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Francesca wedelte eine Spinnwebe vor ihrem Gesicht zur Seite und öffnete einen der Kartons. Babyklamotten, Vorhänge, alte Fotos, Urlaubserinnerungen aus fremden Städten. Kein Dolch. Schon wieder nicht. Dabei krochen Gianna und sie schon seit Tagesanbruch hier im Speicher des Palazzos herum. Sie seufzte frustriert und sah sich in dem weitläufigen, vollgestellten Raum um. Ihr Blick fiel auf Tische mit zersprungenen Marmorplatten, restaurierungsbedürftige Büsten und Statuen, Sofas mit aufgerissenen Polstern und herausquellenden Eingeweiden. Wie eine Decke lag der Staub auf den schlafenden Möbeln, als Visitenkarte der Zeit. Sein gräuliches Weiß erinnerte Francesca an das Haar alter Menschen.

Gianna stieß ein so entsetztes Kreischen aus, dass Francesca sofort aufsprang und besorgt zu ihr eilte. Ihre Cousine war leichenblass und deutete mit zitterndem Finger auf einen antiken Schrank, dessen Türen schief in den Angeln hingen.

»Sp-sp-spinnen …«, stammelte sie. »Ganz viele Spinnen.«

Francesca lächelte halb verständnisvoll, halb belustigt. Gianna hasste Spinnen. Sie warf einen prüfenden Blick in den Schrank, konnte jedoch nur drei oder vier kleinere Exemplare entdecken.

»Die wuseln voller Panik hin und her«, stellte sie in vorwurfsvollem Ton fest. »Anscheinend hast du die armen Spinnen in Angst und Schrecken versetzt.«

Gianna schüttelte sich angeekelt und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Wenn ich geahnt hätte, dass ich mit so vielen dieser achtbeinigen Viecher unter einem Dach lebe, hätte ich nachts kein Auge mehr zugemacht. Hast du gewusst, dass ein Mensch in seinem Leben im Durchschnitt achtzig Spinnen verschluckt, während er schläft?«

»Ach ja? Und wie hat man das herausgefunden?«, fragte Francesca mit hochgezogener Augenbraue. »Eine Befragung unter Spinnen zu den Top Ten der häufigsten Todesursachen?«

Gianna verschränkte die Arme vor der Brust und streckte ihr die Zunge heraus.

»Wir sind hier in Venedig, einer Stadt im Meer. Wie kommen Spinnen überhaupt hierher?«, fuhr sie missmutig fort, während Francesca mit dem Knöchel ihres Zeigefingers den Schrank nach einem Geheimfach oder einem doppelten Boden abklopfte. »Das ist sicherlich nicht ihr natürlicher Lebensraum.«

»Sie haben sich wahrscheinlich ein Mini-Floß gebaut und sind nach Venedig gerudert.« Francesca warf ihr einen amüsierten Seitenblick zu, wurde dann jedoch wieder ernst. »In diesem Schrank ist jedenfalls nichts versteckt.«

Seufzend nahm sie auf einer abgewetzten Chaiselongue Platz. »Ich habe leider auch noch nichts gefunden. Der Palazzo ist riesig und der Dolch könnte sonst wo sein.« Sie deutete auf den Fußboden. »Vielleicht hat Alessandro ihn unter einer dieser unzähligen Dielen versteckt oder hinter der Wandvertäfelung in Fiorellas Zimmer. Vielleicht wurde er in den letzten Jahrhunderten aber auch schon von einem Medici gefunden und verkauft. Wir haben keine Ahnung.«

Sie saßen sich schweigend gegenüber. Giannas verzweifeltem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass auch sie sich ihrer geringen Chancen bewusst war.

»Aber was willst du tun? Aufgeben?«, fragte sie vorsichtig.

»Nein, natürlich nicht. Es ist nur so …«, Francesca hob die Schultern an, dann ließ sie die Arme ermattet auf die Knie sinken, »… frustrierend. Wir haben so viel durchgestanden, stehen kurz vor dem Ziel und nun suchen wir die Nadel im Heuhaufen.«

Gianna setzte sich neben sie, legte einen Arm um Francescas Schulter und drückte sie an sich. »Nicht wir, du hast das alles durchgestanden!«, widersprach sie. »Du hast dich sogar getraut, mit diesem Teufelsbuch unseren Vorfahren zu beschwören. Dazu hätte ich nie und nimmer den Mut aufgebracht, allein wenn ich daran denke, wird mir schon ganz schlecht.«

Gianna erschauderte sichtlich, dann warf sie Francesca einen beleidigten Seitenblick zu. »Ich werde dir übrigens nie verzeihen, dass ich über eine Stunde draußen vor der Tür stehen musste und vor Sorge halb verrückt geworden bin, während du ein Nickerchen im Pentagramm gehalten hast!«

»Ich habe nicht geschlafen«, protestierte Francesca. »Mein Körper hat nur beschlossen, dass es an der Zeit wäre, sich etwas auszuruhen.« Sie konnte sich wirklich glücklich schätzen, dass sie in dieser Zeit keinen Albtraum bekommen hatte. Vielleicht war ihre Ohnmacht einfach zu tief gewesen, Francesca vermutete jedoch, dass die Zeichen des Pentagramms sie vor Nyarlath geschützt hatten.

Gianna sah sie mit ernster Miene an. »Ich möchte mich noch einmal bei dir von ganzem Herzen entschuldigen – ohne, dass ich von Nonna dazu gezwungen werde.«

»Wofür denn?«, fragte Francesca irritiert.

»Für das, was ich dir gestern an den Kopf geworfen habe, du weißt schon …« Sie blickte zur Seite und nestelte verlegen an einem Stofffetzen der Chaiselongue herum. Trotzdem konnte Francesca erkennen, wie sich ihre Wangen röteten. »Dass du nicht wirklich zu unserer Familie gehörst«, erklärte sie weiter und ihre Stimme war dabei so leise, dass Francesca sie kaum verstehen konnte. »Ich war in dem Moment davon überzeugt, dass mein Vorschlag der richtige ist und ich war sauer, dass du es nicht genauso siehst. Aber ich glaube, ich wollte dir auch wehtun, weil ich … ein wenig eifersüchtig war.«

Francesca blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. »Auf mich?«

Gianna nickte unglücklich. »Weil sich alles wieder nur um dich gedreht hat. Schon immer hatte ich das blöde Gefühl, dass du Nonnas Liebling bist, schließlich trägst du als Einzige von uns den Namen Medici. Du hast die schönen tizianroten Haare geerbt und immer, wenn du zu uns kommst, sind vor Freude alle ganz aufgeregt …« Gianna stockte einen Moment, ehe sie fortfuhr: »Nun bist du auch noch diejenige, die dazu auserkoren sein soll, Venedig und unsere Familie zu retten und anstatt vor Angst davonzulaufen, stellst du dich allen Gefahren.«

»Aber das habe ich mir doch nicht ausgesucht! Ich wollte nie …«

»Das weiß ich doch«, fiel Gianna ihr ins Wort und verzog gequält das Gesicht. »Das war idiotisch von mir! Und unfair. Deswegen tut es mir auch so leid.«

Nun war es Francesca, die Gianna umarmte und an sich drückte. »Du bist die beste Cousine, die man sich wünschen kann«, versicherte sie ihr gerührt. »Wenn du an meiner Stelle wärst, hättest du alles mindestens genauso gut überstanden. Meistens hatte ich nur Glück und die Beschwörung war gar nicht so schlimm, wie du sie dir vorstellst.«

Das war nicht einmal gelogen. Die Beschwörung war in Wirklichkeit wahrscheinlich viel schlimmer gewesen, als Gianna sich das ausmalen konnte.

Hätte Francesca vorher auch nur ansatzweise geahnt, was sie erwartete, wäre sie wahrscheinlich tatsächlich vor Angst davongelaufen.

»Wenn das so ist, könntest du Alessandro gleich noch einmal beschwören«, schlug Gianna vor. »Und ihn fragen, wo er den doofen Dolch versteckt hat.«

Erschrocken sah Francesca auf, bis sie an Giannas ironisch hochgezogener Augenbraue erkannte, dass sie nur einen Spaß gemacht hatte.

»Vergiss es, so eine Beschwörung mache ich nie wieder«, erwiderte Francesca inbrünstig. Dann begann sie zu kichern. »Weißt du, was wirklich verrückt ist? Ich war auch auf dich eifersüchtig. Deine Zeichnungen sind wunderschön und ich habe mir oft gewünscht, dass ich nur einen Funken deines Talents hätte«, gestand sie. »Du hast einen tollen Vater und mit deinen dunklen langen Haaren bist du für mich das Ebenbild einer italienischen Schönheit. Wenn man in deine Augen sieht, ist man so verzaubert, dass man deine Gehbehinderung überhaupt nicht mehr bemerkt.«

Geschmeichelt strich sich Gianna eine Strähne aus dem Gesicht.

»Wir sind ganz schön bescheuert, oder?«, meinte sie schmunzelnd. »Nie hätte ich gedacht, dass du auf mich eifersüchtig sein könntest. Aber weißt du was?« Sie straffte die Schultern und strahlte über das ganze Gesicht. »Das fühlt sich richtig gut an!«

Francesca grinste breit. »Stimmt, mir geht es jetzt auch viel besser als vorher. Wir sollten uns öfter aussprechen.«

Gianna erhob sich gut gelaunt. »Los, lass uns weitersuchen! Bis wir nach Mestre fahren, haben wir noch viel Arbeit vor uns.«

Francesca verzog das Gesicht. An die Fahrt zum Festland wollte sie gar nicht erst denken. Beim Frühstück hatte man auf Violas und Stellas besorgtes Drängen hin beschlossen, heute bei Emilios Bruder in Mestre zu übernachten, da die Seismologen für die kommende Nacht noch stärkere Erdbeben prophezeit hatten. Antonio und Emilio hatten sich nur widerstrebend dazu bereit erklärt, den Palazzo sich selbst zu überlassen. Wie in einer Familiendemokratie üblich, waren die Kinder gar nicht erst nach ihrer Meinung gefragt worden. Die Entscheidung war gefällt: Heute, am späten Nachmittag, würde die Familie den Palazzo Ca’nera verlassen. Francesca wusste, dass sie sich diesem Entschluss nicht widersetzen konnte, aber ebenso war ihr klar, dass sie Venedig nicht verlassen durfte. Nicht in der heutigen Nacht, nicht, wenn so viel auf dem Spiel stand.

Gianna wandte sich zur Tür und legte einen Zeigefinger an die Lippen. »Ruft da nicht jemand?«

Tatsächlich – durch die geöffnete Tür des Dachbodens drang von weit her Violas Stimme zu ihnen, die Francescas Namen rief.

»Ich glaube, dein Typ wird verlangt«, meinte Gianna. »Ich suche solange weiter. Wenn du ein lautes Kreischen hörst, habe ich entweder den Dolch gefunden oder versehentlich in eines der Spinnennester gefasst.«

Francesca sauste die Treppen hinunter und platzte atemlos in die Küche. Ihre Tante Viola stand am Fenster, den Rücken zur Tür gewandt, und telefonierte. Sie schien nicht bemerkt zu haben, dass Francesca ins Zimmer getreten war.

»… lässt sich nichts anmerken, du kennst sie ja«, sagte sie gerade mit gedämpfter Stimme. »Sie besteht darauf, dass niemand etwas davon erfährt. Die Kinder sollen sich keine Sorgen machen!«

Francesca runzelte die Stirn. Was meinte Viola denn damit? Sie trat näher heran, den Blick fest auf Violas Rücken gerichtet. Zu ihrem Pech stieß sie dabei jedoch gegen einen Putzeimer, den jemand mitten im Zimmer abgestellt hatte.

