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Francesca zuckte zusammen und sah von ihrem Buch auf. Nicht unweit von Fiorellas Zimmer war eine Tür mit lautem Donnern ins Schloss gefallen. Nun hörte sie aufgeregte Männerstimmen durch den Flur hallen. Sie seufzte auf. Anscheinend stritten sich Antonio und Emilio schon wieder wegen des Umbaus des Palazzos. Schon beim heutigen Mittagessen hatten sie sich so angebrüllt, dass Francesca befürchtete, sie würden sich jeden Augenblick an die Gurgel gehen. Schließlich hatten sich Stella, die das Essen vorbeigebracht hatte, und Fiorella auch noch eingemischt, was den Streit allerdings nur noch mehr anheizte. Am Ende waren alle aufgestanden und wütend davongestürmt, ohne Violas Fischsuppe auch nur angerührt zu haben. So eine gereizte Stimmung hatte Francesca in ihrer Familie noch nie erlebt.

Sie fuhr sich mit der Hand über ihre brennenden Augen. Die verschnörkelten Buchstaben schienen auf den vergilbten Seiten wild durcheinanderzutanzen. Schon gestern hatte sie das Gefühl, dass es im Zimmer ihrer Großmutter ungewöhnlich düster war, was das Lesen erheblich erschwerte. Das Licht des fünfarmigen Leuchters, der den Raum ansonsten wie einen Festsaal erleuchtete, schien plötzlich schwächer geworden zu sein und auch das Tageslicht konnte gegen das dämmrige Zwielicht nichts ausrichten. Aber das lag wahrscheinlich nur an den grauen Regenwolken, die dichtgedrängt und bauschig den Himmel bedeckten.

»Das sind die letzten drei Bücher!«, sagte Fiorella und legte den kleinen Stapel neben Francesca auf dem Sekretär ab.

»Gut, das schaffe ich heute noch.«

Hoffentlich konnte sie in diesen letzten drei etwas Brauchbares finden! Das neue Jahr hatte für Francesca mit viel Arbeit begonnen. Schon seit Tagen suchte sie in den Büchern ihres Großvaters nach Hinweisen auf das Necronomicon. Es war anstrengender, als sie gedacht hatte – die Bücher waren oft so alt, dass sie Mühe hatte, die Schrift zu entziffern und auch die Sprache war alles andere als leicht verständlich. Dazu kam, dass Fiorella ungeduldig neben ihr saß und Francesca alle fünf Minuten fragte, ob sie schon auf etwas Interessantes gestoßen sei.

Durch ihre Blindheit war sie zu absoluter Untätigkeit verdammt und Francesca spürte, wie sehr ihr dies zu schaffen machte. Fiorella war derart nervös und angespannt, dass sie seit Tagen unter Kopfschmerzen litt. Zwar versuchte sie sich nichts anmerken zu lassen, doch Francesca hatte sie immer wieder dabei beobachtet, wie sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schläfen massierte. Doch auch wenn ihre Großmutter ihr nicht helfen konnte, die Bücher durchzuarbeiten, tat sie alles Übrige, um Francesca zu unterstützen. So hatte sie den anderen Familienmitgliedern erzählt, dass Francesca durch den Schock über Baldinis Tod unbedingt Ruhe brauchte, sie selbst sich um ihre Enkelin kümmern müsse und sie beide deswegen erst einmal nicht im Restaurant helfen konnten. Gianna war sichtlich enttäuscht darüber – die Arbeit im Restaurant hatte immerhin noch ein klein wenig Spaß versprochen, solange Francesca an ihrer Seite gewesen war. Es betrübte Francesca, dass sie ihrer Cousine nicht die Wahrheit sagen durfte, auch wenn sie natürlich einsah, dass es besser war, Gianna nicht in diese Sache hineinzuziehen.

Sie warf einen sorgenvollen Blick auf ihre Notizen. Etwa die Hälfte der Büchersammlung ihres Großvaters bestand aus klassischen Romanen und Essaysammlungen, doch daneben gab es auch eine große Zahl alchimistischer und schwarzmagischer Bücher. In ihnen hatte sie einige Informationen über das Necronomicon gefunden, die sie sich sorgfältig aufgeschrieben hatte. Warum jedoch ausgerechnet dieses Buch für den Fluch der Medicis so wichtig sein sollte, hatte sie bisher noch nicht erkennen können. Stattdessen war Francescas Kopf nun voll mit dem – ihrer Meinung nach – völlig unnützen Wissen der Bücher. Mittlerweile kannte sie sich mit dämonischen Anrufungen, Pentagrammen, Ritualzaubern und Kerzenmagie aus, sie wusste, wie man böse Geister bannte, dass Mondsilber magische Kräfte in sich aufsaugte und trockene Salzkristalle als magische Isolatoren fungierten. Doch all dies half ihr keinen Schritt weiter. Es war zum Verzweifeln! Sie hätte alles dafür gegeben, wenn ihr Großvater ein Notizbuch geführt hätte. Doch leider hatte sie bisher nichts dergleichen finden können.

Vieles, was sie sich bisher über das Necronomicon notiert hatte, klang sehr mysteriös und sie fragte sich, wie viel Glauben man diesen veralteten Büchern schenken konnte.

Das Necronomicon wurde von einem arabischen Autor mit Namen Abdul Alhazred unter dem Originaltitel Al Azif verfasst. Um 730 nach Christi verirrte sich Abdul Alhazred in der Wüste. Nach mehreren Tagen, Alhazred war dem Tod schon näher als dem Leben, entdeckte er inmitten der Dünen die »Stadt ohne Namen« – sie soll einst von Dämonen erbaut worden sein. Alhazred überlebte, doch als er nach Damaskus zurückkehrte, war er geistig verwirrt und nicht mehr bei Sinnen. Tag und Nacht verbrachte er in einem abgedunkelten Zimmer und schien mit den Ecken, in denen sich die Dunkelheit sammelte, Gespräche zu führen. In diesem Zustand schrieb er das Al Azif.

Um 950 übersetzte Theodorus Philatus in Konstantinopel das Buch ins Griechische und gab ihm den neuen Titel »Necronomicon«. Er soll sich aus den beiden lateinischen Wörtern necare (töten) und nomen (Namen) zusammensetzen, weshalb das Necronomicon auch den Beinamen »Das Buch der toten Namen« trägt.

Jahrhundertelang bedienten sich Schwarzmagier und Dämonenhexer der Macht des Necronomicons und nutzten es zu solch grauenvollen Versuchen und Experimenten, dass Papst Gregor IX. das Werk 1232 mit dem Kirchenbann belegte. Jedes Exemplar des Buches, das ausfindig gemacht werden konnte, wurde verbrannt.

Angeblich soll zwischen 1600 und 1650 eine italienische Übersetzung hergestellt worden sein. Obwohl kein Exemplar des Necronomicons erhalten geblieben ist – weder im Original noch in einer Übersetzung –, bleibt der Mythos dieses teuflischen Buches ungebrochen.

Francesca zog eine Grimasse. Dämonen, die eine Stadt in der Wüste erbaut haben sollen? Was für ein Blödsinn! Sie hielt es für wahrscheinlicher, dass Abdul Alhazred wegen der Hitze und des Wassermangels Halluzinationen bekommen hatte. In einem anderen Punkt konnte sich Francesca sogar sicher sein, dass die Informationen nicht mit der Realität übereinstimmten: Es existierte sehr wohl noch ein Exemplar des Necronomicons. Nicht alle Bücher waren im Laufe der Jahrhunderte vernichtet worden. Geschützt von Wasser und Schlamm hatte ein Exemplar der Verfolgung entgehen können. Nun stand es wenige Schritte hinter Francesca in der geöffneten Vitrine. Obwohl sie ihm den Rücken zugewandt hatte, glaubte sie, seine Präsenz zu spüren.

Ein kaltes Kribbeln kroch ihren Nacken hoch und runter. Als würde sie von jemandem beobachtet. Oder von irgendetwas. Ruckartig drehte sie sich um.

Da war nichts.

Nur die Vitrine mit den Büchern.

Natürlich, was hatte sie auch anderes erwartet? Francesca schüttelte den Kopf. Sie benahm sich wirklich lächerlich! Wahrscheinlich hatte sie in den letzten Tagen einfach zu viel über ominöse Zauberpraktiken und übernatürliche Mächte gelesen.

»Ist etwas passiert?«, fragte Fiorella. Sie musste gehört haben, wie Francesca erleichtert die Luft ausgestoßen hatte. »Hast du etwas gefunden?«

»Leider nicht«, gab Francesca zu und musste sich Mühe geben, sich ihre Niedergeschlagenheit nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. »Aber es sind ja noch drei Bücher übrig.«

Fiorella legte den Kopf schief. »Du klingst müde«, stellte sie fest. »Was kein Wunder ist – das stundenlange Lesen ist bestimmt anstrengend!« Sie setzte sich auf und griff nach ihrem Stock. »Weißt du was? Ich gehe in die Küche und mache uns beiden einen Espresso. So einen Muntermacher kann ich ebenfalls gut gebrauchen. Leider Gottes habe ich heute Nacht unglaublich schlecht geschlafen, da ich einen Albtraum hatte. Davon sind meine Kopfschmerzen nicht gerade besser geworden.« Sie schlurfte mit ihren abgewetzten Pantoffeln zur Tür. »Aber mein Spezial-Espresso macht uns wieder fit, der ist so stark, dass er Tote aufwecken kann!«

Francesca grinste und verschwieg Fiorella lieber, dass ihre Mutter ihr ausdrücklich verboten hatte, Nonnas Spezial-Espresso zu trinken. »Danke, das ist lieb von dir!«

Nachdenklich sah sie ihrer Großmutter hinterher. Merkwürdig, auch Gianna hatte heute Nacht schlecht geschlafen. Mitten in der Nacht war Francesca von ihrem gellenden Schrei aufgeweckt worden. Gianna saß zitternd in ihrem Bett, ihre Augen huschten verängstigt durchs Zimmer und nur mit Mühe konnte Francesca sie beruhigen. Wenn sie Gianna nicht versprochen hätte, das Licht brennen zu lassen, hätte sie sich wahrscheinlich geweigert, sich wieder hinzulegen.

