffte sie das.
Sie versuchte, sich auf Alessandro zu konzentrieren und nicht dem Teil in ihrem Inneren zu gehorchen, der in blinde Panik verfallen wollte.
»Wem nützt es denn, wenn du mir heute deine Hilfe verweigerst? Alle, die du damals bestrafen wolltest, sind längst tot. Alessandro, ich weiß, dass du nicht böse bist! Wenn du Unschuldige mit deiner Rache bestrafst, bist du auch nicht besser als die Nobili oder der Rat der Zehn. Meinst du, Madelina hätte das gewollt?«
Alessandro schüttelte langsam den Kopf. An seinem gepeinigten Gesichtsausdruck erkannte Francesca, dass sie mit ihrem Argument ins Schwarze getroffen hatte.
»Ich habe sie damals mit genau der gleichen Formel heraufbeschworen, wie du es heute mit mir getan hast. Doch Madelina hat verlangt, dass ich sie wieder zurückschicke und ihre Seele ruhen lasse. Ich musste ihr versprechen, dass ich sie und unsere Liebe ziehen lasse, damit ich meinen Frieden finden kann. Leider ist es mir nicht gelungen, ihr diesen letzten Wunsch zu erfüllen«, fügte er kaum hörbar hinzu.
Das Flackern der Baustellenlampe wurde stärker. Wie in einem Blitzlichtgewitter ging das Licht so schnell an und aus, dass Francesca immer nur für einen kurzen Moment ihre Umgebung erkennen konnte. Sie musste gegen den Drang ankämpfen, einfach die Augen zu schließen. Der Jenseitige war ganz in ihrer Nähe. Sie hörte sein aufgeregtes Keuchen, roch seinen Gestank nach Verwesung. Dieses Mal war der Geruch so intensiv, dass sich Francesca für einen Moment nach vorne beugen musste, um sich nicht zu übergeben. Breite Strähnen ihres Haares klebten an ihrer schweißnassen Stirn.
»Madelina hat es nicht verdient, dass du eure Liebe in diesem bösartigen Rachefeldzug enden lässt.« Übelkeit und Angst ließen ihre Stimme dünn und gepresst klingen. »Cecilia, meine Tante, war im gleichen Alter wie deine Madelina. Sie war jung und schön und hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Doch wegen des Fluches, der als erstgeborene Medici auf ihr lastete, hat sie sich in ihrer Verzweiflung das Leben genommen. Meinst du, das hätte Madelina gewollt?«
Erneut schüttelte Alessandro stumm den Kopf.
»Dann sag mir: Wie kann ich den Fluch lösen? Bitte, sag es mir!«, flehte sie. Alessandro schien sichtlich mit sich zu kämpfen.
Der Jenseitige tauchte so unvermittelt vor Francesca auf, dass ihr Schrei einem erstickten Quieken glich. Durch die grellen Lichtblitze konnte sie seine Gestalt immer nur für den Bruchteil einer Sekunde ausmachen. Sein haarloser Körper war von einem leblosen, öligen Weiß und seine Augen, die komplett mit einem matten Schwarz ausgefüllt waren, fixierten Francesca ununterbrochen. Gier, aber auch Zorn lag in ihnen. Francesca konnte sich denken, weshalb: Sie war den Stimmen des Necronomicons nicht erlegen – und nun benutzte sie die Macht des Buches auch noch nach ihrem Willen und für ihre eigenen Zwecke! Dies war von den Jenseitigen anders geplant: Um sich des Necronomicons bedienen zu dürfen, hätte sie ihr Sklave sein müssen. Der Jenseitige riss wütend sein Maul auf und von mehreren Reihen messerspitzer Zähne tropften lange Speichelfäden herab.
»Was ist los? Du siehst plötzlich so ängstlich aus.« Alessandro war mit gerunzelter Stirn an den Rand seines Pentagramms getreten und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. »Ist das ein Jenseitiger, der bei dir steht?«
»Ja, er muss mit dem Nebel des Necronomicons hergekommen sein.«
Wie ein Raubtier umschlich der Jenseitige das Pentagramm. Francesca fühlte sich wie eine hilflose Beute, die in der Falle saß.