Viola fuhr herum und machte ein ertapptes Gesicht. Sie räusperte sich. »Nun, wie gesagt, deine Tochter ist in den letzten Monaten ja völlig abgemagert, nur noch Haut und Knochen«, plapperte sie eilig ins Telefon, als hätte sie gerade von nichts anderem gesprochen. »Aber keine Sorge, Isabella, ich päpple sie wieder auf. Wenn wir dir Francesca zurückschicken, wirst du sie nicht mehr wiedererkennen!« Viola hielt einen Moment inne, dann zogen sich ihre Augenbrauen zusammen. »Was meinst du denn mit, ›du möchtest kein fettes Kind zurückhaben‹? Zwischen gesund und fett ist ja wohl ein bedeutender Unterschied!«

Auf Violas Gesicht lag immer noch absolute Verständnislosigkeit, als sie Francesca den Hörer in die Hand drückte und mit Putzeimer und Wischmopp bewaffnet die Küche verließ. Warum sie ausgerechnet an einem Tag, an dem Venedig der Untergang drohte, noch den Boden wischen musste, war Francesca ein Rätsel. Aber wahrscheinlich wollte sie sich nur irgendwie ablenken.

»Hallo, Mama!«

Anstatt einer Antwort hörte sie am anderen Ende der Leitung ein geräuschvolles Tröten. Anscheinend putzte sich ihre Mutter gerade die Nase.

»Francesca«, meldete sie sich einen Augenblick später. Sie klang seltsam bewegt, als hätte sie eben noch geweint. »Ich bin so froh, deine Stimme zu hören. Ich habe schon unzählige Male auf deinem Handy angerufen, seit ich im Fernsehen von den Erdbeben erfahren habe.«

In der Stimme ihrer Mutter lag so viel tief empfundene Sorge, dass Francesca sofort Schuldgefühle bekam. Sie hätte sich in den vergangenen Tagen wirklich einmal bei ihr melden können!

»Tut mir leid, Mama, mein Handy habe ich gar nicht bei mir. Ich hätte natürlich zurückgerufen, wenn ich deine Anrufe gesehen hätte.«

Noch ehe sie es ausgesprochen hatte, ahnte sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Ihre Mutter wusste, dass Francesca im Normalfall keinen Schritt ohne ihr Handy machte. Sie spürte förmlich, wie ihre Mutter gerade die Stirn runzelte.

»Du trägst dein Handy nicht mit dir herum? Bist du krank?«, fragte sie misstrauisch.

»Quatsch, ich habe es nur verlegt. Du kannst dir sicher vorstellen, was hier für eine Aufregung herrscht seit diesen Erdbeben«, versuchte sie ihre Mutter zu beschwichtigen und startete ein Ablenkungsmanöver: »Ich habe dich beim letzten Mal ganz vergessen zu fragen, wie deine Reise war?«

»Was für eine Reise?«, fragte ihre Mutter zerstreut. »Ach, du meinst die Feier für die führenden Angestellten in der Schweiz … Ich bin früher abgereist, das war nicht ganz meine Welt. Erst dort ist mir aufgefallen, dass ich Silvester lieber mit dir verbracht hätte, so wie jedes Jahr. Ich habe dich vermisst.«

»Ich dich auch.«

Mit erschreckender Klarheit wurde Francesca plötzlich bewusst, dass sie vielleicht zum letzten Mal mit ihrer Mutter sprach. Bisher hatte sie solche Gedanken zu verdrängen versucht – sie musste den Dolch finden, alles andere blendete sie aus. Doch bei der Vorstellung, dass das Treffen mit Nyarlath ein schlechtes Ende nehmen könnte, lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Ihr Optimismus und ihre Selbstbeherrschung, an die sie sich in den letzten Tagen so eisern geklammert hatte, begannen ihr zu entgleiten und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wusste, dass es ihrer Mutter das Herz brechen würde, wenn ihr etwas zustieße.

»Ich hab dich lieb, Mama. Bitte denk daran, egal, was passiert«, rutschte es ihr mit bewegter Stimme heraus, ehe sie es verhindern konnte.

»Was soll denn passieren?«, fragte ihre Mutter in scharfem Tonfall. »Francesca, was ist bei dir los?«

Francesca schwieg. Alles in ihr sträubte sich dagegen, ihre Mutter anzulügen.

»Du wirst doch mit den anderen in Mestre übernachten, oder?«, hakte sie nach. Ihr untrügliches Gespür dafür, wenn Francesca Probleme hatte oder ihr etwas verschwieg, war geradezu unheimlich.

Francesca schluckte schwer. Hätte ihre Mutter sie nicht fragen können, ob sie mit den anderen nach Mestre fuhr? Denn diese Frage hätte sie ohne zu zögern bejahen können.

Sofort nach dem Familienbeschluss war Francesca nämlich in Fiorellas Zimmer geeilt, um sie um ihre Hilfe zu bitten. Ihre Großmutter hatte sichtlich gezögert, denn natürlich war sie ebenfalls um Francescas Sicherheit besorgt und wollte sie nicht unnötig in Gefahr bringen. Doch Francesca hatte so verzweifelt auf sie eingeredet, bis sie sich schließlich geschlagen gab. So hatte Fiorella ihre Töchter darüber informiert, dass sie nicht im Traum daran dächte, in der völlig überfüllten Zwei-Zimmer-Wohnung von Emilios Bruder zu übernachten und stattdessen bei ihrer alten Freundin Maria unterkommen würde, die ebenfalls in Mestre wohnte. Da sie vor Francescas Abreise gerne noch etwas Zeit mit ihrer Enkelin verbringen wolle, habe sie vor, Francesca zu Maria mitzunehmen. Zu Francescas Erleichterung hatten Viola und Stella nichts gegen den Vorschlag einzuwenden. So würden Fiorella und Francesca zwar gemeinsam mit der Familie nach Mestre fahren, aber sobald die anderen außer Sichtweite waren, würden sie mit einem Taxiboot nach Venedig zurückkehren. Das war jedenfalls ihr Plan.

»Du weißt schon davon, dass wir alle nach Mestre fahren?«, fragte Francesca ausweichend. »Das wurde doch eben erst beim Frühstück beschlossen.«

»Viola hat es mir gerade erzählt und ich bin offen gestanden sehr froh darüber, dich in Sicherheit zu wissen. Du wirst heute dort übernachten und dann kommst du morgen früh sofort nach Hause, hörst du?«

Francesca schnappte nach Luft. Das konnte ihre Mutter unmöglich ernst meinen! Was war nur los mit ihr? Sie benahm sich plötzlich wie eine überfürsorgliche Glucke, so kannte Francesca sie überhaupt nicht.

»Aber ich habe schon ein Ticket für die Rückfahrt gekauft, mein Zug fährt erst in drei Tagen. Warum soll ich denn morgen früh schon nach Hause kommen?«, stieß sie patzig aus.

»Weil ich es dir sage!«, befahl ihre Mutter in schrillem Ton.

Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Francesca hörte, wie ihre Mutter leise schniefte.

Misstrauisch blickte sie auf den Hörer, als könnte er ihr verraten, was mit ihrer Mutter los war. So seltsam hatte Francesca sie noch nie erlebt. »Mama, was hast du denn?«, fragte sie, nun wieder sanfter.

»Ach, es ist im Moment alles etwas viel. Zuerst der Unfall deiner Großmutter, dann die Erdbeben, die Sorge um dich und jetzt auch noch …«

Sie hielt abrupt inne, als hätte sie sich im letzten Moment stoppen können, ein Geheimnis preiszugeben.

Sofort dachte Francesca daran, was Viola vorhin zu ihrer Schwester gesagt hatte: Sie besteht darauf, dass niemand etwas davon erfährt. Die Kinder sollen sich keine Sorgen machen!

Plötzlich fiel ihr auch wieder ein, dass Stella an dem Tag, als Fiorella aus dem Krankenhaus entlassen wurde, rot geränderte, verweinte Augen hatte. Egal, was es war, das die drei Schwestern so sehr mitnahm, es musste etwas Schlimmes sein.

»Was ist denn außer dem Unfall und den Erdbeben sonst noch geschehen?«, bohrte Francesca weiter.

Anstatt einer Antwort stieß ihre Mutter nur ein unterdrücktes Schluchzen aus. »Bitte, Francesca, bring dich in Sicherheit. Ich will dich nicht auch noch verlieren!«

»Mama, mach dir keine Sorgen, ich passe auf mich auf«, versicherte sie ihr. »Aber was meinst du denn damit, dass du mich nicht auch noch verlieren willst?«

Ihre Mutter atmete tief durch und räusperte sich. »Nichts. Bitte entschuldige. Ich bin wohl etwas neben der Spur«, sagte sie ausweichend und die Lüge war unüberhörbar. »Ich habe in den letzten zwei Nächten kaum geschlafen.«

Das konnte Francesca ihr besser nachfühlen, als ihre Mutter wohl ahnte.

»Francesca, ich spüre doch, dass bei dir etwas nicht stimmt«, ging ihre Mutter nun wieder zum Gegenangriff über. »Bitte sag mir die Wahrheit: Hast du irgendeine Dummheit vor?«

Francesca biss sich auf die Lippe. Was sollte sie darauf nur antworten? Aus der Sicht ihrer Mutter hatte sie wahrscheinlich eine riesige Dummheit vor. Aber hatte sie denn eine andere Wahl? Sie steckte schon zu tief in dieser Geschichte drin. Schon lange ging es nicht mehr nur um sie selbst – dies betraf ihre ganze Familie, mittlerweile sogar ganz Venedig.

»Muss ich etwa nach Venedig kommen?«, drohte ihre Mutter. Francesca kannte diesen Tonfall. Es war der gleiche, den Fiorella an den Tag legte, wenn ihr etwas absolut nicht gefiel. »Im Ernst, ich nehme sofort den nächsten Flieger, wenn du nicht endlich mit der Sprache rausrückst.«

»Nein, du musst nicht kommen«, beeilte sich Francesca zu sagen. »Mach dir keine Sorgen um mich. Bitte vertraue mir!«

»Du machst es mir nicht gerade leicht. Erzähl es mir doch einfach! Vielleicht kann ich dir ja helfen?«

Francesca schluckte schwer. »Es tut mir leid, ich würde es dir wirklich gerne sagen …« Sie sehnte sich mit ganzem Herzen danach, genau dies zu tun. Vielleicht könnte ihre Mutter ihr tatsächlich einen Rat geben? Vielleicht war sie tatsächlich auf einem falschen Weg? Sie seufzte schwermütig auf. »Aber du würdest mir sowieso nicht glauben.«

»Bitte, Francesca«, flüsterte ihre Mutter.

Francesca öffnete den Mund, wusste jedoch nicht, was sie sagen sollte. Dabei war ihr klar, dass sie schon allein durch ihr langes Schweigen ihre Mutter verletzte. Wie aus weiter Ferne nahm sie ein vielstimmiges Klirren und Sirren wahr, das erst nach und nach in ihr Bewusstsein drang. Erschrocken sah sie auf.

Auch ihre Mutter schien es gehört zu haben. »Was ist das für ein Geräusch?«, rief sie panisch. »Was ist bei euch los?«

Wie immer hatte das Beben ohne Vorwarnung eingesetzt und schon war es so stark, dass Francesca nur noch mit Mühe das Gleichgewicht halten konnte. Sie ging in die Knie und stützte sich mit einer Hand am Boden ab.