Francesca beugte sich erneut über das Buch, in dem sie gerade gelesen hatte. Es war ein dickes Nachschlagewerk über Zauberbücher des Früh- und Spätmittelalters, bisher hatte sie jedoch noch nichts über das Necronomicon finden können. Sie blätterte weiter und konnte dabei ein Gähnen nicht mehr unterdrücken. Vielleicht sollte sie einfach eine kleine Pause einlegen und warten, bis Fiorella mit dem Espresso wiederkam? Kurz entschlossen klappte sie das Buch zu, lehnte sich zurück und schloss ihre brennenden Augen. Sie spürte, wie sich ihr Körper entspannte und eine angenehme Schläfrigkeit breitete sich in ihr aus. So eine Pause hätte sie schon viel früher …

RAAAARRRR!

Francesca setzte sich so abrupt auf, dass sie fast vom Stuhl fiel. Was war das für ein Geräusch gewesen?

Es hatte geklungen wie ein Schrei, allerdings hatte er nichts Menschliches an sich gehabt. Eiskaltes Grauen ergriff Francesca und lähmte jeden Muskel ihres Körpers. Es war ein grollender Laut gewesen, so tief, dass sie ihn nicht nur gehört, sondern mit jeder Faser ihres Körpers gespürt hatte. Und er klang drohend.

Sie hielt den Atem an. Im Palazzo rührte sich nichts, selbst das entfernte Hämmern und Klopfen des Umbaus war verstummt.

Zögernd stand sie auf, durchsuchte das Zimmer, öffnete die Tür und lauschte hinaus auf den Flur. Weit entfernt hörte sie Stimmengemurmel. Alles schien normal zu sein. Außer ihr hatte anscheinend niemand etwas gehört. Vielleicht war Fiorella auch nur Giannas Kater Cosimo auf den Schwanz getreten? Nein, der Schrei war viel zu nahe gewesen – als wäre er direkt neben ihr ausgestoßen worden. Ratlos ging Francesca zum Schreibtisch zurück und ließ sich auf den Stuhl sinken. Vielleicht war sie für einen kurzen Moment eingenickt und hatte sich den Schrei nur eingebildet? Fiorella hatte wahrscheinlich recht: Es war wirklich Zeit für einen Muntermacher. Aber nicht nur deshalb wünschte sie sich, dass ihre Großmutter so schnell wie möglich wieder zurückkam. Es erfüllte sie mit Unbehagen, allein in diesem Zimmer zu sein. Allein mit diesem unheimlichen Buch …

Vielleicht war es besser, wenn sie sich ablenkte und weiterarbeitete. Francesca beugte sich über das Nachschlagewerk und ging es Seite für Seite durch. Schon nach wenigen Minuten hellte sich ihre Miene auf und ihre Schultern strafften sich voller Erwartung. Da stand etwas über das Necronomicon! Würde sich jetzt endlich das Rätsel lösen?

Atemlos begann sie zu lesen. Der erste Abschnitt beschäftigte sich mit der Entstehungsgeschichte des Necronomicons, die sie schon kannte, aber dann folgten einige Informationen zum Inhalt des Buches:

Auch wenn das Necronomicon von einem Menschen niedergeschrieben worden ist, so gehört das Wissen, das in ihm enthalten ist, nicht in unsere Welt und verbindet uns mit einer Dimension des Bösen. Die Macht des Necronomicons darf niemals unterschätzt werden: Es ist weit mehr als ein gedrucktes und in Leder gebundenes Buch. Das Necronomicon erspürt seine Umgebung, es verändert unsere Realität, es lebt! Unabhängig davon, ob es gelesen wird oder nicht, sickert aus ihm Unheil und Fäulnis wie ein langsam wirkendes Gift in unsere Welt hinein.

Das Buch beinhaltet zahlreiche Zauber, die die Menschen in Versuchung führen sollen, und ist mit magischen Schriftzeichen und Symbolen versehen. Auch werden im Necronomicon besonders verheißungsvolle und gefährliche Beschwörungsformeln beschrieben. Vor ihnen muss inständig gewarnt werden: Jede Beschwörung, die ein Mensch mithilfe des Necronomicons durchführt, öffnet ein Portal in die Dimension des Bösen und vergrößert dieses – bis es den Dämonen irgendwann gelingen wird, auf die Erde zurückzukehren. Dies würde das Ende der Menschheit bedeuten.

Francesca wurde abwechselnd heiß und kalt. Die Benutzung des Necronomicons konnte das Ende der Menschheit bedeuten? Wenn das der Wahrheit entsprach, dann war das Necronomicon wahrscheinlich das mächtigste und zugleich wertvollste Buch, das es gab. Kein Wunder, dass Baldini dafür ein Geheimversteck angelegt hatte.

Wie konnte er ihr dieses Buch nur anvertrauen? Wer das Necronomicon besaß, trug eine enorme Verantwortung. Es durfte niemals in die falschen Hände geraten! Wie sollte ausgerechnet sie, Francesca, dieser Aufgabe gewachsen sein? Selbst ihre eigene Großmutter hatte sie nur mit Mühe und Not davon abhalten können, in dem Buch zu lesen.

Aber vielleicht würde Fiorella durch diesen Textauszug endlich klar werden, mit was für Mächten sie es zu tun hatten, und dass Baldinis Warnung nicht nur aus der Luft gegriffen war? Das war wenigstens ein kleiner Hoffnungsschimmer!

Mit zusammengekniffenen Augen fing Francesca an, die Textstelle abzuschreiben und ihren Notizen hinzuzufügen. Diese verflixte Dunkelheit! Man hätte glauben können, dass es draußen schon dämmerte – dabei war es drei Uhr nachmittags. Hätte sie nur daran gedacht, sich Giannas Schreibtischlampe auszuborgen …

Als sie fertig war, griff sie nach dem obersten der letzten drei Bücher. Goethes »Italienische Reise« in einer italienischen Ausgabe. Darin würde sie mit Sicherheit nichts über das Necronomicon finden. Auch das vorletzte Buch war wenig vielversprechend – es war eine zwanzig Jahre alte Ausgabe von »Grundkenntnisse der Traumdeutung«. Francesca verzog das Gesicht. Na großartig! Stand darin vielleicht, was man dagegen unternehmen konnte, wenn man dank eines Familienfluches Nacht für Nacht von einem erschreckend realen Traumwesen verfolgt wurde, das einen quälen wollte? Wohl eher nicht. Zögernd griff sie nach dem letzten Buch.

»Bitte, bitte, bitte«, flehte sie. »Lass mich darin etwas finden, das uns weiterhilft!«

Mit klopfendem Herzen sah sie auf den Titel.

Es war eine historische Abhandlung über die Zeit, in der Venedig von Napoleon besetzt worden war.

»So ein blöder Mist«, entfuhr es ihr enttäuscht.

Das war es also – sie hatte alle Bücher ihres Großvaters durchgearbeitet und keinen Hinweis darauf gefunden, warum das Necronomicon mit dem Familienfluch der Medicis in Zusammenhang stehen sollte. Sie hielt das Buch in der Luft und ließ ohne jede Hoffnung die Seiten durch ihre Finger gleiten. Ein vergilbter, eingerissener Zettel löste sich daraus und segelte auf die Tischplatte herunter. Francesca stieß einen Jubelschrei aus. Das war die Schrift ihres Großvaters! Im Restaurant hing ein gerahmtes Gedicht über Venedig an der Wand, das er selbst verfasst und niedergeschrieben hatte. Leonardos weit geschwungene Großbuchstaben mit den kleinen Kringeln waren unverwechselbar.

Als ihre Hand zitternd nach dem Zettel griff, näherten sich ihr von hinten schlurfende Schritte. Ohne sich umzudrehen, rief Francesca begeistert: »Nonna, du kommst genau richtig! Endlich habe ich etwas gefunden. Im letzten Buch war ein Zettel von Großvater.« Sie spürte, wie ihre Wangen vor Aufregung zu glühen begannen. »Das könnte der Hinweis sein, den wir gesucht haben. Leider ist Großvaters Schrift nicht so einfach zu entziffern … Eine Lhr… Oje, ist das jetzt ein L oder ein C?« Sie starrte mit gerunzelter Stirn auf den Papierfetzen.

Die Schritte waren nun direkt hinter Francesca.

Sie stoppten erst, als sie unsanft an eines der Stuhlbeine stießen.