»Das ist normal«, versuchte Alessandro sie zu beruhigen. »Du hast durch die Beschwörung das Portal geöffnet. Doch es kann nur derjenige von ihnen in unserer Welt verbleiben, der als Fluchdämon beschworen worden ist. Die anderen verschwinden wieder, sobald die Beschwörung beendet ist. Sie sehen zwar erschreckend aus, aber sie tun dir nichts – schließlich hast du dich für die Beschwörung mit dem Necronomicon verbunden und sie brauchen dich noch.«
Das hatte sie eben nicht! Doch Francesca hatte nicht die Zeit, Alessandro von Knüttelsiels Spiegelpentagramm zu erzählen. »Dieser Jenseitige wird mich garantiert angreifen, wenn es ihm möglich ist!«
Sie senkte den Blick, da sie es nicht länger ertragen konnte, den Jenseitigen um sich herumschleichen zu sehen. Doch was sie nun sah, beschleunigte ihren Herzschlag nur noch mehr. Als sie nach ihrem Kampf mit der Nebelsäule auf den Boden gefallen war, hatte sie anscheinend eine Spitze des Schutzpentagramms verwischt. Wenn dies der Jenseitige ebenfalls bemerkte, konnte er an dieser Stelle ungehindert eindringen und Francesca hatte ihm nichts mehr entgegenzusetzen. Sie riss ängstlich den Kopf hoch. Der Jenseitige war mit einem grässlich verzerrten Grinsen stehen geblieben.
»Menschenkind«, lechzte er gierig. Es war dieselbe Stimme, die sich aus dem Chor der Jenseitigen gelöst und allein zu Francesca gesprochen hatte.
Eisiges Grauen erfasste sie. Ihr wurde klar, dass auch er die offene Spitze des Pentagramms bemerkt hatte. Sie war verloren.
»Er kommt in mein Pentagramm«, japste sie. »Der Jenseitige wird mich töten. Alessandro, was soll ich tun?«
Alessandro versuchte erneut, dieses Mal verzweifelter und drängender, sein eigenes Pentagramm zu verlassen, doch er scheiterte immer wieder.
Der Jenseitige trat in die offene Spitze des Pentagramms.
»Geh weg von mir!«, sagte Francesca mit allem Mut, den sie aufbringen konnte. »Bleib weg von mir!«
»Wenn ich dir nur helfen könnte«, rief Alessandro panisch und rang die Hände. Seine Hilflosigkeit schien ihn fast um den Verstand zu bringen. »Jetzt habe ich sogar dich in Gefahr gebracht, meine letzte Nachfahrin – ein kleines Mädchen, die letzte Medici. Das tut mir alles so leid! Wenn ich nur etwas tun könnte …« Alessandro schien zum ersten Mal wirklich klargeworden zu sein, was er mit seinem Fluch angerichtet hatte.
Für einen winzigen Moment ließ Francesca den Jenseitigen aus den Augen, der langsam wie eine Raubkatze auf sie zuschlich. Ein Teil ihres Verstandes stellte kaltblütig fest, dass dies vielleicht ihre einzige Chance war, Alessandro die Wahrheit zu entlocken.
»Du kannst etwas tun: Sag mir, wie ich den Fluch aufheben kann!«
»Aber das hilft dir doch im Moment überhaupt …«
»Sag es mir!«, fiel sie ihm eisig ins Wort.
»Also gut«, lenkte Alessandro ein. Er hätte ihr in seiner Verzweiflung wahrscheinlich alles gestanden. »Du musst das Necronomicon der Medicis zerstören. Denn nur mit dem Exemplar, mit dem ich Nyarlath beschworen habe, lässt sich der Fluch aufheben. Wenn du das Necronomicon vernichtest, ist der Fluch aufgehoben und Nyarlath hört auf, in unserer Welt zu existieren. Auch aus diesem Grund muss er das Buch unbedingt in seinen Besitz bringen. Es ist sein einziger verwundbarer Punkt.«
Der Jenseitige schien des Katz- und Maus-Spiels müde geworden zu sein, auch wenn er sich sichtlich an Francescas steigender Panik geweidet hatte. Genüsslich hatte er den Duft ihrer Angst eingesaugt. Doch nun näherte er sich ihr zielstrebig.