»Mama, ein Erdbeben«, schrie sie, ehe sie den Hörer fallen ließ. Auf allen vieren durchquerte sie die Küche. Die Möbel bogen sich mal nach links, mal nach rechts, verformten sich, als seien sie aus Pappe, Schranktüren wurden wie von Geisterhand aufgerissen. Das Geschirr prasselte direkt neben Francesca zu Boden und Glassplitter bohrten sich in ihre Hände und Knie. Mit einem verzweifelten Sprung flüchtete sie sich unter den Tisch, zog die Knie an und vergrub ihren Kopf unter den Händen. Sie wollte all dies ausblenden, zählte die Sekunden, um sich von ihrer Angst abzulenken. Doch dann ließ sie ein neues Geräusch erstarren.

Ein tiefes Grollen erschütterte den Palazzo.

Noch nie hatte Francesca einen so gewaltigen Laut gehört. Es war eine Art steinernes Ächzen. Jedes Haar an ihrem Körper stellte sich vor grausigem Entsetzen auf. Es klang, als würde etwas unglaublich Schweres entzweigerissen.

Dann war es vorbei.

Langsam hob Francesca den Kopf. Die Küche war vollkommen verwüstet, Schränke hingen schief an der Wand, der Boden war übersät mit Besteck, Pfannen und Scherben. Durch den Palazzo hallten aufgeregte Stimmen.

Schräg gegenüber sah Francesca einen breiten, gezackten Riss, der sich quer über die ganze Wand zog. Mit zittrigen Knien lief sie zurück zum Telefon.

»Mama? Bist du noch da?« – Doch die Leitung war tot.

Fiorellas Plan lief nicht ganz so reibungslos ab, wie sie es sich gewünscht hatten. Als sie in Mestre ankamen, war Stella nicht davon abzubringen, sie zu Maria zu begleiten. Allerdings vermutete Francesca, dass sie dies aus reiner Fürsorglichkeit tat und nicht, weil sie irgendetwas von der heimlichen Flucht ahnte. Gianna presste Francesca zum Abschied so fest an sich, dass sie kaum noch atmen konnte, und als sich Gianna schließlich von ihr abwandte, den Korb mit Cosimo an sich gedrückt, funkelten dicke Tränen in ihren Augen.

Fiorella und Francesca blieb keine andere Wahl, als gemeinsam mit Stella zu Marias Haus zu laufen. Als sich die Tür öffnete, beschleunigte sich Francescas Herzschlag. Glücklicherweise schien Fiorella jedoch an alles gedacht und bei ihrer Freundin angerufen zu haben, um ihr Kommen anzukündigen. Denn keine Spur von Überraschung zeichnete sich auf dem Gesicht der alten Frau ab, die Fiorella zum Verwechseln ähnlich sah: Maria war klein, die schneeweißen Haare waren zu einem strengen Dutt festgesteckt und auf ihren Schultern ruhte eine schwarze Stola. Natürlich bat Maria auch Stella zu sich herein und so saßen sie erst einmal plaudernd am Tisch, tranken einen Espresso und Maria servierte einen großen Teller selbst gebackener Kekse. Um ihre Aufregung zu verbergen, futterte Francesca einen Keks nach dem anderen, bis Maria schließlich mit erstauntem Gesicht den leeren Teller abräumte. Francesca lächelte entschuldigend. Sie hatte das Gefühl, dass ihr die Zeit zwischen den Fingern verrann. Denn obwohl Gianna, Fiorella und sie den ganzen Tag damit verbracht hatten, den Dolch zu suchen, waren sie weder auf einen Geheimgang noch auf eine versteckte Nische gestoßen. Kurz bevor sie sich getrennt hatten, hatte Gianna ihr allerdings noch den Tipp gegeben, eine der Marmorplatten im oberen Flur näher zu untersuchen. Als sie noch klein waren, hatten sie sich oft auf diese Platte gestellt und sie auf und ab wippen lassen. Soweit sich Francesca zurückerinnern konnte, war die Platte schon immer locker gewesen. Dafür konnte es schließlich einen Grund geben. Vielleicht hatte jemand etwas darunter versteckt? Francesca musste unbedingt zum Palazzo zurück und sich diese Platte ansehen!

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Stella sich schließlich erhob. Fiorella drückte ihre Tochter zum Abschied an sich, strich ihr liebevoll über die kurzen Haare und Stella bat Maria augenzwinkernd, gut auf Fiorella und Francesca aufzupassen. So war es nicht verwunderlich, dass Maria sehr unglücklich dreinblickte, als die beiden schon wenige Minuten nach Stellas Aufbruch ihre Sachen zusammenrafften.

Während Francesca in ihre Jacke schlüpfte, fragte sie sich besorgt, ob Maria wohl zum Telefon greifen und Stella informieren würde. Fiorella schien dasselbe gedacht zu haben, denn sie raunte Maria zu: »Meine alte Freundin, ich erinnere dich nur ungern daran, aber du bist mir noch einen Gefallen schuldig. Du weißt schon, die Sache 1973.«

Maria zuckte unmerklich zurück. Irgendetwas in ihrem Blick schien sich zu verschleiern. Sie biss die Zähne zusammen und nickte. »Ich weiß nicht, was ihr vorhabt, Fiorella, aber der Herr möge euch dabei beschützen«, sagte sie zum Abschied.

Francesca und ihre Großmutter kamen sich vor wie Verbrecher, als sie durch das abendliche Mestre eilten und sich dabei immer wieder schuldbewusst umsahen. Doch sie erreichten die Anlegestelle, zu der sie das Taxiboot bestellt hatten, ohne einen Zwischenfall. Wegen der horrenden Fahrpreise war Francesca noch nie mit einem Taxiboot gefahren, doch Fiorella meinte, die Rettung Venedigs sei ihr diese Investition wert. Trotzdem schnaubte sie entrüstet auf, als der Fahrer schon im Voraus eine unverschämt hohe Summe von ihr abkassierte. Das Boot war überdacht, sodass sie vor dem eisigen Fahrtwind geschützt waren, und Francesca ließ sich dankbar auf die mit Leder bezogene Rückbank sinken.

Als sie ablegten betrachtete sie durch das Fenster die Lichter Venedigs. Die vielen Kirchtürme ragten in den sternenklaren Abendhimmel hinauf. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, wie es wäre, wenn all dies im Meer versank, wenn es diese einzigartige Stadt plötzlich nicht mehr geben und der Blick nur über eine nackte Wasserfläche streifen würde. Plötzlich waren all ihre Zweifel wie weggewischt und sie wusste wieder, dass sie das Richtige tat. Venedig musste leben. Nyarlath durfte den Fluch nicht zu Ende bringen!

»Was war das denn für eine Sache zwischen dir und Maria 1973?«, fragte Francesca, während sie sich noch tiefer in das Polster kuschelte.

»Du bist zu neugierig«, schnaubte Nonna genervt. »Es ist Marias Geheimnis und ich habe es nie jemandem erzählt, ansonsten hätte ich diesen Gefallen heute nicht einfordern können. Sie hat damals meine Hilfe gebraucht, bei etwas, das im Allgemeinen für falsch gehalten wird. Doch im Leben ergeben sich manchmal Situationen, in denen der falsche plötzlich der richtige Weg wird.«

»Habt ihr etwa zusammen eine Bank ausgeraubt?«

»Was du mir so alles zutraust«, erwiderte Fiorella schmunzelnd. »Aber keine Sorge, es war nichts Ungesetzliches.«

Francesca dachte einen Moment lang nach. »Die meisten würden sagen, dass wir beide uns gerade ebenfalls für den falschen Weg entscheiden, doch uns erscheint er richtig zu sein.«

»Genau.« Sie setzte ein nervöses Lächeln auf, das Francesca noch nie an ihr gesehen hatte. Erst jetzt wurde ihr klar, wie angespannt auch Fiorella sein musste. »Maria hatte recht: Möge der Herr uns heute Nacht beschützen, was immer uns auch erwarten mag.«

Bei ihren Worten überlief Francesca ein Frösteln. Was würde heute Nacht wohl geschehen, wenn es ihnen nicht gelang, den Dolch rechtzeitig zu finden? Sie musste an ihre Mutter denken. Nach dem letzten Beben hatte Francesca mehrmals versucht, sie mit dem Handy anzurufen. Sicherlich war sie nach dem abrupten Ende ihres Telefonats vollkommen aufgelöst gewesen und Francesca wollte ihr sagen, dass sie unverletzt war und sie sich keine Sorgen machen sollte. Aber ihre Mutter war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Sie machte ihre Drohung doch hoffentlich nicht wahr und kam gerade nach Venedig, um sie höchstpersönlich nach Hause zu holen? So seltsam, wie sie sich während ihres Gesprächs benommen hatte, traute Francesca ihr das ohne Weiteres zu. Mit ganzem Herzen hoffte sie jedoch, dass sie sich täuschte. Sie wollte nicht auch noch ihre Mutter in Gefahr wissen.

Fiorella griff nach ihrer Hand und begann, kaum hörbar zu sprechen. Francesca vermutete, dass sie betete und ließ sie in Ruhe.

Sie gähnte herzhaft und spürte, wie durch das Schaukeln des Bootes, das sanfte Auf und Ab der Wellen, ihre Anspannung nachließ. Schon immer hatte dieses sanfte Schaukeln eine beruhigende Wirkung auf sie gehabt, doch heute war dieses Gefühl besonders intensiv. Als würde das Wasser der Lagune ihr einen letzten Moment des Friedens schenken wollen. Langsam, Welle für Welle, fielen alle Sorgen und Ängste von Francesca ab. Sie drückte Nonnas Hand und ihre Großmutter erwiderte den Druck. Egal, was geschehen würde, sie waren zusammen. Francesca lehnte den Kopf ans Fenster und spürte, wie ihre Augen immer schwerer wurden. Es kostete sie unglaublich viel Kraft, sie immer wieder aufzureißen und schließlich erlaubte sich Francesca, sie für einen kurzen Moment zu schließen. Was sollte ihr denn schon passieren? Sie würde darauf achtgeben, dass sie nicht einschlief und Fiorella saß schließlich direkt neben ihr …

Sie lief durch die Dunkelheit. Hektisch, atemlos. Ihre Haare klebten feucht an ihrer Stirn, ihr Brustkorb hob und senkte sich so schnell, dass es schmerzte.

Eine Stimme in ihrem Innern flüsterte ihr zu, dass sie eingeschlafen war. Sie musste aufwachen! Sofort!

Francesca blieb stehen. Vielleicht konnte sie sich dazu zwingen, wieder in die Realität zurückzukehren? Mit aller Kraft kniff sie sich in den Arm, der Schmerz war erschreckend real, doch die erhoffte Wirkung blieb aus. Sie war gefangen in der Dunkelheit ihres Albtraums. Tränen der Wut und Verzweiflung stiegen ihr in die Augen. Wie hatte sie sich nur erlauben können, die Augen zu schließen? Wie hatte sie nur so dumm sein können?

Aber vielleicht gab es noch eine Chance: Sie musste Nyarlath nur lange genug entkommen, bis Fiorella bemerkte, dass sie eingeschlafen war und sie aufweckte.

Sie setzte sich wieder in Bewegung, doch im selben Moment bohrte sich eine krallenartige Hand in ihre Schulter und riss sie unsanft zurück. Francesca entwich ein entsetzter Schrei. Sie hatte Nyarlath nicht kommen hören. Er musste von Anfang an hinter ihr gewesen sein.

»Willkommen! Ich habe schon auf dich gewartet«, raunte er ihr mit seiner krächzenden Stimme zu. »Heute haben wir leider keine Zeit für Spielchen. Du darfst mich sofort in meinen Spiegelpalazzo begleiten, einverstanden?«

Francescas Antwort war ein schmerzverzerrtes Wimmern.