»Hoppla, hast du etwa deinen Stock vergessen?«, murmelte Francesca nachdenklich und rückte ihren Stuhl wieder zurecht. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Ich glaube, ich habe jetzt den Anfang: Eine Chronik des Unglücks. Das klingt nach einem Buchtitel.«

Ihre Großmutter schwieg – vermutlich nestelte Fiorella schon voller Ungeduld an den Kordeln ihrer nachtschwarzen Lieblingsstola und verfluchte die Tatsache, dass sie Francesca den Zettel nicht einfach abnehmen und ihn selbst entziffern konnte. Sie hätte wahrscheinlich nur wenige Sekunden dafür benötigt. Meine Güte, dachte Francesca zerknirscht, da beschwerten sich die Lehrer in der Schule über ihre Handschrift, aber was hätten sie erst zu der ihres Großvaters gesagt?

»So, jetzt habe ich es aber«, verkündete sie zufrieden. »Eine Chronik des Unglücks – Venedigs Fluch durchzieht die Jahrhunderte, von Rafael Clementoni und Nachfahren. Kennst du das Buch zufällig?«

Gerade als sie sich fragend zu ihrer Großmutter umwenden wollte, bemerkte sie den Geruch. Er stieg ihr so unvermittelt in die Nase, dass ihr Körper augenblicklich mit einem trockenen Würgen reagierte.

Es roch nach Verwesung, verdorbenem Fleisch, Fäulnis.

Aber da war noch etwas anderes. Francesca war so auf den Zettel ihres Großvaters konzentriert gewesen, dass sie es überhaupt nicht wahrgenommen hatte, obwohl das Geräusch die ganze Zeit über zu hören gewesen war. Erst jetzt registrierte sie es. Dieses rasselnde Keuchen.

Francesca war wie gelähmt. Ihr Blick war starr geradeaus auf die Fensterscheibe gerichtet, in der sie, erhellt durch das schwache Licht des Leuchters, ihr Spiegelbild erkennen konnte. Sie sah ihre eigenen, vor Schreck geweiteten Augen. Statt des Schreies, der in ihrer Kehle saß, entwich ihr nur ein heiseres Krächzen. Hinter ihr stand nicht ihre Großmutter.

Sein heißer Atem streifte über ihren Nacken, als das Wesen sich nach vorne beugte.

Gleichzeitig tauchte ein Arm über ihrer rechten Schulter auf. Die Haut war von einem leblosen, toten Weiß und glänzte ölig. Die Finger waren verkrümmt, die kurzen Nägel von einem glänzenden Schwarz. Sie waren nach unten gebogen wie die Krallen eines Adlers. Der Zeigefinger, der deutlich länger war als die übrigen Finger, wanderte nun in Richtung ihres Halses. Das Wesen stieß ein gieriges Lechzen aus.

Das Geräusch riss sie endlich aus ihrer Starre. Francesca reagierte instinktiv. Sie sprang in die Höhe und stieß dabei mit aller Wucht ihren Stuhl nach hinten. Ohne an eine mögliche Verletzung zu denken, ließ sie sich seitwärts auf den Boden fallen und rollte sich über die Schulter ab. Dann hatte sie es jedoch so eilig, wieder auf die Beine zu kommen, dass ihre Füße auf den Marmorfliesen immer wieder abrutschten. Es waren nur zwei, drei gescheiterte Versuche, doch in ihrer Situation waren sie entscheidend. Francesca wusste, dass die wenigen Sekunden, die ihr der Überraschungseffekt eingebracht hatte, dahin waren. Ihr brach der Angstschweiß aus. Jetzt war sie verloren! Sicherlich war das Wesen schon direkt hinter ihr. Sie glaubte sogar, die ausgestreckte Hand spüren zu können, die sich ihrem Rücken unaufhaltsam näherte. Panisch wälzte sie sich zur Seite und … erstarrte.

Einige Schritte von ihr entfernt lag der Stuhl umgekippt auf dem Boden, ansonsten war alles normal.

Das Wesen war weg.

»Da war ein Schrei … und dann stand es hinter mir und wollte über mich herfallen«, stammelte Francesca. »Bitte, Nonna, glaub mir doch endlich! Ich habe mir das nicht nur eingebildet!«

Fiorella saß neben Francesca auf dem Sofa, in ihrer Miene spiegelten sich Sorge und Mitleid. »Es war alles etwas viel für dich in den letzten Tagen. Deine Albträume, der Fluch, Baldinis Tod, diese unheilvollen Bücher deines Großvaters – so etwas verkraftet man in deinem Alter nicht so einfach.« Sie legte eine Hand auf Francescas Gesicht und strich mit dem Daumen zärtlich über ihre Wange. »Deine Fantasie hat dir nur einen Streich gespielt, nichts weiter. Sieh dich doch um, alles ist in bester Ordnung. Man hört weder fremdartige Schreie, noch schlurfen Monster durch das Zimmer.«

Ohne dass sie es verhindern konnte, stiegen Francesca Tränen in die Augen. Warum glaubte Fiorella ihr nicht? Oder … Francesca schluckte schwer. Oder hatte ihre Großmutter am Ende sogar recht? Hatte sie sich alles nur eingebildet? Begann sie, den Verstand zu verlieren? Aber sie hatte dieses Wesen gesehen, da war sie sich absolut sicher!

Es lag an diesem Buch. Francesca schielte auf die Vitrine, in der das Necronomicon stand. Allein beim Anblick des schwarzen Buchrückens beschleunigte sich ihr Herzschlag. Seit das Necronomicon im Palazzo war, hatte sich etwas zu verändern begonnen. Etwas Unheimliches breitete sich zwischen ihnen aus und wurde mit jedem Tag stärker. Die Veränderungen mussten doch auch Fiorella aufgefallen sein! Abgesehen von Francesca wurden alle von Albträumen geplagt und tagsüber war jeder unruhig und gereizt. Das konnte nicht nur ein Zufall sein …

»Du hast eben selbst erzählt, dass du in der Küche einen üblen Streit zwischen Luca und seinem Vater schlichten musstest«, versuchte Francesca erneut, ihre Großmutter zu überzeugen. »Und dabei ging es nur um die Frage, wer von beiden das letzte Kuchenstück bekommt. Etwas ist hier, im Palazzo, und mit jedem Tag beginnt es sich stärker auf uns auszuwirken.«

»Ja, neuerdings geht es hier tatsächlich zu wie im Irrenhaus«, stimmte Fiorella ihr überraschenderweise zu. »Aber das liegt nur an diesem unglückseligen Umbau. Alle sind angespannt und überarbeitet. Da ist es völlig normal, dass der Umgangston gereizter wird.«

Sie schob Francesca den Teller mit Keksen hin, den sie aus der Küche mitgebracht hatte. Doch Francesca konnte jetzt nichts essen.

»Es ist dieses Buch«, beharrte sie. »In einem der letzten Bücher von Großvater habe ich neue Informationen über das Necronomicon gefunden. Alles, was hier geschieht, passt zu dem, was dort beschrieben steht. Baldini hat mich nicht umsonst so ausdrücklich vor dem Necronomicon gewarnt.«

Fiorella schnaubte auf. »So ein Blödsinn! Dieser alte Narr hat dir nur eine seiner Flausen in den Kopf gesetzt. Er hatte immer schon einen Hang zu solchen Schauergeschichten.«

Fiorellas abweisende Miene versetzte Francesca einen Stich. Mit einem Mal wurde ihr klar, wie viel es ihr bedeutete, dass ihre Großmutter ihr Glauben schenkte. Wie sollte sie, ein dreizehnjähriges Mädchen, allein gegen die Mächte aus diesem Buch kämpfen? Sie brauchte ihre Großmutter an ihrer Seite.

»Warum bist du nur so felsenfest davon überzeugt? Du bist doch sonst immer so abergläubisch und vertraust deinen Visionen«, konterte Francesca. »Du glaubst auch an den Fluch, der über unserer Familie liegt!«

»Das eine hat doch nichts mit dem anderen zu tun.« Fiorella schüttelte entschieden den Kopf. »Ich glaube an diesen teuflischen Fluch, weil ich all die Schicksalsschläge am eigenen Leib erfahren musste. Unser allmächtiger Herr hat mich mit diesen Visionen beschenkt, um mir gegen den Fluch beizustehen. Er hat unserer Familie mit dieser Gabe seine Hilfe gesandt. Sicherlich gibt es zwischen Himmel und Erde mehr, als wir mit unseren menschlichen Augen erkennen können. Aber ich glaube nicht, dass Bücher so etwas wie eine übernatürliche Macht besitzen.«

»Aber warum denn nicht?«

»Bücher sind nur Gegenstände, nichts weiter. Sie sind etwas für Dummköpfe und Angsthasen.«

Francesca sah ihre Großmutter fassungslos an. »Wie bitte?«

»Bücher sind nur für diejenigen nützlich, die zu dumm sind, selbst aus ihren Erfahrungen zu lernen«, erklärte Fiorella im Brustton der Überzeugung. »Deswegen brauchen sie einen Schriftsteller, der ihnen eine einzige Lebensweisheit wie eine Kuh Hunderte von Seiten lang wiederkäut.«

»Aber man kann damit in andere Welten …«

»Ich brauche mich nicht in andere Welten zu flüchten«, fiel Fiorella ihr ins Wort. »Unsere Welt ist großartig genug, um dort jeden Tag neue Dinge zu erleben. Wenn man den Wunsch hat, in die Welt eines Buches zu flüchten, dann nur, weil man sich dahinter verstecken will und nicht den Mut hat, etwas aus seinem Leben zu machen. Die Realität bietet uns genug Abenteuer.«

Mit ihrer letzten Aussage hatte Fiorella allerdings recht. Auf die Abenteuer, die Francesca in den vergangenen Tagen erlebt hatte, hätte sie jedoch gerne verzichtet. Wie viel angenehmer war es doch, eingekuschelt in die Wärme und Sicherheit des eigenen Bettes, von den gefährlichen Abenteuern eines anderen zu lesen. Ein Frösteln überlief sie, als sie an das Spiegelbild dieses schaurigen Wesens dachte. Noch immer konnte sie seinen heißen Atem in ihrem Nacken fühlen. Lieber hätte sie hundert der schlimmsten Gruselbücher hintereinander gelesen, als so etwas selbst erleben zu müssen.