»Aber es lässt sich nicht zerstören«, wandte Francesca aufgeregt ein. »Ich habe es schon versucht.«
Sie presste beide Hände vor den Mund, um ihre panischen Schreie zurückzuhalten. Sie wich so weit zurück, wie es der innere Kreis des Schutzpentagramms zuließ. Immerhin war dieser unversehrt, sodass der Jenseitige nicht auch in ihn eindringen konnte. Doch er war nahe genug. Er musste nur seine Krallenhand ausstrecken, um sie berühren zu können.
Und genau das tat er.
»Wie ich schon gesagt habe, ist dieses Buch ein ganz besonderes Exemplar – es lässt sich nicht so einfach vernichten«, erklärte Alessandro. »Durch mein Blut ist es auf einen Medici geprägt und nur das Blut eines Medici kann diesen Bann wieder aufheben. Nur du allein, Francesca, kannst Venedig noch retten.«
Die verkrümmten Finger bohrten sich in Francescas Nacken. Mit einem gierigen Lechzen riss der Jenseitige sie zu sich heran. Sofort schloss sich seine Hand um ihren Hals und schnürte ihr die Luft ab, während stinkende Speichelfäden ihr Gesicht benetzten.
»Wenn das Necronomicon dein Blut getrunken hat, bist du die Meisterin des Buches und kannst es vernichten. Doch du musst den gleichen Dolch dafür benutzen, den ich genommen habe. Es ist ein besonderer Dolch, der von einem Schwarzmagier hergestellt worden ist.«
Francesca wehrte sich aus Leibeskräften, doch gegen die Stärke des Jenseitigen konnte sie nichts ausrichten. Warum ging diese Beschwörung nicht endlich zu Ende? Die sieben Minuten, von denen Knüttelsiel geschrieben hatte, mussten doch schon längst vergangen sein. Sie wollte, dass dies alles endlich aufhörte!
»Der Zauber lässt nach. Etwas zieht mich zurück«, rief Alessandro alarmiert. »Francesca, du musst dieses Buch zerstören! Nur du kannst gutmachen, was ich einst angerichtet habe.«
Francesca japste nach Luft. Verzweifelt versuchte sie, die Hand des Jenseitigen abzuschütteln, doch sie drückte nur noch gnadenloser zu. Vor ihren Augen begannen bunte Sterne zu tanzen.
Sie spürte, wie ihr Körper plötzlich aufhörte, sich zu wehren. Eine seltsame Schwere breitete sich in ihren Gliedern aus.
»Wo ist der Dolch?«, krächzte sie mit letzter Kraft.
Nur noch mit halbem Bewusstsein registrierte Francesca, dass das Flackern der Lampe nachließ und sich der schwarze Nebel in Alessandros Pentagramm zurückzog. Die Gestalt ihres Vorfahren verlor ihre Konturen und wurde seltsam durchsichtig.
»Er ist hier im Palazzo.«
Alessandros Stimme wurde immer leiser und drang wie aus weiter Ferne zu ihr. »Ich wusste, dass er nicht dem Rat der Zehn in die Hände …«
Nun konnte sie ihn kaum mehr verstehen.
»… fallen durfte. Deswegen habe ich ihn sicher verwahrt. Er ist …«
Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie er seinen Mund bewegte, aber seine Stimme war nicht mehr zu hören.
Er streckte die Hand aus, doch ehe Alessandro in eine Richtung deuten konnte, wurde er von der hin- und herzuckenden Nebelsäule wie von einem Mahlstrom erfasst, sie riss Alessandro mit sich, zurück in das Necronomicon. Im selben Moment war auch der Jenseitige verschwunden und Francescas Lunge füllte sich wieder mit Sauerstoff.
Röchelnd fasste sie sich an den schmerzenden Hals. Es brannte so sehr, als würde sie flüssiges Feuer atmen. Erst nach und nach beruhigte sich ihr Körper wieder. Die Beschwörung war zu Ende, das Portal hatte sich geschlossen. Doch Francesca registrierte dies kaum. Sie sackte benommen zu Boden. Was sie in den letzten Minuten erlebt hatte, war zu viel für sie gewesen. Die Welt verschwamm vor ihren Augen, dann umfing sie wohltuende Dunkelheit.