Er führte sie durch das Dunkel, so zielsicher, dass Francesca nicht einmal ins Stolpern geriet oder gegen eine Hausecke stieß. Fieberhaft überlegte sie, wie sie ihm entkommen konnte, doch seine Krallen bohrten sich wie spitze Nägel in ihre Schulter. Selbst wenn es ihr gelänge, sich von ihm zu befreien – wo sollte sie hin? Dieser Ort war Nyarlaths Element.

Sie bogen um eine Ecke und Francesca blinzelte vor Überraschung, als sie plötzlich ein fahles Licht ausmachen konnte. Es war der Mond, der groß am Himmel stand und seinen weißen Strahl über den Canal Grande legte. Neben ihnen erhob sich ein herrschaftlicher Palazzo, den Francesca schon oft im Vorbeifahren bewundert hatte. Dies bestätigte ihre Vermutung, dass ihr jahrelanger Albtraum immer nur an einem einzigen Ort gespielt hatte – in Venedig. Das Gebäude war mit einem prunkvoll verzierten Marmor verkleidet, gotische Säulen umschlossen die Terrassen, aufwendige Zierzinnen schmückten das Dachgesims. Die hohen, spitz zulaufenden Fenster waren vergittert. Es konnte niemand hinein, aber genauso wenig hinaus. Anstatt Francesca jedoch zum Eingang des Palazzos zu führen, steuerte Nyarlath auf eine Treppe zu, die direkt ins Wasser führte.

»Darf ich dich hereinbitten?«, fragte er in hämischem Tonfall. Natürlich wusste er, dass Francesca gar keine andere Wahl hatte. »Dies ist mein Heim, der Spiegelpalazzo.«

Es dauerte einen Moment, ehe Francesca begriff. Sie warf einen schockierten Blick auf das Wasser. Im Licht des Mondes warf der herrschaftliche Palazzo sein spiegelverkehrtes Ebenbild auf die Oberfläche des Canal Grande.

Nyarlath stieß sie in den Rücken und Francesca stolperte die Stufen hinunter. »Los, lauf weiter!«

Kaltes Wasser drang in ihre Schuhe ein und leckte an ihren Hosenbeinen.

»Aber ich kann da nicht hinein«, protestierte sie panisch. Sie stemmte die Füße in den Boden und widersetzte sich mit all ihrer Kraft seinem Griff. »Ich werde ertrinken!«

»Das lass mal meine Sorge sein.« Nyarlath lachte. »Du ertrinkst nur, wenn ich es will.«

Erneut versetzte er ihr einen Stoß, sodass sie die moosbewachsenen, glitschigen Stufen hinunterrutschte. Ehe sie es sich versah, befand sie sich bis zum Hals im Wasser. Nyarlath packte sie am Oberarm, tauchte hinab und Francesca nahm einen letzten, verzweifelten Atemzug, ehe sie von ihm ebenfalls unter Wasser gezerrt wurde.

Das Lagunenwasser umschloss sie und rauschte in ihren Ohren, ihre Haare enthoben sich der Schwerkraft und flossen wie ein Schleier um sie herum. Nyarlath zog sie weiter zum Eingang des Palazzos, der hier unter Wasser ebenso real existierte wie sein Zwilling an Land. Als sie vor der ebenholzschwarzen Türe haltmachten, bemerkte Francesca zu ihrer Verblüffung, dass ihre Füße den Boden berührten und sie auf den ausgetretenen Eingangsstufen stand. Wie konnte das sein? Sie war doch unter Wasser! Sie verspürte nicht einmal den Drang, zu atmen. Obwohl sie wusste, dass das unmöglich war, hörte sie sogar ihre Schritte, als sie in die Eingangshalle traten. An den Wänden brannten Fackeln und erhellten den Raum. Alles sah so echt aus, dass Francesca im Vorübergehen unwillkürlich eine Hand ausstreckte und eine der Säulen berührte. Es war nicht nur eine Spiegelung, die unter ihrer Handbewegung zu Nichts zerstob – Francesca spürte die Kälte und Festigkeit des Steins unter ihren Fingern. Trotzdem wirkte alles in merkwürdiger Art und Weise verschwommen, die Konturen flossen ineinander, als würde das, was sie sah, sich unmerklich bewegen. Gegen ihren Willen war Francesca fasziniert. Sie betrat soeben ein neues Venedig – eine geheime, stille Stadt in den Tiefen des Wassers.

Nyarlath führte sie durch unzählige Räume, sodass Francesca bald völlig orientierungslos war. Die Zimmer waren leer, kein einziges Möbelstück befand sich darin. Aber gerade deshalb kam die Schönheit des Palazzos erst richtig zur Geltung. Selbst im Vorübereilen bemerkte Francesca die kunstvollen Wand- und Deckengemälde, die reichen Stuckverzierungen und goldverzierten Bodenmosaike.

Schließlich betraten sie einen fensterlosen Raum, der weit weniger prächtig war und wohl als Lagerraum gedient hatte. Überall standen mittelalterliche Foltergeräte herum und zu Francescas Schrecken war genau dieses Zimmer Nyarlaths Ziel. Er hielt inne und ließ seinen Blick der Reihe nach über die Folterinstrumente gleiten: Streckbank, Eiserne Jungfrau, Daumenschrauben, Zangen, Brenneisen, nadelbesetzte Walzen. Einige Gegenstände sahen so fremdartig aus, dass sich Francesca nicht einmal vorstellen konnte, auf welche Art und Weise sie dem Opfer Schmerzen zufügten. An einigen Folterinstrumenten glaubte sie sogar, matte rotbraune Flecken ausmachen zu können. Ob das eingetrocknetes Blut war?

»Ah, dahinten ist er!«, rief Nyarlath erfreut aus. Er führte sie zu einem Stuhl, der am anderen Ende des Raums stand. »Nimm Platz!«, befahl er.

Francesca schluckte schwer. »Ist das … ein ganz normaler Stuhl?«

»Du hast doch nicht etwa Angst?«, fragte er spöttisch. »Dann wird es dich sicherlich erleichtern zu hören, dass ich nicht vorhabe, diese Dinge hier an dir anzuwenden«, fuhr er fort, ohne ihre Antwort abzuwarten, denn er kannte sie bereits. Natürlich hatte sie Angst. Es gab keinen Menschen auf der Welt, der an Nyarlaths Seite diesen Raum der Qual und des Schmerzes ohne Angst betreten hätte. »Mithilfe deiner Vorfahren habe ich in den letzten Jahrhunderten eure Spezies studiert. Wie du siehst, habe ich mich dabei auch menschlicher Folterinstrumente bedient, sie sind sehr amüsant. Doch heute haben wir für so etwas keine Zeit. Es gibt einfachere und schnellere Methoden, um euch Menschen die Wahrheit zu entlocken.«

Er schleuderte sie auf den Stuhl, doch selbst als sie saß, lockerte er immer noch nicht seinen Griff. Stattdessen legte er ihr nun seine Krallenhände von hinten auf die Schultern. Sie konnte sich keinen Zentimeter rühren.

»Eines habe ich durch meine Studien gelernt: Je größer der Schmerz ist, umso schneller offenbart ihr die Wahrheit. Bei deinen Vorgängern war diese Eile allerdings nicht notwendig. Ihre Besuche in meinem Palazzo dienten lediglich der …« Er suchte nach dem treffendsten Wort. »Der Motivation. Ich wollte damit sichergehen, dass sie nicht vergessen, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um das Necronomicon zu finden.«

Aus den Augenwinkeln sah Francesca die Spitze der Pestmaske neben ihrer rechten Schulter auftauchen. Nyarlath beugte sich zu ihr herunter. »Bei dir allerdings sieht die Sache anders aus«, flüsterte er ihr ins Ohr. Sein fauliger Atem streifte über ihre Haut. »Wir müssen uns beeilen. Ich spüre, dass du nicht sehr tief schläfst und dass jemand in deiner Nähe ist, der dich aufwecken könnte.«

Fiorella!, schoss es Francesca durch den Kopf. Ein Funken Hoffnung glomm in ihr auf.

»So muss ich dir leider mitteilen, dass du gleich sehr, sehr starke Schmerzen haben wirst«, verkündete Nyarlath genüsslich. »Du hast dich sicherlich gewundert, dass du unter Wasser atmen kannst. Dies liegt nicht etwa daran, dass du träumst, sondern dass ich dir gestatte, zu atmen. Ohne meine Berührung wirst du ertrinken.« Er seufzte theatralisch auf. »Es ist eine wirklich schreckliche Art zu sterben, aber das wirst du schnell selbst feststellen. Abgesehen davon wird sich in diesem Raum gleich der Wasserdruck erhöhen, dadurch wird dein Brustkorb zusammengequetscht und in deiner Lunge entsteht ein Unterdruck. Wie ich gehört habe, ist das alles andere als angenehm.«

Francesca spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Sie konnte nicht verhindern, dass die Bilder, die Nyarlaths Schilderungen in ihr weckten, ihren Körper vor Entsetzen lähmten.

Es ist nur ein Traum, versuchte sie sich selbst Mut zu machen, er kann mich nicht wirklich ertrinken lassen!

Egal, was Nyarlath mit ihr vorhatte, sie durfte ihm nicht die Informationen geben, die er wollte! Fiorella und sie mussten die wenigen Stunden, die ihnen noch bis zum Ablauf des Ultimatums blieben, für die Suche nach dem Dolch nutzen.

»Nun weißt du, was dich erwartet. Doch ehe wir beginnen, gebe ich dir die Chance, mir sofort die Wahrheit zu sagen. Das würde dir die Schmerzen ersparen«, zischte er. »Hier ist also meine erste Frage: Hast du das Necronomicon gefunden?«

Francesca schwieg. Nyarlath hatte ihr selbst gesagt, dass sie ihn nicht anlügen konnte, also war es besser, nichts zu sagen.

»Ich frage dich zum letzten Mal: Hast du das Buch gefunden? Hast du eine Ahnung, wo es ist?«, fragte Nyarlath erneut und die Anspannung in seiner Stimme war unüberhörbar. Es war deutlich, wie wichtig das Necronomicon für ihn war. Seine Existenz hing von Francescas Antwort ab.

Sie presste eisern die Lippen zusammen.

»Du scheinst äußerst störrisch zu sein. Das ist wirklich bedauerlich.«

Nyarlaths Hände lösten sich von ihren Schultern.

Automatisch hielt Francesca die Luft an.

Zuerst dachte sie, dass sich überhaupt nichts veränderte, doch dann wurde der Druck auf ihren Ohren von Sekunde zu Sekunde stärker. Anfangs fühlte es sich an wie im Schwimmbad, wenn man bis zur tiefsten Stelle hinabtauchte. Doch dann steigerte sich der Schmerz bis zur Unerträglichkeit. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr ein spitzes Messer die Trommelfelle zerstechen und bis in ihr Gehirn vordringen. Tränen strömten aus ihren Augen und wurden vom Wasser um sie herum verschluckt. Sie wollte schreien, Nyarlath bitten, aufzuhören – doch sie wusste, dass sie damit ihre Qualen nur noch verschlimmert hätte. Dem Drang ihres Körpers, Luft zu holen, konnte sie kaum noch widerstehen. Ihre Rippen schienen sich nach innen zu drücken und ihr Innerstes zu zerquetschen. Sie sackte vornüber. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Schmerzen empfunden. Ihr Blick trübte sich, vor ihren Augen schien sich alles zu drehen, sie wusste nicht einmal mehr, wo oben und unten war. Die unsichtbare Eisenhand presste ihren Körper immer weiter zusammen, bis jeder Nerv, jede Faser und jeder Muskel ihres Körpers brannte. Plötzlich spürte sie, dass sich mit dem stetig steigenden Schmerz noch etwas anderes veränderte. Eine bleierne Leere begann sich in ihr auszubreiten. Wofür kämpfte sie eigentlich? Wofür ertrug sie dies alles? Im Grunde war es doch gleichgültig. Es sollte nur ein Ende haben. Alles, was je wichtig für sie gewesen war, wurde von den Schmerzen verschlungen. Die Qualen ihres Körpers löschten jeden Funken Freude und Hoffnung, den sie in ihrer Seele trug, unerbittlich aus.