»Aber …«

Fiorella hob abwehrend die Hand. »Du musst dir nicht die Mühe machen, mit mir darüber zu diskutieren, Francesca. Auch deine Mutter war von klein auf eine begeisterte Leserin. Sie liebte Bücher, genau wie dein Großvater. Abends saßen sie immer in holder Eintracht vor dem Kaminfeuer und haben in ihren Büchern gelesen. Die beiden haben oft genug versucht, mich von ihrer absurden Bücherliebe zu überzeugen. Sie haben es nicht geschafft.«

Sofort musste Francesca an den jährlichen Skiurlaub mit ihrer Mutter denken. Wehmut durchflutete sie. Wie gerne wäre sie jetzt dort gewesen, mit ihrer Mutter gemeinsam lesend auf dem kleinen Sofa vor dem Kamin. Wenn ihre Mutter den Urlaub nicht abgesagt hätte, wäre Francescas Welt jetzt wahrscheinlich noch in Ordnung.

»Ich habe nie verstanden, warum die beiden so ein Theater um Bücher gemacht haben«, fuhr Fiorella fort. »Ich habe schon seit fünfzig Jahren kein Buch mehr gelesen. Hat es mir geschadet? Nein! Meinst du, der Herr hat uns das Leben geschenkt, damit wir es mit Bücherlesen verschwenden?«

Francesca wollte sich noch nicht geschlagen geben. »Und die Geschichten, die du uns immer erzählst, was ist damit?«, fragte sie listig.

»Wenn ich dir eine meiner Geschichten über Venedig erzähle, sitzen wir beieinander, sehen uns in die Augen, teilen die gleichen Gefühle. Das ist ein großer Unterschied. Bücher sind etwas Totes.«

Fiorella konnte nicht sehen, wie Francesca entsetzt den Kopf schüttelte. Bücher waren alles andere als tot. Für Francesca waren sie so viel mehr. Doch sie wusste nicht, wie sie dies Fiorella begreiflich machen konnte. Mit Büchern konnte man zu fantastischen Orten reisen, man wurde eins mit den Protagonisten, fieberte mit ihnen mit, knabberte vor Spannung an den Fingernägeln. Man lachte mit ihnen, man liebte, man weinte. Für sie war es so, als ob ihr durch die Bücher nicht nur eines, sondern viele Leben geschenkt worden wären. Und es gab einige wenige Bücher, die einen besonderen Zauber besaßen. Bücher, deren Welt in ihr auf wundersame Weise weiterlebte. Sie waren eine lieb gewordene Erinnerung, ein Zufluchtsort, ein Teil ihrer Seele. Und genau deshalb glaubte Francesca daran, dass es auch das Gegenteil davon geben konnte. Bücher, die eine Seele vergiften konnten.

Aber sie spürte, dass es nichts brachte, weiter mit Nonna darüber zu streiten und nach dem, was sie gerade erlebt hatte, hatte sie auch nicht die Kraft dazu. Fiorella würde ihre Meinung nicht ändern. Niemals würde sie sich von Francesca überzeugen lassen, dass das Necronomicon weit mehr war als nur ein toter Gegenstand. Ein Teil von ihr begann langsam zu begreifen, warum ihre Mutter ständig in Streit mit Fiorella geriet.

So seufzte Francesca als letzten Protest nur geräuschvoll auf und erzählte ihrer Großmutter stattdessen von Leonardos Zettel, den sie gefunden hatte und auf dem ihrer Vermutung nach ein Buchtitel notiert war. Fiorella nahm die Nachricht jedoch weit weniger begeistert auf, als Francesca gehofft hatte.

»Noch ein Buch? Das bringt uns doch nicht weiter!« Fiorella erhob sich und lief auf die Vitrine zu. »Ich denke, es ist nun Zeit für unsere Abmachung.«

Schockiert sah Francesca dabei zu, wie Fiorella die Buchrücken abtastete und schließlich mit zufriedenem Lächeln das Necronomicon herauszog.

»Unsere Abmachung?«, fragte sie mit heiserer Stimme.

»Hast du etwa schon vergessen, dass ich dir erlaubt habe, Leonardos Bücher nach Hinweisen zu durchsuchen, obwohl ich von Anfang an wusste, dass das nichts bringen würde? Du kannst nicht behaupten, dass ich die letzten Tage nicht sehr geduldig mit dir gewesen wäre.«

Mit feierlicher Miene legte sie das Necronomicon vor Francesca auf den Tisch. »Nun ist es so weit, dass du deinen Teil der Abmachung erfüllst.«

»Du meinst, ich soll darin lesen?«, stieß Francesca entsetzt aus.

Ihre Großmutter nickte. »Es gibt keinen anderen Weg. Wie du in den letzten Tagen herausgefunden hast, existiert eine Unzahl dieser obskuren Zauberbücher. Warum dachte dein Großvater, dass ausgerechnet das Necronomicon den Fluch aufheben kann? Kannst du mir das beantworten?« Ihre Stimme klang ungewöhnlich scharf und schneidend. »Nein, das kannst du nicht. Aber wir haben das große Glück, dass wir dieses Buch in unserem Besitz haben und direkt darin nachforschen können.«

»Aber vielleicht bringt uns Großvaters Notiz weiter?«, wandte Francesca flehentlich ein. »Ich könnte gleich morgen früh in die Bibliothek gehen und nach dieser ›Chronik des Unglücks‹ suchen.«

»Von mir aus kannst du das gerne tun, aber jetzt wirst du im Necronomicon lesen. Wir haben schon genug Zeit verloren. In wenigen Tagen musst du wieder abreisen, bis dahin müssen wir das Rätsel gelöst haben.«

Fiorella drückte ihr das Necronomicon in die Hände. »Schlag es auf!«

Francesca sah auf das Buch hinab und schluckte schwer. »Ich kann das nicht. Tut mir leid, Nonna.«

»O Madonna mia«, zischte Fiorella. Sie schien am Ende ihrer Geduld zu sein.

Nach einer kurzen Pause fuhr sie mit bemüht freundlicher Stimme fort: »Du musst es auch nicht halten, wenn es dir so sehr Angst macht. Weißt du was? Ich nehme es in die Hand, blättere um und du schaust mir dabei über die Schulter.«

Ihr Vorschlag klang verlockend. Francesca war hin- und hergerissen. Sie wollte keinen Ärger mit ihrer Großmutter. Vielleicht hatte sie sogar recht – Francesca konnte sich nicht sicher sein, dass das Lesen in diesem Buch gefährlich war. Doch dann hörte sie wie ein Echo Baldinis Stimme in ihrem Kopf: Niemals lesen … Niemals lesen!

Francesca hatte ihren Entschluss gefasst.

»Nein, das mache ich nicht. Ich lese nicht in diesem Buch!« Ihre Stimme klang leider nicht ganz so selbstsicher, wie sie es sich gewünscht hatte.

»Aber dann ist es völlig nutzlos für uns«, keifte Fiorella. »Wenn du nicht darin lesen willst, können wir es ja gleich der Polizei übergeben! Die interessiert es sicherlich brennend, warum du dieses Buch, das der Einbrecher höchstwahrscheinlich gesucht hatte, heimlich aus dem Antiquariat geschmuggelt hast.«

Francesca riss entsetzt die Augen auf. Fiorella würde sie doch nicht etwa an die Polizei verraten? Wegen des Einbrechers tappten die Ermittler nach wie vor im Dunkeln und Francesca wollte sich gar nicht erst vorstellen, wie sie reagieren würden, wenn sie von Francescas Diebstahl erfuhren. Ihre Probleme waren sowieso schon groß genug.

Fiorella sah sie mit unergründlicher Miene an. »Francesca, du liest jetzt in diesem Buch!« Das war ein Befehl, keine Bitte.

»Mir reicht es!« Wut wallte in Francesca auf. Sie hatte es satt, sich von Fiorella herumkommandieren zu lassen. »Du kannst das Rätsel um diesen blöden Fluch alleine lösen! Ich mache nicht mehr mit.«

Sie sprang auf und ließ das Necronomicon achtlos zu Boden fallen. »Weißt du, so langsam kann ich Mama verstehen. Du bist nur nett zu mir, solange ich mache, was du willst. Meine Meinung interessiert dich überhaupt nicht. Du bist eine egoistische, störrische alte Frau!«

Fiorella zog scharf die Luft ein. »Francesca!«, ermahnte sie sie mit strenger Stimme. »Wehe, du gehst jetzt! Du bleibst gefälligst hier und entschuldigst dich bei mir!«

Francesca dachte nicht daran. Als Antwort ließ sie die Tür zu Fiorellas Zimmer mit einem lauten Knall hinter sich ins Schloss fallen.