Vor ihren Augen zerfloss der Raum zu einem Strudel aus Farben und Formen, ihre Augenlider flatterten. Sogar ihre Gedanken schienen vor Schmerz gelähmt zu sein. Nur noch einzelne Wortfetzen zogen durch ihr Bewusstsein …

…zu schwer … ertrage es nicht mehr …

…es soll aufhören … aufhören …

…will …sterben …

Nyarlaths Hände legten sich auf ihre Schultern. Augenblicklich war die unsichtbare Eisenhand verschwunden, ihr Körper dehnte sich wieder aus. Automatisch atmete Francesca ein, obwohl sie immer noch halb bewusstlos war. Sie hatte immer noch Schmerzen, zu stark war der Druck auf ihre Ohren und den Rest ihres Körpers gewesen.

»Nun hast du einen kleinen Vorgeschmack meiner Möglichkeiten bekommen. Wenn es dir gefallen hat, können wir es so oft wiederholen, wie du möchtest«, sagte Nyarlath zufrieden. »Ich frage dich noch einmal: Hast du das Necronomicon gefunden?«

Sie konnte ihren Kopf kaum aufrecht halten. Immer wieder sackte er auf ihre Brust herab. Noch immer schien sich der Raum um sie herum zu drehen, ihr Magen rebellierte.

»Francesca, hast du mich gehört?«

Sie nickte wortlos.

»Hast du das Buch gefunden?«

Sie nickte erneut.

»Wo ist es?«

Sie antwortete nicht.

Ein unangenehm beißender Geruch stieg ihr in die Nase und eine Stimme drang in ihr Bewusstsein, die ihren Namen rief. Wer war das? Sie wusste es nicht. Es war egal. Alles war ihr gleichgültig.

»Willst du die Schmerzen noch einmal ertragen, du törichtes Kind?«, drohte Nyarlath.

Francesca schüttelte den Kopf. Selbst diese kleine Bewegung kostete sie übermäßig viel Kraft und löste eine neue Welle der Übelkeit aus.

»Wo ist das Necronomicon?«

»Im Ca’nera«, flüsterte sie. »Im schwarzen Palast.«

Nyarlaths triumphierendes Lachen hallte durch die leeren Räume des Spiegelpalazzos.

»Wir sehen uns gleich wieder«, zischte er.

Der Traum verblasste.

Die Schmerzen ließen nach.

Francesca riss die Augen auf und sah Nonnas besorgtes Gesicht über sich. Im ersten Moment spürte sie nur grenzenlose Erleichterung. Nichts von ihrem Traum war zurückgeblieben. Ihr Körper fühlte sich befreit und unendlich leicht an.

Sie saßen immer noch im Taxiboot, der Albtraum konnte nicht lange angedauert haben. Wieder stieg Francesca der scharfe Geruch in die Nase und ließ sie eilig den Kopf wegdrehen.

»Riechsalz«, erklärte Fiorella. »Manchmal konnte ich damit auch deinen Großvater aus der Traumwelt zurückholen. Dem Himmel sei Dank, habe ich nie aufgehört, das Fläschchen mit mir herumzutragen. Ich hatte wohl schon so eine Ahnung, dass es mir auch bei dir einmal helfen würde.«

Ein kurzer Blick aus dem Fenster verriet Francesca, dass sie in wenigen Minuten den Palazzo erreicht hatten. Sie griff nach der Hand ihrer Großmutter.

»Nonna«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Er weiß, dass wir das Buch haben. Nyarlath wird jeden Augenblick in unseren Palazzo kommen.«

Das Fläschchen in Fiorellas Hand fiel klirrend zu Boden.

Francesca lief atemlos in den Ballsaal, den schweren Vorschlaghammer hinter sich herziehend. »Nonna, bist du hier?«

Sie suchte den Raum ab, bis sie schließlich Fiorellas kleine Gestalt im Kamin entdecken konnte. Sie stand auf den Zehenspitzen und tastete mit ihrer gesunden Hand die Fugen ab. Francesca eilte zu ihr.

»Hast du etwas gefunden?«

»Leider nicht.« Fiorella ließ sich zurück auf ihre Ballen sinken. »Die Steine sitzen alle bombenfest und die Fugen sind nirgendwo beschädigt.« Sie trat aus dem Kamin heraus, hielt jedoch in der Bewegung inne und fasste sich benommen an den Kopf. Sie schwankte plötzlich so sehr, dass sie wahrscheinlich gestürzt wäre, wenn Francesca nicht sofort ihren Arm ergriffen hätte.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Francesca besorgt. Ihre Großmutter war kreidebleich im Gesicht.

»Mir war nur einen Moment lang schwindelig, keine Sorge«, beruhigte Fiorella sie. »Es war nur etwas viel Aufregung in den letzten Tagen.«

Francesca musterte sie skeptisch.

»Bist du unter der Marmorplatte im Flur fündig geworden?«, fragte Fiorella hastig. Es war offensichtlich, dass sie das Thema wechseln wollte. »Nach dem donnernden Schlag zu urteilen, hast du dich nicht lange damit aufgehalten, die Platte anzuheben.«

Verlegen blickte Francesca auf den Vorschlaghammer. »Die Platte war viel zu schwer und da Nyarlath jeden Moment hier auftauchen kann, wollte ich keine Zeit verlieren. Leider hat es sich nicht gelohnt. Die Platte war nur locker, weil sich der Boden darunter abgesenkt hat.«

»Meinst du, Nyarlath lässt uns lange zappeln?«

Francesca schüttelte den Kopf. »Das Buch ist ihm zu wichtig. Für ihn steht zu viel auf dem Spiel, als dass er sich Zeit lassen könnte. Aber selbst wenn wir nur noch wenige Minuten haben, müssen wir sie nutzen«, sagte sie und sah sich mit gehetztem Blick um. »Es gibt so viele Stellen, an denen wir noch nicht gesucht haben. Hier könnte ich zum Beispiel die Spiegelwand zerschlagen oder oben im Speicher die Dielen …«

»Nein!« Fiorella fasste sie an den Schultern und hielt sie fest umklammert. »Es hat keinen Sinn, jetzt kopflos durch den Palazzo zu rennen und wahllos Dinge zu zerstören. Wir sollten uns lieber überlegen, wie wir vorgehen, wenn er hier ist.«

Fiorella setzte sich auf einen Stapel Bodenplatten und klopfte mit der Handfläche auffordernd neben sich. Widerstrebend nahm Francesca Platz. Sie war so nervös und aufgewühlt, dass sie kaum still sitzen konnte.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie den Griff des Vorschlaghammers immer noch umklammert hielt. Es gab ihr ein Gefühl der Sicherheit, wenn sie ihn bei sich hatte, obwohl sie wusste, dass er als Waffe kaum zu gebrauchen war. Bis sie ihn über den Kopf geschwungen hatte, hätte Nyarlath sie längst außer Gefecht gesetzt.

»Was willst du tun?«, fragte Fiorella sanft. »Gibst du ihm das Necronomicon oder nicht?«

»Ich weiß es nicht. Meine ganze Hoffnung lag auf dem Dolch, aber jetzt …« Ihre Schultern sackten nach unten. »Wenn ich im Taxiboot nicht eingeschlafen wäre, hätten wir noch genug Zeit, nach ihm zu suchen. Ich habe alles vermasselt.« Sie starrte betrübt zu Boden. Wenn sie Nonna heute Morgen nicht zu diesem wahnwitzigen Plan überredet hätte, wären sie nun in Mestre in Sicherheit. Es tat ihr so leid, dass sie ihre Großmutter da hineingezogen hatte.

»Es tut mir so leid, dass ich dich da hineingezogen habe«, sagte Nonna in diesem Augenblick trübsinnig.

»Ich habe gerade genau dasselbe gedacht«, gestand ihr Francesca lächelnd.

»Du?«, fragte Nonna verständnislos. Ihre Augenbrauen zogen sich ärgerlich zusammen. »Du hast überhaupt keinen Grund dazu, dich schuldig zu fühlen, Kind! Ich habe dich doch nach Venedig geholt, dir von dem Fluch erzählt und dich zu Baldini geschickt. Nur meinetwegen bist du in diese schlimme Sache hineingeraten. Ich mache mir solche Vorwürfe.« Sie ballte ihre Hand zur Faust und wandte ihren Kopf verärgert in Richtung des Koffers mit dem Necronomicon, der nicht weit von ihnen entfernt stand. »Das wäre alles nicht so weit gekommen, wenn Alessandro seine Finger von diesem Scheißbuch gelassen hätte!«

»Nonna, hast du nicht gesagt, wir sollen dieses Wort nicht benutzen?«

»Was denn – Buch?«, fragte Fiorella unschuldig. »Das stimmt, gegen Bücher war ich schon immer. Aber ich habe ihre Kraft tatsächlich unterschätzt, du hattest von Anfang an recht«, spielte sie auf ihre Diskussion vor einigen Tagen an. »Es gibt tatsächlich mächtige Bücher, die Einfluss auf die Menschen nehmen und das Leben verändern können.« Sie hob belehrend ihren Zeigefinger. »Trotzdem ersetzen Bücher niemals die Menschen in deinem Leben.«

»Das ist richtig«, gab Francesca gerne zu. »So wichtig wie Menschen sind sie nicht.«

Fiorella lächelte versonnen. »Weißt du, ich hatte mit deinem Großvater eine Abmachung: Jedes Mal, nachdem er in einem Buch gelesen hatte, nahm er mich in den Arm und gab mir einen Kuss.« Fiorella griff nach ihrer Hand. »Versprichst du mir, dass du das auch machst, wenn wir diese Nacht unbeschadet überstehen? Jedes Mal, wenn du ein Buch gelesen hast, nimm jemanden in den Arm, der dir viel bedeutet!«

Auch wenn sie Fiorellas Abneigung gegen Bücher nie hatte verstehen können, so musste Francesca doch zugeben, dass die Abmachung ihrer Großeltern sie auf ganz besondere Art berührte. Sie zeugte von einer Liebe, die es mit allen Gegensätzen und Widrigkeiten aufnehmen konnte. Eine Liebe, durch die man erst begriff, was Einsamkeit bedeutet.