Francesca wälzte sich auf die andere Seite. Ihr Blick fiel auf Giannas Radiowecker. Es war schon nach ein Uhr! Stöhnend klopfte sie mit der Faust ihr Kopfkissen zurecht. Sie wollte nur noch schlafen. In eine unbeschwerte Traumwelt eintauchen, das Chaos in ihrem Kopf und ihre Schuldgefühle weit hinter sich lassen. Doch ihr schlechtes Gewissen umhüllte ihre Gedanken wie klebrige Spinnweben. Immer wieder musste sie an die harten Worte denken, die sie Fiorella entgegengeschleudert hatte. Was hatte sie nur dazu getrieben, in diesem Ton mit ihrer Großmutter zu sprechen? Allein wenn sie daran dachte, wurde ihr ganz schlecht. Wenige Minuten nach dem Vorfall hatte sie ihren Wutausbruch schon bereut, aber bisher hatte sie keine Gelegenheit dazu gehabt, sich bei Fiorella zu entschuldigen. Am Abend hatte ihre Großmutter auf ihrem Zimmer speisen wollen und ausdrücklich verlangt, dass Gianna ihr das Essen brachte. Das war ein eindeutiges Signal an Francesca gewesen. Zu allem Überfluss schienen sich Gianna und Fiorella auch noch prächtig verstanden zu haben, denn Gianna blieb bis zum späten Abend bei ihrer Großmutter. Francesca verzog das Gesicht. Wurde sie jetzt etwa auf ihre eigene Cousine eifersüchtig? Das war doch lächerlich! Natürlich hatte Gianna genauso viel Recht wie sie, Zeit mit ihrer Großmutter zu verbringen. Nichtsdestoweniger versetzte es Francesca einen Stich, dass Fiorella es abgelehnt hatte, sie zu empfangen und sie hatte nicht den Mut dazu aufgebracht, trotzdem zu ihr zu gehen. Auch weil sie befürchtete, dass Fiorella, sobald sich Francesca bei ihr entschuldigt hatte, von ihr erwarten würde, im Necronomicon zu lesen. Aber auch wenn Francesca ihre Worte bereute, so hielt sie immer noch an ihrem Entschluss fest. Es war richtig gewesen, sich so zu entscheiden! Doch warum fühlte sie sich dann so elend? Mit einem tiefen Seufzer drehte sie sich auf den Rücken.

Und wie sollte es jetzt weitergehen? Wollte sie Fiorella tatsächlich alleine nach der Ursache dieses ominösen Fluches fahnden lassen? Ihre Großmutter schien nicht einmal zu ahnen, mit welchen Mächten sie es zu tun hatte. Francesca konnte sie nicht einfach im Stich lassen! Sie beschloss, auf eigene Faust weiterzumachen und am nächsten Morgen in die Nationalbibliothek zu gehen. Eine innere Stimme sagte ihr, dass ihr Großvater den Zettel mit dem Buchtitel nicht zufällig dort deponiert hatte. Vielleicht hatte er damit gerechnet, dass etwas Schlimmes passieren und es ihm nicht gelingen würde, den Fluch aufzuheben? Konnte es nicht sein, dass er mit dem Zettel eine Spur für seine Nachkommen hatte legen wollen? Es war auf alle Fälle wert, dieser Sache nachzugehen.

Von der anderen Seite des Zimmers erklang ein Stöhnen. Gianna schien auch in dieser Nacht von einem Albtraum gequält zu werden. Francesca setzte sich auf, knipste die Nachttischlampe an und schlich zum Bett ihrer Cousine. »Gianna, wach auf!« Sie rüttelte sanft an Giannas Schulter. »Du hast nur einen Albtraum. Hörst du mich? Du musst aufwachen!«

Doch Giannas Gesicht blieb verzerrt, ihre Augen geschlossen. Sie war in ihrem Albtraum gefangen.

Es versetzte Francesca einen Stich, sie so zu sehen. Jahrelang war sie es gewesen, die so dagelegen hatte, und Gianna hatte währenddessen an ihrer Seite gewacht und beruhigende Worte geflüstert. Worte, die Francesca nicht erreichen konnten, da sie an einem düsteren Ort gefangen war. Es war ein seltsames Gefühl, dass nun die Rollen vertauscht waren. Francesca strich über Giannas schweißnasse Stirn und hatte die Hoffnung, dass sie damit die bösen Bilder wegwischen konnte, die sich gerade in Giannas Kopf abspielten. Vielleicht sollte sie zu härteren Methoden greifen, um sie aufzuwecken? Gerade als Francesca erwog, ihr einen kalten Waschlappen in den Nacken zu drücken, wurden Giannas Bewegungen ruhiger und ihr Stöhnen ließ nach.

Erleichtert kroch Francesca in ihr Bett zurück. Sie ließ das Licht brennen und lehnte sich mit dem Kissen im Rücken an die Wand. An Schlaf war sowieso nicht zu denken. Mit einem bedauernden Blick sah sie auf den Roman, der auf ihrem Nachttisch lag. Mit Lesen konnte sie sich leider auch nicht ablenken. Denn der Streit mit ihrer Großmutter war nicht das einzige Desaster des vergangenen Tages gewesen. Vor dem Schlafengehen hatte Francesca nach einem ihrer Bücher gegriffen, das sie von ihrer Mutter zu Weihnachten bekommen hatte. Sofort war ihr aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. Von den hinteren Seiten glitschte eine klebrige Flüssigkeit. Jemand hatte in jedem einzelnen Buch die letzten fünfzig Seiten mit Kleister zugeklebt. Francesca musste nicht lange überlegen, wer dafür verantwortlich war: Luca. Er hatte Wort gehalten und Rache genommen. Sie war zwar so einiges von ihm gewohnt, aber dies war selbst für ihn ein übler Streich. Im Grunde konnte sie nun all ihre Bücher in den Müll werfen. Normalerweise hätte sie ihn dafür umgehend bei seinen Eltern verpetzt oder mit Gianna einen noch gemeineren Racheplan ersonnen. Aber trotz ihrer Wut auf Luca hatte Francesca beschlossen, dieses Mal nichts zu unternehmen. Die Stimmung im Palazzo war sowieso schon gereizt genug und sie hatte im Moment wahrlich andere Sorgen.

Gianna begann sich wieder heftiger herumzuwälzen. Ihr Albtraum war wohl doch noch nicht überstanden. Cosimo, der sich wie üblich auf ihrem Kopfkissen zusammengerollt hatte, beschwerte sich mit einem lautstarken Miauen und flüchtete sich mit einem geschmeidigen Sprung auf Francescas Bett. Selbst im schwachen Licht der Nachttischlampe glänzte sein Fell wie schwarzes Feuer. Er drückte zur Begrüßung seinen Kopf an ihre Stirn, setzte sich hoch erhobenen Hauptes auf Francescas Bett und blinzelte sie aus seinen bernsteinfarbenen Augen fragend an. Francesca grinste.

»Sehr wohl, Eure Hoheit«, antwortete sie leise. »Ich werde Euch nun ruhen lassen und weitere unliebsame Störungen von Euch fernhalten! In diesem Bett leidet zum Glück niemand unter Albträumen …«

… und dies hatte sie der Traumgondel zu verdanken. Francesca fasste in ihre Pyjamatasche. Es beruhigte sie, die fein gearbeiteten Linien und das glatte Holz unter ihren Fingern zu spüren. Seltsamerweise schien das Familienerbstück sie nicht nur vor dem Medici-Fluch zu beschützen – bisher war sie als einziges Familienmitglied von den sich immer stärker ausbreitenden Albträumen verschont geblieben. Nach dem, was Francesca heute über das Necronomicon herausgefunden hatte, war sie davon überzeugt, dass dieses teuflische Buch dafür verantwortlich war.

Cosimo hatte sich inzwischen an ihre Seite gekuschelt und sich zu einem kompakten Fellknäuel zusammengerollt. Francesca betrachtete ihn versonnen.

»Du hast viel mit Venedig gemeinsam, kleiner Kater«, flüsterte sie ihm zu.

Ein Blick genügte, um die Herrschaftlichkeit, den Stolz zu erkennen, den sowohl das Tier als auch die Stadt ausstrahlten. Die Unbeugsamkeit, allem zu trotzen, was da kommen möge. Als ob nichts ihnen etwas anhaben konnte. Cosimos Wärme und seine ruhigen Atemzüge ließen Francescas Gedanken zur Ruhe kommen und ihre Augen wurden immer schwerer.

Gianna fuhr mit einem solchen Aufschrei in die Höhe, dass sowohl Francesca als auch Cosimo erschrocken zusammenzuckten.

»Hilfe … sind sie weg?« Völlig verängstigt sah sich Gianna um, ihr Atem ging stoßweise und ihre Hände krallten sich in der Bettdecke fest.

»Es ist alles in Ordnung!« Francesca setzte sich zu ihr aufs Bett und Gianna warf sich in ihre Arme.

»Es war so grauenvoll«, schluchzte sie. »Ich hatte solche Angst.«

Francesca strich ihr beruhigend über die Haare. »Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit.«

Stimmte das wirklich? Plötzlich erkannte Francesca, dass sie von ihren Worten im Grunde selbst nicht überzeugt war. Waren sie im Palazzo in Sicherheit?

Sie spürte, wie sich Gianna langsam wieder beruhigte.

»War dein Traum so schlimm?«, fragte Francesca mitfühlend.

Gianna nickte und strich sich schniefend die Haare aus dem Gesicht.

»Ich lief im Palazzo einen düsteren Flur entlang«, begann sie mit leiser Stimme zu erzählen. »Die Tür zum Zimmer meiner Eltern stand offen und ein warmes, goldenes Licht drang daraus hervor. Ich wollte unbedingt dorthin, doch ich konnte dem Zimmer nicht näher kommen. Mein Hinken wurde mit jedem Schritt schlimmer. Es fühlte sich an, als würden meine Füße in Treibsand versinken. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich beobachtet wurde. Dann sah ich sie. Es war etwas in den Wänden des Palazzos. Etwas bewegte sich darunter.«

Sie stockte und schlang fröstelnd die Arme um ihre Knie. »Etwas drückte sich daraus hervor, als wäre die Wand des Palazzos nur eine formbare Masse, die jahrelang das Böse in sich verborgen gehalten hatte. Es waren Gesichter. Grauenvolle, schreiende Gesichter mit nadelspitzen Zähnen. Sie schienen immer näher auf mich zuzukommen, sie rissen ihre Mäuler auf und riefen …«

»Ja?«

»Sie sagten: WIR KOMMEN«, flüsterte Gianna. »Nur diese zwei Worte. Immer und immer wieder. WIR KOMMEN. WIR KOMMEN. WIR KOMMEN.«

Eine unangenehme Stille hatte sich zwischen ihnen ausgebreitet. Nur mit Mühe gelang es Francesca, die innere Kälte, die sich bei Giannas Erzählung in ihr ausgebreitet hatte, abzuschütteln.

Sie räusperte sich. »Dafür, dass du keine großartigen Erfahrungen mit Albträumen hast, war der gar nicht so schlecht«, meinte sie in lockerem Ton. »Da waren einige schön gruselige Komponenten drin. Wenn du so weitermachst, wirst du vielleicht noch so gut wie ich.«

Gianna verzog ihr Gesicht zu einem Grinsen. »Jetzt untertreib mal bitte nicht – der war spitzenmäßig gruselig«, widersprach sie schnaubend. »Du bist nur neidisch, dass ich als Anfängerin fast schon so gut bin wie du. Aber wahrscheinlich hast du mich überhaupt erst angesteckt. Wir haben Albträumeritis oder so etwas.«

»Ja, das wird es wohl sein.«

Schade, dass es nicht tatsächlich so einfach war, dachte Francesca bitter. Dann könnten sie eine Medizin dagegen einnehmen und alles wäre wieder in Ordnung. »Es ist spät. Wir sollten uns wieder hinlegen.«

»Auf keinen Fall!«, sagte Gianna entschieden. »Ich will nicht mehr schlafen. Noch einen Albtraum ertrage ich nicht.«

Francesca lächelte traurig. Dieses Gefühl kannte sie nur allzu gut. »Dann muss ich wohl den Gute-Träume-Notfallplan meiner Mutter einleiten. Zuerst gehe ich in die Küche und mache dir einen Ginoh …«

»Einen was?«

»Ginoh – das ist warme Milch mit Honig und Zimt. Während du den langsam Schluck für Schluck trinkst, reden wir über deine schönsten, größten und allerheimlichsten Wünsche. Die Wünsche, die so toll sind, dass du schon vom Gedanken daran ein Kribbeln im Bauch bekommst«, erklärte Francesca. »Ach ja, und der Ginoh muss geschlürft werden, das ist wichtig. Ohne lautstarkes Schlürfen funktioniert es nicht. Aber dann hilft es garantiert, du wirst sehen!«

»Das klingt gut!« Gianna warf ihr einen dankbaren Blick zu. »Aber nur, wenn du dich nach meinem spitzenmäßig gruseligen Albtraum überhaupt noch alleine in die Küche traust – nachher habe ich dir zu viel Angst eingejagt! Mich könnte jetzt selbst Nonna nicht dazu bringen, dieses Zimmer zu verlassen.«

Francesca öffnete die Tür, schaltete das Licht im Flur ein und sah demonstrativ nach rechts und links. »Die Wände sehen aus wie immer, nirgendwo bewegt sich etwas. Beruhigt dich das?«

»Ungemein. Aber beeil dich bitte trotzdem!«

Auch Francesca war insgeheim erleichtert, dass der Palazzo Ca’nera in friedlichem Schlummer vor ihr lag. Nirgendwo war auch nur ein ominöser Schatten zu sehen. Um niemanden aufzuwecken, schlich sie auf Zehenspitzen die Treppe hinunter in die Küche. Schon nach wenigen Minuten dampfte der Ginoh in Giannas Lieblingstasse und der angenehme Duft von Zimt stieg Francesca in die Nase. Die Kälte des Marmorfußbodens kroch über ihre blanken Füße nach oben und ihre Zehen fühlten sich schon taub an. Sie hätte daran denken sollen, ihre Hausschuhe anzuziehen – im Winter verwandelte sich der Palazzo in einen Eispalast. Francesca steckte noch einige Karamellbonbons in ihre Pyjamatasche und machte sich eilig auf den Rückweg. Als sie jedoch durch die Küchentür schlüpfen wollte, hielt sie erstaunt inne.

Merkwürdig, sie hätte schwören können, dass sie das Licht im Flur angelassen hatte. Sie griff nach dem Schalter, doch es blieb dunkel. Nur der Lichtschein aus der Küche erhellte das Stück des Flures direkt vor Francesca, danach erhob sich eine Mauer aus Finsternis. Vielleicht war die Sicherung herausgeflogen? Sie wusste, dass Emilio und Antonio begonnen hatten, in den neuen Gästezimmern Elektroleitungen zu verlegen. Es sähe den beiden Hobbyhandwerkern ähnlich, wenn sie dabei die Stromversorgung des ganzen Palazzos durcheinandergebracht hätten.

»So ein blöder Mist!«, fluchte sie leise.

Sie drehte sich wieder um und durchsuchte die Küchenschubladen nach einer Taschenlampe. Doch alles, was sie fand, waren ein roter Kerzenstummel und Streichhölzer. Francesca stieß enttäuscht die Luft aus. Die Vorstellung, sich im flackernden Schein einer Kerze die weit geschwungene Steintreppe nach oben tasten zu müssen, war nicht gerade angenehm. Einen Moment lang erwog sie ernsthaft, bis zum Morgengrauen in der hell erleuchteten Küche zu bleiben. Sie warf einen betrübten Blick auf ihre Füße. Allerdings wären bis dahin wahrscheinlich ihre Zehen abgefroren und Gianna würde sich mit Sicherheit Sorgen um sie machen. Sie hatte wohl keine andere Wahl. Francesca zündete die Kerze an, steckte die Streichhölzer ein und verließ mit zögernden Schritten die Küche.

In der einen Hand Giannas Tasse, in der anderen die Kerze, trat sie in die Finsternis. Francesca fühlte sich, als würde sie am Grunde eines schwarzen Sees durch die Dunkelheit treiben. Die Kerze spendete ihr dabei nur wenig Trost, denn mit ihrem spärlichen Licht kamen die Schatten. Sie huschten umher, glitten als tanzende Fratzen über die Wände und starrten Francesca aus blinden Augen an. Sofort musste sie an Giannas Albtraum denken. Sie zwang sich, weiterzugehen und starr geradeaus zu blicken. Trotzdem nahm sie die Schatten wahr, die sich mal links, mal rechts von ihr zu Säulen aus Finsternis verdichteten und zu gewaltigen Ungeheuern heranwuchsen, die nach ihr greifen wollten. Je näher Francesca ihnen kam, desto kleiner wurden sie und stellten sich schließlich als ein harmloses Möbelstück oder eine Marmorsäule heraus. Wo war nur diese verflixte Treppe? Hätte sie sie nicht schon längst erreichen müssen? Halb blind tapste sie weiter vorwärts.

»Autsch!«

Francesca fuhr schmerzerfüllt zusammen. Sie war mit den Zehen gegen den Treppenabsatz gestoßen und hatte dabei einen Teil der Milch verschüttet.

»Na toll, das wird ja immer besser!«, stöhnte sie leise. Sie musste vorsichtiger sein, ansonsten kam sie bei Gianna noch mit einer leeren Tasse an und all dies wäre völlig umsonst gewesen!

Alarmiert horchte Francesca auf. War da nicht ein Geräusch gewesen? Eine kalte Gänsehaut kroch ihren Rücken hinauf. Ihre Hand schloss sich so fest um den Kerzenstummel, dass sich ihre Fingernägel ins Wachs bohrten. Regungslos lauschte sie in das Dunkel.

Da –

… war das nicht das weit entfernte Schlurfen von Schritten?

Francesca hielt den Atem an. Die Kerze in ihrer Hand zitterte, sodass die Flamme hin- und herzuckte und die Schatten um sie herum einen wilden Tanz aufführten.