»Ich verspreche es dir, Nonna!«

Fiorella lächelte sanft. »Danke, meine Kleine!«

»Du bist nie über seinen Tod hinweggekommen, oder?«

Fiorella schwieg einen Moment lang, dann begann sie zu rezitieren: »Wie zwei Blüten an dem Rosenstock für alle Ewigkeit verbunden, so sind auch unsere Herzen nicht zu trennen ohne Wunden. Wie das Rosenblatt im Winde tanzt, im altvertrauten Reigen sich zur Erde neigt, so verlässt du jetzt mein Leben, der Duft der Liebe für immer nun entweicht. In meinem Herzen kehrt jetzt Winter ein, reiche dir als letzte Gabe meine Rose mit und weiß: Von nun an wird jeder Sommer ohne Rosen sein.«

»Das ist wunderschön und traurig zugleich«, sagte Francesca gerührt. »Ist das von dir?«

Fiorella nickte leicht beschämt. Kaum hörbar flüsterte sie: »Bald werden wir wieder zusammen sein.«

Francesca hatte einen dicken Kloß im Hals. Sie musste sich zwingen, die folgenden Worte auszusprechen: »Du bist sehr krank, nicht wahr?«

Fiorella setzte sich ruckartig auf. »Woher weißt du das?«

»Ich habe es mir zusammengereimt«, gestand sie. »Du selbst hast diese seltsame Andeutung gemacht, nachdem du aus dem Krankenhaus entlassen wurdest und Stella und Viola laufen seit Tagen mit rot geweinten Augen herum.« Violas Gespräch, das sie belauscht hatte, ließ sie lieber unerwähnt.

Fiorella presste missmutig ihre Lippen zusammen und Francesca rechnete fast damit, dass sie alles abstreiten würde.

»Na schön, in Anbetracht unserer Lage kann ich es dir auch erzählen. Wahrscheinlich ist jetzt sowieso alles egal«, meinte sie schließlich resigniert. »Als mich die Ärzte wegen der Gehirnerschütterung geröntgt haben, entdeckten sie einen Gehirntumor, den man nicht mehr entfernen kann. Sie haben gesagt, dass es ein langsamer, qualvoller Tod sein wird.« Sie setzte eine bekümmerte Miene auf. »Mein Körper wird sich nach und nach abschalten, bis ich schließlich vollkommen gelähmt sein werde und nicht einmal mehr sprechen kann. Weißt du, ich wollte nie auf diese Art und Weise sterben. Ein schnelles schmerzloses Ende wäre mir lieber gewesen.«

Francesca schluckte schwer. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie fühlte sich in Nyarlaths Folterzimmer zurückversetzt, nur dass es dieses Mal allein ihr Herz war, das die Eisenhand zusammenpresste.

»Nonna …«, sagte sie mit zittriger Stimme und fasste nach ihrem Arm. Fiorella zog wütend die Augenbrauen zusammen und entzog sich ruppig Francescas Griff.

»Siehst du, genau deswegen wollte ich es dir nicht sagen«, keifte sie, nun wieder in ihrem üblichen dominanten Tonfall. »Du musst dir jetzt wegen wichtigerer Dinge den Kopf zerbrechen. Im Moment haben wir wirklich andere Sorgen. Du hast immer noch nicht meine Frage beantwortet: Was willst du tun, wenn Nyarlath gleich durch diese Tür marschiert kommt? Gibst du ihm das Buch oder nicht?«

»Ich … ich …«, stammelte Francesca. Zwar wusste sie, dass ihre Großmutter recht hatte, doch nach dem, was sie gerade erfahren hatte, konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. In ihrem Kopf drehte sich alles.

»Wenn es dein Gewissen nicht zulässt, ihm das Necronomicon zu übergeben, dann solltest du es auch nicht tun«, half ihr Fiorella auf die Sprünge. »Du könntest ihm das Necronomicon aber natürlich genauso gut in die Hand drücken und damit Venedig retten. Vielleicht ist hier unser Teil der Geschichte erfüllt und es soll der Kampf eines anderen sein, es ihm wieder abzunehmen.«

Francesca musste zugeben, dass dieser Vorschlag äußerst verlockend klang.

»Und? Was ist jetzt?«

»Lass mich einen Moment darüber nachdenken«, bat Francesca.

»Natürlich, lass dir ruhig Zeit«, meinte Fiorella bissig. »Bis unsere Knöchel im Wasser stehen, solltest du dich allerdings entschieden haben.«

Francesca spielte gedankenverloren mit dem Stiel des Vorschlaghammers und ließ ihn immer wieder von der Mitte zur Seite kippen.

Rechts. Fiorella hatte recht: Sollte sich doch jemand anders damit herumschlagen, dass ein bösartiger Dämon mit einem der mächtigsten Bücher der Welt herumlief. Heute Nacht ging es nur darum, Venedig zu retten.

Mitte. Aber wenn niemand ihn aufhalten konnte? Wenn er mit dem Necronomicon so mächtig wurde, dass kein Mensch mehr etwas gegen ihn ausrichten konnte?

Rechts. Mittlerweile hatte sie sowieso keine Wahl mehr. Sollte sie vielleicht in letzter Sekunde mit dem Rollkoffer an Nyarlath vorbeijagen? Seiner Macht hatte sie nichts entgegenzusetzen. Wenn sie sich weigerte, ihm das Buch zu geben, würde er Fiorella und sie wie zwei Fliegen zerquetschen.

Mitte.

Sie hielt inne. Überrascht und gleichzeitig schockiert stellte sie fest, dass ihr die Argumente ausgegangen waren. Die Entscheidung, vor der sie sich seit Tagen gefürchtet hatte, war somit gefällt: Sie würde Nyarlath das Necronomicon übergeben! Rational betrachtet hatte sie gar keine andere Wahl mehr, doch Francesca wartete vergeblich auf ein Gefühl der Erleichterung. Im Gegenteil, ein unangenehmes Ziehen in ihrer Magengegend wies sie darauf hin, dass ihr Gewissen mit dieser Entscheidung nicht gerade glücklich war.

Es musste doch noch einen anderen Weg geben! Sie atmete tief durch und lehnte ihre Stirn auf den abgewetzten Holzgriff. Denk nach, befahl sie sich selbst. Es musste eine andere Möglichkeit geben! Fieberhaft ging sie in Gedanken noch einmal alle Argumente durch, doch sie kam immer wieder zu demselben Schluss. So ein verdammter Mist! Francesca verzog das Gesicht. Dabei hatte sie das Gefühl, die Lösung direkt vor Augen zu haben. Eine innere Stimme schrie ihr regelrecht zu, dass sie etwas Wichtiges übersehen hatte. Sie stöhnte gequält und richtete sich auf. Emilios Vorschlaghammer war als Denkhilfe anscheinend völlig ungeeignet. Unwillkürlich musste sie an den Tag denken, an dem all dies begonnen hatte. An dem Morgen, als sich Antonio und Emilio wegen der tragenden Wand gestritten hatten und sie den Hammer mit Antonio versteckt hatte, war ihr Leben noch in Ordnung gewesen.

Francescas Augen weiteten sich.

Die tragende Wand. Nein, korrigierte sie sich in Gedanken, die angeblich tragende Wand. Laut Antonio durfte man sie keinesfalls einreißen, da dies die Statik des Gebäudes gefährdete, doch Emilio war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass die Maße des Zimmers nicht mit den Bauplänen des Palazzos übereinstimmten. Es fehlte fast ein halber Meter …

Sie stieß einen Schrei aus und sprang in die Höhe.

Ihre Großmutter zuckte vor Schreck zusammen. »Ist er da? Ich habe ihn gar nicht gehört.«

»Nonna, hat Emilio die tragende Wand mittlerweile eingerissen?«, entgegnete sie atemlos.

»Nein, da er und Antonio sich nicht einigen konnten, haben sie beschlossen, einen Architekten zu beauftragen und bis dahin erst einmal die anderen Zimmer zu renovieren. Aber wieso …« Fiorella verstummte. Mit einem Schlag wurde sie aschfahl im Gesicht. »Du meinst doch nicht etwa …?«

»Einen Versuch ist es wert, oder nicht?«

Francesca lief so hektisch in das angrenzende Zimmer, dass sie fast über ihre eigenen Füße stolperte.

»Eigentlich wäre es logisch«, murmelte Fiorella, die direkt hinter ihr war. »Eine zweite Wand – das perfekte Versteck, wenn man sichergehen will, dass etwas nicht von den Feinden gefunden wird. Alessandro hat für den Fall, dass sein Fluch misslingen könnte, an seine Nachfahren gedacht. Er hat nicht nur das Necronomicon auf die Familie geprägt, sondern auch den Dolch, mit dem man sein Meister wird, in ihrer direkten Nähe deponiert. Er rechnete damit, dass es den Bewohnern des Palazzos über kurz oder lang auffallen würde, dass die Zimmermaße nicht mit den Bauplänen übereinstimmen. So wäre die Macht der Medicis für immer gesichert gewesen.«

Francesca hob so eifrig den Vorschlaghammer in die Höhe, dass sie von seinem Gewicht nach hinten gerissen wurde und einige Schritte zurücktaumelte. Beim ersten Schlag fiel sie mehr gegen die Wand, als dass sie einen richtigen Hieb ausführte – nur etwas Putz blätterte zu Boden.

Fiorella stand ungeduldig neben ihr. »Schneller, Francesca. Die Zeit wird knapp!«

»Nonna, das Ding ist verdammt schwer!«, verteidigte sie sich keuchend.

Sie atmete tief durch, stellte sich breitbeinig auf, spannte die Muskeln an und holte zu einem erneuten Schlag aus. Dieses Mal war es ein Volltreffer. Der Hammer durchschlug die Wand und verschwand in einem dunklen Loch. Als sie ihn zurückzog, fielen einige Mauersteine zu Boden, doch die Öffnung war noch zu klein, um hineinsehen zu können.

»Es ist kein Licht vom angrenzenden Zimmer zu sehen«, informierte sie ihre Großmutter.

»Sehr gut! Wir sind auf der richtigen Spur, ich fühle es.«

Francesca massierte fluchend ihr Handgelenk. Ihre Verstauchung war immer noch nicht vollständig verheilt und beim letzten Hieb hatte sie ein heftiger Schmerz durchzuckt.

Sie biss die Zähne zusammen und hob ächzend den Hammer, doch in diesem Moment fuhr Fiorella herum. »Hast du das gehört?«

Francesca zuckte zusammen. War es etwa schon so weit?

Sie hielten den Atem an und lauschten in die Stille.

Alles in Francesca hoffte, dass sich Fiorella getäuscht hatte. Ihre Hoffnung währte jedoch nur den Bruchteil einer Sekunde, dann hörte auch sie es.

Schritte hallten durch den Palazzo. Sie waren unnatürlich laut und schwer, wie Donnerschläge. Keinesfalls konnten sie von einem Menschen stammen.

Im Tempo von Francescas wummerndem Herzschlag kamen sie näher.

Bumm. Bumm. Bumm.

Fiorella packte sie an der Schulter und riss sie aus ihrer Starre. »Weiter!«

Es kostete Francesca all ihre Überwindung, sich von dem Geräusch loszureißen und erneut auf die Wand einzuschlagen. Sie wusste, dass der laute Knall Nyarlath sofort die richtige Richtung weisen würde.

»Jetzt ist das Loch groß genug«, rief sie Fiorella zu.

»Hier!« Nonna drückte ihr eine Taschenlampe in die Hand, die sie aus dem Werkzeugkoffer geholt hatte.

Francesca steckte den Kopf durch das Loch. Der Hohlraum war nur wenige Handbreit, dann begann schon die gegenüberliegende Wand. Der Schein der Taschenlampe beleuchtete die in der Luft tanzenden Staubkörner. Francesca kniff die Augen zusammen.

»Ich glaube, schräg unter mir auf dem Boden liegt etwas. Es sieht aus wie ein geschnürtes Bündel.«

»Das ist bestimmt der Dolch!«, jubelte Fiorella. »Kannst du ihn herausholen?«

Francesca streckte die Hand aus, doch sosehr sie sich auch anstrengte – ihre Fingerspitzen kamen nicht einmal in die Nähe des Bündels. »Das Loch ist zu weit oben«, stieß sie verzweifelt aus. Sie warf einen nervösen Blick durch den Türrahmen. »Wir haben keine Zeit mehr, das Loch zu vergrößern. Er scheint schon auf der Treppe zu sein, die zum Ballsaal führt.«

Mittlerweile war er so nahe, dass selbst der Boden unter ihren Füßen bei jedem seiner Schritte vibrierte.

Fiorella nickte. »Ich weiß«, erwiderte sie mit ruhiger Stimme. Sie schwieg einen Moment. »Du musst diesen Dolch herausholen! Ich versuche, ihn solange aufzuhalten.«

Francesca runzelte die Stirn. Was hatte Nonna vor? Sie war alt, blind und hatte einen gebrochenen Arm. Was wollte sie alleine gegen einen Dämon ausrichten?

»Aber wie …«, versuchte sie zu widersprechen, doch Fiorella schnitt ihr das Wort ab.

»Lass das meine Sorge sein! Dieser Dolch ist jetzt unsere einzige Chance.« Sie ging zurück in den Ballsaal. »Beeil dich!«, rief sie ihr über die Schulter hinweg zu.

Mit einem unguten Gefühl im Bauch sah Francesca ihrer Großmutter nach. Ob Fiorella überhaupt ahnte, was für einem dämonischen Wesen sie sich so todesmutig entgegenstellte? Und was war, wenn sie sich geirrt hatten und in dem Bündel überhaupt kein Dolch steckte?

Es gab nur einen Weg, dies herauszufinden – und Francesca hatte keine Zeit zu verlieren! Wenn sie Glück hatte und das Bündel schnell genug herausholen konnte, musste Fiorella den Dämon nur wenige Minuten beschäftigen.

»Da bist du ja endlich, Nybratzki«, hörte sie ihre Großmutter in herausforderndem Tonfall sagen. »Pünktlichkeit ist wohl keine ausgeprägte dämonische Eigenschaft, hm?«

Francesca hob den Hammer und hieb erneut auf die Mauer ein, sodass sie Nyarlaths Antwort nicht hören konnte. Dieses Mal setzte sie ihren Schlag tiefer an, in der Höhe, in der sie das Bündel gesehen hatte. Der Putz bröckelte ab und die Mauersteine bogen sich nach innen, doch es entstand kein Loch. Der Schlag war zu schwach gewesen. Ihre Kräfte ließen spürbar nach und das Pochen in ihrem verletzten Handgelenk wurde immer stärker. Ohne Atempause holte sie erneut aus, Schweiß rann über ihre Stirn. Dieses Mal lockerten sich einige Mauersteine und fielen zu Boden.

Sofort ging Francesca in die Knie und fasste in das kleine Loch. Ihre Finger glitten suchend umher, dann streiften sie über den Stoff des Bündels, doch sie bekam es nicht zu fassen. Francesca fluchte. Sie hatte sich verschätzt und ihren Schlag zu weit links angesetzt.

»… und wenn ich es dir nicht gebe? Was willst du dann tun?«

Obwohl sie wusste, dass sie weitermachen musste, wandte sich Francesca zur Tür. Sie sah Fiorella im Ballsaal stehen, die Schachtel, in der das Necronomicon mit dem Silber verstecktwar, hatte sie fest unter ihren Arm geklemmt. Die Spitze einer Pestmaske schob sich seitlich in das Bild, das sich Francesca bot. Nyarlath näherte sich Nonna! Die kleine, zerbrechliche Fiorella wirkte lächerlich hilflos im Gegensatz zur hochaufragenden Gestalt des Dämons.

Francesca griff hastig nach dem Hammer. Die Muskeln in ihren Oberarmen fühlten sich taub an und ihr schmerzendes Handgelenk konnte sie kaum noch bewegen. Sie glaubte, den Hammer kein einziges Mal mehr in die Höhe zu bekommen.

»Du weißt, was ich dann tun werde«, beantwortete Nyarlath die Frage Fiorellas mit einem drohenden Zischen. Nur Sekunden später begann die Erde zu beben.

Gelähmt vor Angst hielt Francesca inne. War es etwa schon so weit? Würde Nyarlath nun Venedig zerstören? Doch ehe Francesca entscheiden konnte, ob sie unter dem Türrahmen Schutz suchen sollte, war das Beben auch schon wieder vorbei. Es war nur eine Warnung gewesen. Nyarlath würde Venedig erst im Meer versinken lassen, wenn ihm tatsächlich keine andere Wahl mehr blieb. Trotz seiner Fremdartigkeit war Nyarlath ein lebendes Wesen und alles, was lebt, empfindet Hoffnung und Angst. Er wollte den Fluch nicht erfüllen, solange er sich an die Hoffnung klammern konnte, das Necronomicon zu bekommen. Ebenso ließ ihn die Angst vor der Existenz in einem Reich, das für seine Art begrenzend und wie ein Gefängnis war, zögern.

»Gib mir das Necronomicon, Weib!«, donnerte Nyarlath.

»Das musst du dir schon selbst holen, Dämon! Freiwillig gebe ich es dir nicht.«

Francesca biss so sehr die Zähne zusammen, dass ein unangenehmes Knirschen zu hören war. Mit all ihrer verbliebenen Kraft schlug sie auf die Wand ein. Dieses Mal war es ein Volltreffer. Direkt über dem Bündel klaffte nun ein großes Loch in der Wand. Sie griff hinein, während Fiorella im selben Moment einen gellenden Schrei ausstieß.

Mit fliegenden Fingern löste Francesca die Verschnürung und schlug den Stoff zur Seite. Da war er! Völlig unberührt von den Jahrhunderten, die er im Staub verbracht hatte, blitzte er ihr entgegen – Alessandros Dolch.

Sein silberner Schaft war mit Rubinen und Diamanten besetzt, die Klinge über und über mit fremdartigen Zeichen graviert. Doch Francesca nahm sich nicht die Zeit, ihn zu bewundern. Sie drückte den Dolch an sich und schnellte in die Höhe. Nonnas Schrei hallte in ihren Gedanken nach. Hoffentlich hatte er ihr nichts angetan!

Francesca lief in den Ballsaal und zog erschrocken die Luft ein. Fiorella lag auf dem Boden, schien jedoch nicht verletzt zu sein. Nyarlath war über den Karton gebeugt und öffnete ihn mit einem so begierigen Blick, dass er Francesca nicht einmal bemerkte. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis er das Necronomicon in Händen halten würde. Sie war zu spät gekommen!

Vielleicht hatte sie noch eine Chance, wenn sie Nyarlath direkt angreifen würde? Immerhin besaß sie jetzt einen magischen Dolch und der Moment schien günstig zu sein …

Aus den Augenwinkeln nahm Francesca eine Bewegung wahr. Fiorella schien ihr ein Zeichen geben zu wollen, denn sie fuchtelte aufgeregt hinter ihrem Rücken mit dem Finger herum. Stirnrunzelnd sah Francesca in die besagte Richtung. Hinter den Bodenplatten lag der geöffnete Koffer, bis auf das Salz jedoch leer. Als Francesca begriff, was ihre Großmutter ihr hatte zeigen wollen, musste sie den Impuls unterdrücken, einen Freudenschrei auszustoßen. Fiorella hatte Nyarlath ausgetrickst! Unter dem Berg aus Salz lugte ein Teil des Necronomicons hervor.

Sie blickte schnell zu Nyarlath, der gerade umständlich versuchte, das Silber aus dem Karton zu räumen, ohne es zu berühren. Dann huschte sie auf Zehenspitzen durch den Saal. Sicherlich blieb ihr nicht viel Zeit, ehe er feststellte, dass das Necronomicon nicht im Karton war. Unbemerkt gelangte sie zu dem Koffer und ging hinter den Bodenplatten in Deckung. Francesca strich das Salz zur Seite, das an ihren schweißnassen Fingern kleben blieb. Sie nahm den Dolch und rief sich Alessandros Worte in Erinnerung.

…nur das Blut eines Medici kann den Bann wieder aufheben … Wenn das Necronomicon dein Blut getrunken hat, bist du die Meisterin des Buches und kannst es vernichten …

Der Dolch zitterte, als sie ihn zu ihrer linken Hand führte und die Scheide in das Fleisch ihres Handtellers drückte. Francesca atmete noch einmal tief durch, dann zog sie die Scheide mit einem Ruck zurück. Trotz seines Alters war der Dolch überraschend scharf. Francesca schnappte nach Luft. Im Nu war ihre Hand mit einem See aus Blut gefüllt. Angeekelt wandte sie den Kopf ab und hielt ihre Hand über das aufgeschlagene Necronomicon. Wie Tränen der Trauer fielen die Blutstropfen auf die Seiten, dick und schwerfällig klatschten sie auf das Papier, verharrten einen Moment lang, um sich dann in Bewegung zu setzen und sich mit dem Buch zu verbinden. Trotz seines Bettes aus Salz brachte das Necronomicon die Kraft dafür auf, eine schwarze Nebelschwade entstehen zu lassen. Doch dieses Mal bildete sich daraus keine Säule. Es war die schwarze Hand, die Francesca schon einmal gesehen hatte, als Fiorella zum ersten Mal das Buch aufgeschlagen hatte. Obwohl sie nur aus Schwärze und Finsternis bestand, sah Francesca die Vertiefungen der Fingernägel und den Verlauf der Sehnen und Adern. Sie sah erschreckend menschlich aus. Die Hand stieg aus den Seiten hervor, doch dann verharrte sie regungslos. Intuitiv wusste Francesca, was sie zu tun hatte. Mit vor Abscheu verzerrtem Gesicht legte sie ihre eigene blutverschmierte Hand auf die Hand des Necronomicons, Finger an Finger. Wie von einem Blitzschlag wurde sie von der Macht des Necronomicons getroffen. Sie pulsierte durch ihren Körper und erfüllte sie mit einer ungeahnten Energie. Die Stimmen der Jenseitigen stießen Schreie des Triumphs aus! Francesca war es in diesem Moment völlig gleichgültig, ob die Stimmen nur in ihrem Kopf oder im ganzen Palazzo zu hören waren. Noch nie hatte sie sich so stark gefühlt. Sie hatte sich mit dem Necronomicon verbunden, sie war nun seine Meisterin, genauso wie es Alessandro einst für seine Nachfahren geplant hatte.

Alles schien nun möglich zu sein.

Mit Bedauern und einem Gefühl des Verlustes spürte sie, wie sich die schwarze Hand von der ihren löste. Sie öffnete die Augen. Der Nebel war verschwunden und mit ihm das berauschende Gefühl. Wahrscheinlich wollten die Jenseitigen sie damit dazu verleiten, die Macht des Buches sofort anzuwenden. Doch Francesca kam überhaupt nicht in Versuchung: Sie war nicht mehr alleine. Direkt vor ihr stand Nyarlath, Fiorella hielt er fest an sich gepresst. Die Stimmen der Jenseitigen hatten Francesca anscheinend verraten.

»Seid mir gegrüßt, Meisterin des Necronomicons«, sagte er spöttisch.

»Francesca, ist alles in Ordnung?«, fragte Fiorella besorgt.

»Ja … ja, mir geht es gut«, stammelte sie. Nur mit Mühe konnte sie sich von Fiorellas Anblick losreißen, doch dann kam ihr eine Idee.

»Lass meine Großmutter los und dann verschwinde zurück in deine Welt!«, befahl sie Nyarlath. Leider klang ihre Stimme dabei nicht ganz so selbstsicher, wie sie es gerne gehabt hätte.