Nein. Es war nichts mehr zu hören. Sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte ihr Giannas Albtraum mehr zugesetzt, als sie sich hatte eingestehen wollen und ihre Nerven spielten ihr nur einen Streich.

»Ich muss mich endlich zusammenreißen!«, befahl sie sich selbst. Es war doch wirklich kindisch, wie sie sich hier aufführte. »Es ist nur das Licht ausgefallen, nichts weiter!«

Sie stieg die herrschaftliche Treppe des Palazzos hinauf. Das Patschen ihrer bloßen Füße hallte einsam durch den hohen Raum über ihr.

Francesca fröstelte. Bildete sie sich das nur ein oder war es plötzlich um einige Grade kühler geworden? Ihr Atem bildete vor ihrem Gesicht kleine Wölkchen. So eisig war es im Palazzo vorher noch nie gewesen … Obwohl sie so schnell wie möglich zu Gianna zurückkehren wollte, wurde sie mit jeder Stufe langsamer.

Francescas Sinne waren zum Zerreißen angespannt. Sie blieb stehen.

Sie wusste, dass sie nicht mehr alleine war.

Mit der Dunkelheit war noch etwas anderes gekommen.

Etwas war hier … etwas Böses.

Und es lauerte in den Schatten.

Ein Hauch, der sich so lebendig anfühlte wie der Atem eines Lebewesens, streifte ihr Gesicht. Die Kerzenflamme flackerte und für einen schrecklichen Moment dachte Francesca, dass sie ausgehen würde. Der Gestank von Fäulnis stieg ihr in die Nase und ließ sie würgen. Sie kannte diesen Geruch. Erst wenige Stunden zuvor hatte er sie schon einmal eingehüllt. Francesca entglitt die Tasse. Sie fiel mit einem lauten Knall zu Boden.

Hektisch fuhr sie herum, drehte sich um ihre eigene Achse, die Kerze hoch erhoben, um etwas erkennen zu können. Ihre Augen huschten ängstlich umher. Es war nichts zu sehen.

Sie taumelte zur Seite und griff Halt suchend nach dem Geländer. Wie war das möglich? Sie hatte die Berührung so deutlich gespürt, als wäre ihr jemand mit der Hand über das Gesicht gefahren!

Endlich schaltete sich wieder ihr Verstand ein. Was machte sie hier eigentlich? Wie ein verängstigtes Opferlamm stand sie regungslos auf der Treppe herum! Was es auch gewesen sein mochte, das sie gestreift hatte, es war auf alle Fälle noch hier und es würde sich bestimmt nicht damit zufriedengeben, ihr nur einen kleinen Schrecken einzujagen. Jetzt war nur eines wichtig: Sie musste so schnell wie möglich raus aus der Dunkelheit, zu Gianna!

Hastig stieg sie über die Scherben der Tasse hinweg und eilte die Stufen nach oben. Noch nie war ihr die Treppe derart lang vorgekommen, sie schien sich ins Unendliche auszudehnen. Francesca keuchte erleichtert auf, als sie im schwachen Schein der Kerze den obersten Treppenabsatz ausmachen konnte. Ihre Schritte beschleunigten sich noch einmal, ihr rechter Fuß trat ins Leere, sie rutschte ab und ihr Knie knallte mit voller Wucht auf eine der Steinstufen. Francesca rutschte benommen einige Stufen abwärts. Ihr Knie schmerzte und war erfüllt von einem stetig anschwellenden Pulsieren. Aber sie hatte keine Zeit, darauf zu achten. Sie musste weiter! Sie richtete sich auf – und erstarrte.

Von oben drang ein Geräusch durch das Dunkel, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Da war ein Schlurfen – und es kam näher, immer näher.

Sie hatte sich also doch nicht getäuscht, als sie das Geräusch zum ersten Mal wahrgenommen hatte!

Mit jedem Laut, der an ihr Ohr drang, begann ihr Herz schneller an ihre Brust zu hämmern. Was sollte sie jetzt machen? Nach oben konnte sie nun nicht mehr. Dann also wieder den langen Weg zurück in die Küche? Durch die Dunkelheit? Francesca hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, doch zugleich hatte sie auch Angst, dass das Geräusch aufhörte, dass es plötzlich still war und sie direkt vor sich den fauligen Atem des Monsters riechen konnte.

Aber … aber vielleicht war es auch jemand aus ihrer Familie? Vielleicht war es Gianna, die auf die Suche nach ihr gegangen war?

»Ist … ist da jemand?« Francescas Stimme zitterte. »Gianna? Bist du das?«

Erneut streifte ein Hauch ihr Gesicht, dieses Mal heftiger und so unerwartet, dass Francesca fast das Gleichgewicht verloren hätte.

Die Flamme der Kerze flackerte.

Und erlosch.

Finsternis.

Allumfassende, drohende Finsternis.

Noch immer klammerte sich Francesca an die Kerze, als könne sie damit die Flamme wieder zum Leben erwecken. Plötzlich wusste sie, dass es allein dieses unstete, kleine Licht gewesen war, das sie beschützt hatte.

Die Streichhölzer, durchfuhr es Francesca panisch. Sie griff in ihre Pyjamatasche, zog die kleine Schachtel hervor und öffnete sie. Ihre Hände zitterten so unkontrolliert, dass sie keines der Streichhölzer zu fassen bekam.

Die Schritte waren nun direkt vor ihr.

Einige der Streichhölzer fielen zu Boden, doch Francesca war es gelungen, eines zwischen ihre schweißnassen Finger zu bekommen.

Auf dem obersten Treppenabsatz tauchten zwei leuchtende Augen auf. Sie waren von einem milchigen Schwarz, so als ob man dunkle Folie vor eine Taschenlampe halten würde.

Der Anblick war zu viel für Francesca. Sie kreischte panisch auf. »Hilfe! Gianna? Wo seid ihr alle? Warum hört mich denn niemand?«

Ihre Stimme hallte um ein Vielfaches verstärkt durch den Palazzo. Niemand reagierte. Das war doch nicht möglich! Francesca hatte sogar die Zimmertür aufgelassen, Gianna musste sie hören! Sie schluchzte verzweifelt auf.

Wieder und wieder versuchte sie, das Streichholz zu entzünden.

»Du atmest so laut wie der Motor eines Lastkahns.«

Sie hielt mitten in der Bewegung inne. Das … das war die Stimme ihrer Großmutter!

»Nonna?« Francesca entfuhr ein erleichtertes Lachen, das etwas hysterisch klang.

»Hast du etwa Angst?« Fiorella kicherte.

Ja, es war die Stimme ihrer Großmutter, doch irritiert bemerkte Francesca, dass sie seltsam verändert klang.

Ratsch – das Streichholz hatte endlich Feuer gefangen. Francesca atmete erleichtert auf und hielt die Flamme an den Docht der Kerze.

»Im Flur ist das Licht ausgefallen und ich habe Angst bekommen«, gestand Francesca. »Ich hatte das Gefühl, dass etwas hier im Palazzo ist, etwas Böses.«

»Monster? Oder Geister?«, fragte Fiorella in listigem Tonfall. »Ungeheuer? Oder Dämonen?« Sie kicherte erneut.

Stirnrunzelnd hob Francesca die Kerze und sah in das Gesicht ihrer Großmutter. Ihr Magen krampfte sich vor Entsetzen zusammen.

Die ansonsten milchigweißen Augen ihrer Großmutter waren von einem schwarzen Nebel bedeckt. Fratzenhafte Schatten umschwirrten Fiorella wie ein hungriges Wolfsrudel, umkreisten sie mit weit aufgerissenen Mäulern und berührten sie mit ihren nebelhaften Schlingen.

»Du hast recht, es ist etwas hier im Palazzo«, sagte Fiorella mit Grabesstimme. »Sie kommen.«

Fiorella machte einen Schritt nach vorne. Sie stand nun direkt vor Francesca auf der ersten Stufe.

»Sie kommen und wir helfen ihnen. Glaub mir, Francesca, sie sind unvorstellbar mächtig und können deine geheimsten Träume wahr werden lassen«, flüsterte sie ihr begeistert zu. »Sie haben mir versprochen, alle wieder zurückzuholen.«

»Zurückholen? Wen meinst du denn damit?«

»Meinen Leonardo, meine Cecilia …« Ihr Mund verzog sich zu einem irren Lächeln. »Bald sind wir alle wieder vereint. Dank dem Necronomicon.«

Sie packte brutal Francescas Arm. »Du wirst mir jetzt helfen! Du liest in dem Buch. Wir holen Leonardo und Cecilia zurück.«

Francesca starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. War Fiorella verrückt geworden? Sie schien sich der Unsinnigkeit dessen, was sie gerade von sich gegeben hatte, überhaupt nicht bewusst zu sein.

»Sie sind tot, Nonna. Man kann niemanden aus dem Jenseits zurückholen.«

»Oh doch, das Necronomicon kann es. Sie haben es mir gesagt.«

Fiorellas Fingernägel gruben sich tief in Francescas Arm. Die Hilflosigkeit und der Schmerz trieben ihr die Tränen in die Augen. Was sollte sie tun? Natürlich hätte sie versuchen können, mit ihrer Großmutter zu kämpfen und von ihr loszukommen – aber auch wenn Fiorella im Augenblick nicht bei Sinnen war, so blieb sie doch eine gebrechliche alte Frau. Francesca konnte nicht verantworten, dass sich ihre Großmutter dabei verletzte.