»Tut mir leid, Meisterin, doch du überschätzt deine Macht«, erwiderte Nyarlath und es war ihm anzuhören, dass es ihm ganz und gar nicht leidtat. »Gib mir das Buch oder sie wird sterben!«

Er zog Fiorella noch näher zu sich heran und drückte seine Kralle an ihren Hals. Es war diejenige mit der roten Spitze.

»Diese Kralle enthält ein Gift«, informierte Nyarlath sie. »Sobald es in den Blutkreislauf eindringt, gibt es keine Rettung mehr. Du solltest mir das Buch geben, ehe ich versehentlich ihre Haut einritze.«

»Hör nicht auf ihn, Francesca«, beschwor Fiorella ihre Enkelin. »Du hast vielleicht nicht die Macht, Nyarlath etwas zu befehlen, aber Alessandro hat dir gesagt, wozu du als Meisterin des Buches fähig bist. Mach, was wir besprochen haben, denk nicht an mich. Beende das alles!«

Francesca starrte verständnislos auf ihre Großmutter. »Was meinst du denn …« Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Die Erkenntnis dessen, was Fiorella damit sagen wollte, traf sie so unvermittelt, dass ihr schwindelig wurde. Ihre Großmutter konnte doch nicht ernsthaft von ihr verlangen, dass sie ihren Tod in Kauf nahm, nur um das Buch zu zerstören?

Francesca schüttelte entsetzt den Kopf. »Nonna, das kann ich nicht tun. Das … das ist Venedig nicht wert.«

»Aber du bist es wert, meine Kleine. Wir müssen dem Fluch, der auf den Medicis liegt, ein Ende bereiten. Wir müssen unsere Schuld begleichen.«

Francesca konnte sich nicht bewegen. Alles in ihr geriet in eine Art Strudel, der sie keinen klaren Gedanken fassen ließ. Sie starrte auf das Necronomicon, den Dolch in ihrer Hand, dann auf Fiorella und Nyarlath. Sie kam sich vor wie im schlimmsten Albtraum ihres Lebens, doch dieses Mal gab es kein Erwachen.

»Sie wird es nicht machen«, sagte Nyarlath an Fiorella gewandt und lachte auf. »Angst, Schrecken und Furcht sind unsere Nahrung, ihr Menschen seid für uns ein Festmahl. Francesca hatte für mich bisher nur wenig Genuss versprochen, doch nicht jetzt. Noch nie habe ich so viel herrliche Angst an ihr geschmeckt wie in diesem Augenblick.« Er beugte sich zu Fiorella hinunter. »Sie will dich nicht verlieren, Alte!«, zischte er ihr ins Ohr. »Sie liebt dich über alles.«

Fiorella drehte den Kopf so weit von Nyarlath weg, wie es ihr möglich war. »Francesca, bitte!«, flehte sie. »Du weißt, dass mich Schreckliches erwartet. Lass es bitte enden.«

Francesca sah wie betäubt zu ihr auf. Ihre Großmutter meinte den Tumor. Die monatelangen Schmerzen und die Qualen, die vor ihr lagen, ehe sie endlich vom Tod erlöst werden würde.

»Willst du mich leiden sehen?«

»Natürlich nicht.« Francesca würde es kaum ertragen können, Nonna so zu sehen.

»Dann hilf mir!«, bat sie so eindringlich, dass es Francesca fast das Herz zerschnitt.

Sie packte den Dolch, aber sie konnte sich immer noch nicht regen.

»Wie zwei Blüten an dem Rosenstock für alle Ewigkeit verbunden«, flüsterte Fiorella. »So sind auch unsere Herzen nicht zu trennen ohne Wunden.«

Francesca nickte. Sie hatte verstanden, was Fiorella ihr damit sagen wollte. Sie wollte zu Leonardo und glaubte fest daran, im Tod wieder mit ihm vereint zu sein. Das war alles, wonach sie sich noch sehnte.

»Wenn du es mir nicht sofort gibst, wird sie sterben!«, brüllte Nyarlath.

Irrte sie sich oder lag in seiner Stimme Angst?

»Nonna …«, wisperte Francesca. Es war ein letztes Flehen, eine Bitte, dass sie doch nicht tun musste, was Fiorella von ihr verlangte.

»Bitte!«, formte Nonna lautlos mit den Lippen.

Francesca musste sich dazu zwingen, den Blick abzuwenden. Alles vor ihren Augen verschwamm zu einer formlosen Masse aus Farben, so schnell füllten sie sich mit Tränen.

»Nein«, schrie Nyarlath. Augenblicklich setzte ein Beben ein, das in seiner Stärke und Intensität alle bisherigen übertraf. Teile der Decke lösten sich und knallten als gefährliche Geschosse zu Boden. Francesca hatte das Gefühl, dass der Boden unter ihr wegsackte.

»Mach es!«, rief Fiorella ihr über den Lärm hinweg zu.

Francesca packte den Dolch mit beiden Händen, hob ihn in die Höhe und stach mit voller Kraft auf das Necronomicon ein. Schwarze Wirbel schossen wie eine Blutfontäne aus dem Buch hervor und schleuderten Francesca rückwärts durch den Ballsaal. Die Stimmen der Jenseitigen erhoben sich zu einem lauten Schrei, erfüllt von Wut und Schmerz, und vermischten sich mit dem zerstörungswütigen Lärm des Erdbebens. Francesca presste die Hände auf die Ohren. In ihrem Kopf war nur noch Platz für einen einzigen Gedanken: Nonna.

Dann war es plötzlich still.

Francesca richtete sich hustend auf und sah sich in dem völlig verwüsteten Saal um.

Nyarlath war verschwunden, das Beben verklungen.

»NONNA!« Francescas Schrei hallte durch den Raum.

Wie in Zeitlupe sah sie Fiorella zu Boden sinken.

Francesca stolperte über einen Schutthaufen auf sie zu und kniete sich neben sie.

»Dem haben wir es aber gezeigt!«, sagte Fiorella mit einer seltsam schwachen Stimme. »Hast du dieses Scheißbuch zerstört?«

Francesca sah zum Koffer. Das Salz hatte sich schwarz verfärbt, vom Necronomicon war nicht einmal mehr ein Fetzen Papier übrig geblieben.

»Es ist verbrannt. Es wird niemandem mehr schaden können.«

Freude und Stolz zeichneten sich auf Fiorellas Gesicht ab. »Wir haben es geschafft, Francesca! Wir haben beide Flüche aufgehoben. Die Medicis sind endlich frei.« Auf eine kaum fassbare Weise wirkte sie plötzlich friedlicher. Als wäre sie von einer jahrelangen Last befreit worden.

An Fiorellas Hals schimmerte ein einzelner Blutstropfen. Nyarlath hatte den Fluch nicht mehr beenden können, doch er hatte seine Drohung wahr gemacht.

Sie bettete Fiorellas Kopf auf ihren Schoß. »Es tut mir so leid, Nonna«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.

»Es gibt nichts, was dir leidtun muss«, widersprach Fiorella so heftig, dass sie einen Hustenanfall bekam und rasselnd nach Atem rang. »Ich wollte es so. Das ist genau das Ende, das ich mir gewünscht habe.«

Fiorellas Brust hob sich immer langsamer, ihre Atemzüge wurden schwächer.

Schritte näherten sich ihnen, aber Francesca sah nicht einmal auf. Selbst wenn Nyarlath doch nicht verschwunden war und jeden Moment hinter ihr stand, wäre es ihr gleichgültig. Sie konnte ihre Augen nicht von Fiorella lassen, fast so, als könnte ihr Blick sie am Leben erhalten. Erst als sich ihr eine warme Hand von hinten auf die Schulter legte, sah sie auf.

»Mama?«

Mehr brachte Francesca nicht heraus. Ihre Mutter war tatsächlich nach Venedig gekommen!

»Du bist nicht nach Mestre gegangen, ich wusste es doch!«, setzte sie mit scharfer Stimme an, doch dann fiel ihr Blick auf Fiorella. Sofort wich jegliche Farbe aus ihrem Gesicht.

»Es … es ist Gift«, stammelte Francesca. »Sie stirbt.«

Schockiert starrte Isabella auf ihre Mutter, als schien sie gar nicht zu begreifen, was Francesca ihr gesagt hatte.

Dann kniete sie sich neben Fiorella auf den Boden und griff hastig nach ihrer Hand. »Mama, hörst du mich? Ich bin da, es wird alles wieder gut«, sagte sie eindringlich. »Halte durch, wir bringen dich so schnell wie möglich ins Krankenhaus.«

Fiorella wandte sich ihr zu. Ein Hauch von Leben schien wieder in sie zurückzukehren. »Isabella! Du bist nach Hause gekommen, mein Mädchen«, flüsterte sie. Ein glückliches Strahlen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Endlich bist du wieder bei mir.«

»Ja, Mama, ich bin wieder hier«, sagte Isabella mit erstickter Stimme. »Ich bin wieder zu Hause.«

»Du glaubst gar nicht, wie sehr mich das freut. Ich habe dich so vermisst.« Sie hob ihre Hand und strich zärtlich über das tränennasse Gesicht ihrer Tochter. »Nicht weinen, Isabella. Es ist Zeit für mich, zu gehen.«

»Mama, es tut mir so leid, dass ich so selten …«

»Ich weiß«, unterbrach Fiorella sie. »Mir tut es auch leid, meine Kleine. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, dass ich so eine sture Närrin war.«

»Natürlich!« Sie strich Fiorella sanft die Haare aus dem Gesicht. »Ich liebe dich doch.«

»Denk an meine Fehler zurück, wenn du dich einmal mit deiner Tochter streitest. Die Frauen in dieser Familie sind einfach viel zu stur, das hat Leonardo auch schon immer gesagt.« Sie versuchte, den Kopf zu heben, doch Isabella drückte sie behutsam auf Francescas Schoß zurück. »Meinst du, ich werde meinen Leonardo wiedersehen?«

»Da bin ich sicher. Papa wartet bestimmt schon auf dich.«

Fiorella nickte. »Das Leben ist wie eine Fahrt in den Kanälen Venedigs. Du lässt dich vom Wasser vorantreiben, in dunkle Winkel und hellen Sonnenschein, du siehst Wunderschönes und Hässliches. Doch egal, wie lange deine Fahrt auch geht, irgendwann wirst du aufs Meer hinausgetrieben und eine neue Reise beginnt.«

Fiorella suchte nach Francescas Hand und drückte sie fest an ihr Herz. »Du warst so unglaublich tapfer und mutig, ich bin stolz auf dich. Ich glaube, dein Herz hat dir mittlerweile gesagt, wo du hingehörst.«

»Die letzte Medici gehört nach Venedig, oder nicht?«

»Oh nein, du wirst nicht die letzte Medici sein.« Sie hielt inne. Das Sprechen schien sie viel Kraft zu kosten. »Weißt du, ich hatte nämlich eine Vision.« Sie hustete und verzog schmerzerfüllt das Gesicht.

»Eine Todesvision?«, wollte Francesca ihr helfen.

Fiorella schüttelte den Kopf. »Viel besser.« Auf ihrem Gesicht lag ein letztes Strahlen von Glück. »Ich habe deine Kinder gesehen, wie sie in unserem Palazzo gespielt haben. Zwei wundervolle, kleine Medici mit tizianroten Haaren.« Sie sprach nun so leise, dass Francesca ihre Worte kaum noch verstehen konnte.

»Es war ein … so wunderschöner Anblick …«

Ihre Stimme erstarb und Fiorella schloss die Augen.

Erst als Francesca das erstickte Schluchzen ihrer Mutter hörte und sie Francesca sanft an den Schultern fasste, begriff sie, dass es nun vorbei war.

Fiorella war gestorben.