Fieberhaft suchte ihr Verstand nach einer Lösung. Sie musste Zeit gewinnen!

»Du tust mir weh, Nonna. Bitte lass mich los!«

Doch Fiorella ignorierte ihre Worte. Stattdessen verstärkte sie ihren Griff und versuchte, ihre Enkelin nach oben zu zerren.

»Komm mit, du störrisches Gör!«, zischte sie. »Du tust, was ich sage!«

»Nein!«

Francesca klammerte sich mit ihrer freien Hand am Treppengeländer fest. Mit all ihrer Kraft stemmte sie sich gegen ihre Großmutter. Sie presste die Lippen zusammen und die Anstrengung trieb ihr den Schweiß auf die Stirn, doch ihre Finger glitten Zentimeter für Zentimeter vom Geländer ab. Wie konnte ihre Großmutter nur über derart viel Kraft verfügen? In diesem Moment bemerkte Francesca, dass die Schattenfratzen mit ihrem geisterhaften Tanz um Fiorellas Kopf aufgehört hatten und stattdessen ihre nebeligen Schlingen um Fiorellas Arme gewickelt hatten. Das … das war doch nicht möglich. Halfen sie ihr etwa dabei, Francesca vom Geländer loszureißen?

»Bitte, Nonna, zwing mich nicht, in diesem Buch zu lesen«, flehte sie. »Lass mich gehen!«

»Ich kann dich nicht gehen lassen. Du musst anfangen, an das Necronomicon zu glauben. Ansonsten …«

»Ansonsten … was?«, schluchzte Francesca.

Statt einer Antwort krallten sich Fiorellas Nägel noch tiefer in ihr Fleisch. Francesca spürte, wie ihr das Blut über die Haut lief. Der Schmerz durchflutete ihren Arm und Francesca konnte nur mit Mühe ihre Hand daran hindern, die Kerze fallen zu lassen. Das Licht war im Moment ihr einziger Verbündeter. Im Dunkeln wäre sie der blinden Fiorella mit ihren ausgeprägten Sinnen hoffnungslos unterlegen.

Francescas Hand rutschte immer weiter vom Geländer ab, dann verlor sie den Halt. Sie taumelte nach vorne, direkt in die Arme ihrer Großmutter. Noch nie hatte sie dies mit so großem Schrecken erfüllt wie in diesem Augenblick.

»Gianna?«, schrie Francesca verzweifelt auf. »Hallo? Hört mich denn niemand?«

Fiorella stieß ein grausiges Lachen aus. »Es wird niemand kommen, um dir zu helfen. In der Dunkelheit herrschen sie. Im Dunkeln haben sie die Macht und beeinflussen, was geschieht.«

Francesca schloss die Augen. Es war vorbei. Sie hatte verloren. Nun würden Fiorella und diese Wesen der Dunkelheit sie dazu zwingen, im Necronomicon zu lesen. Könnte sie sich dann noch gegen die übernatürliche Anziehungskraft des Buches zur Wehr setzen? Wahrscheinlich nicht. Bald wären auch ihre Augen durchzogen von einem schwarzen Nebel und Francesca wäre umringt von schreienden Schattengesichtern … Dieses Buch besaß unvorstellbar viel Macht. Obwohl niemand von ihnen darin gelesen hatte, hatte sich seine bösartige Aura innerhalb weniger Tage wie ein Virus im Palazzo ausgebreitet und nun hatte es seine Schattenwesen als Häscher ausgesandt.

Sicherlich war Fiorella durch die ständige Nähe des Necronomicons und ihren tiefen Schmerz über den Verlust ihres Mannes und ihrer Tochter ein nicht allzu schweres Opfer gewesen und war den Lockrufen irgendwann erlegen. Aber was würde erst geschehen, wenn Francesca die Worte des Buches laut auszusprechen begann? Sie musste an den letzten Abschnitt denken, den sie sich über das Necronomicon notiert hatte. Öffnete Francesca damit tatsächlich das Portal zu einer Dimension des Bösen? War dieses grauenvolle Wesen, das ihr in Fiorellas Zimmer begegnet war, nur der Anfang gewesen? Im Gleichklang mit dem Hämmern ihres Herzens pulsierte in ihrem Kopf nur ein einziger Gedanke: Dies würde das Ende der Menschheit bedeuten.

Doch Francesca dachte nicht daran, sich wehrlos zu ergeben.

»Nonna, du musst wieder zu dir kommen«, brachte sie mit bebenden Lippen hervor. »Du musst gegen die Macht des Necronomicons ankämpfen!«

Aus einem Impuls heraus griff Francesca in ihre Pyjamatasche. Immerhin besaß sie etwas, von dem sie vermutete, dass es der Kraft des Necronomicons Widerstand bot. Wahrscheinlich hatte sie es nur diesem einen Gegenstand zu verdanken, dass sie bisher gegen die Verlockungen und albtraumhaften Ausdünstungen des Necronomicons immun geblieben war. Aber ob er auch Fiorella helfen konnte? Sie musste es versuchen – es war ihre einzige Hoffnung!

Mit einem beherzten Schritt trat sie so nah wie möglich an ihre Großmutter heran und presste die Traumgondel an Fiorellas Schläfe. Die prompte Reaktion überraschte Francesca. Die fratzenhaften Schatten wichen kreischend von Fiorella zurück und sofort lockerte sich der Griff um Francescas Arm.

»Was …?« Der Ausdruck in Fiorellas Gesicht war der eines Menschen, der nicht begreift, was um ihn herum geschieht.

»Leonardo und Cecilia sind tot«, wiederholte Francesca eindringlich. »Du darfst sie nicht zurückholen. Lass ihre Seelen in Frieden ruhen!«

»Tot … ja, tot«, stammelte Fiorella benommen. »In Frieden ruhen …«

Der schwarze Nebel in Fiorellas Augen begann sich zu lichten und auch die Finsternis im Flur zog sich zurück. Mit jeder Sekunde wurde es um sie herum heller.

Fiorella stand benommen auf dem obersten Treppenabsatz.

»Was ist passiert?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Warum stehen wir denn mitten in der Nacht im Flur herum?« Sie schüttelte ratlos den Kopf. »Werde ich so langsam altersdement?«

»Nein, Nonna.« Francesca lachte vor Erleichterung auf. Es war wieder die gewohnte Stimme ihrer Großmutter – ohne jeglichen bösartigen Unterton. »Du bist völlig klar und gesund, glaub mir!«

Nach einem letzten Zögern strafften sich Fiorellas Schultern wieder und ein schelmisches Lächeln überzog ihr Gesicht.

»Nun gut, wenn wir schon mal hier sind, können wir auch gleich zu einem Mitternachtsimbiss in die Küche gehen und du erzählst mir, was passiert ist. Meine Güte, habe ich einen Hunger, ich könnte einen ganzen Kuchen verdrücken.«

»Okay, da bin ich dabei!«

Francesca ließ sich glücklich auf eine der Stufen sinken. Sie konnte es kaum glauben – sie hatte es geschafft! Ihre Großmutter war wieder zu sich gekommen.

Doch sie hatte sich zu früh gefreut. Ein einzelner Schatten war anscheinend nicht bereit, von Fiorella abzulassen. Im Schutze des letzten Zwielichts stürmte eine schwarze Fratze mit aufgerissenem Maul auf Fiorella zu. Der Schatten umschwirrte sie wie eine wütende Wespe und begann, sie von allen Seiten zu attackieren. Obwohl Fiorella ihn nicht sehen konnte, schien sie ihn zu spüren. Den Bewegungen des Schattens folgend drehte sie sich ruckartig nach links und rechts, schlug wie wild mit ihren Armen um sich, begann zu taumeln und – verlor das Gleichgewicht!

Sofort sprang Francesca auf und versuchte, nach Fiorellas Hand zu greifen.

Einen winzigen Moment lang spürte sie Fiorellas pergamentdünne Haut und die Wärme ihrer Finger … dann entglitt sie ihr.

»Nonna!«

Francescas panischer Schrei hallte durch den Palazzo.

Wie in Zeitlupe sah sie ihre Großmutter die Treppe hinunterstürzen. Bei jeder Stufe, auf die Fiorella aufschlug, presste Francesca die Augen zusammen, doch sie konnte das Brechen der Knochen hören.

Dann war es plötzlich still.

Entsetzt sah Francesca nach unten.

Umrahmt von einem Schleier weißer Haare lag Fiorella am Fuß der Treppe, neben sich ihre geliebte schwarze Stola.

»Nonna?«, wisperte Francesca.

Ihre Großmutter regte sich nicht. Hinter sich hörte Francesca die Stimmen der heraneilenden Familienmitglieder, doch sie bedachte sie nicht mit einem einzigen Blick.

Francesca stolperte die Stufen hinab und fiel neben Fiorella auf die Knie. Ihre Augen waren geschlossen.

Vorsichtig bettete Francesca den Kopf ihrer Großmutter auf ihren Schoß.

»Nonna, bitte wach wieder auf!«

Heiße Tränen liefen über ihre Wangen. Ihr Herz wurde von einem solch tiefen Schmerz zusammengezogen, wie sie ihn noch nie zuvor verspürt hatte.

Sie strich ihr liebevoll über die langen weißen Haare und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Bitte nicht …«, schluchzte sie auf. »Nicht … sterben …«