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Jetzt spring doch endlich!«, rief Gianna mit sich vor Panik überschlagender Stimme.
Das war wahrscheinlich ihre einzige Chance! Wenn Francesca schnell genug war, konnte sie die Traumgondel vor Nyarlath in Sicherheit bringen.
Sie stieß sich ab und ließ sich rücklings von der Brücke fallen. Aber es war zu spät. Sie sah es am triumphierenden Funkeln in Nyarlaths Augen. Schon hielt er die Traumgondel wie einen Siegerpokal in seiner Hand, aber Francesca war zu weit entfernt, um danach greifen zu können.
Sie landete auf den im Boot ausgebreiteten Planen und Schwimmwesten, trotzdem war der Aufprall so hart, dass es ihr die Luft aus den Lungen presste. Lichtpunkte begannen vor ihren Augen zu tanzen, dennoch konnte sie erkennen, wie Nyarlath auf der Brücke die Traumgondel zwischen seinen Fingern zerquetschte und die Bruchstücke achtlos in den Kanal fallen ließ. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.
»Francesca?« Wie aus weiter Ferne drang Giannas Stimme in ihr Bewusstsein und hielt sie davon ab, tiefer in die traumlose Dunkelheit hinabzugleiten. »Hast du dir etwas gebrochen? Hat er dir wehgetan? Jetzt sag doch bitte etwas!«
Francesca hob mühsam die Augenlider und sah in die besorgten Gesichter von Gianna und Matteo. Stöhnend versuchte sie, sich aufzurichten.
»Bleib lieber noch einen Moment liegen!«, hielt Matteo sie davon ab. »Du bist so käsig wie Parmesan.«
»Du hast vergessen, zu rülpsen«, murmelte Francesca benommen.
»Ein Mann muss Prioritäten setzen können«, verkündete er selbstbewusst, ohne eine Miene zu verziehen. Er blickte über die Schulter zurück auf die im Nebel liegende Brücke. »War das wirklich ein Tourist? Der Typ sah total unheimlich aus. Ich glaube, ich hätte mir vor Angst in die Hosen gemacht, wenn der mich durch halb Venedig verfolgt hätte.«
Stirnrunzelnd drehte Francesca den Kopf zu Gianna.
»Das habe ich euch doch schon alles erzählt«, beeilte sich Gianna zu sagen. »Dieser Kerl ist verkleidet aus einem Maskengeschäft herausgekommen, mit uns zusammengestoßen und dann hat er behauptet, wir hätten ihn ausrauben wollen.«
Verstohlen zwinkerte Gianna ihr zu und Francesca musterte sie mit einer Mischung aus Überraschung und Bewunderung. Sie hätte nicht erwartet, dass ihre Cousine sich trotz der drohenden Gefahr eine derart plausible Lügengeschichte hatte ausdenken können.
»Diese Touristen werden auch immer verrückter«, knurrte Luca vom Steuer aus. In seiner ansonsten so herablassenden Miene spiegelten sich Sorge und Mitgefühl. Anscheinend hatte es auch ihn nicht völlig kaltgelassen, seine Cousine rücklings von einer Brücke fallen zu sehen.
Francesca stellte fest, dass das Schwindelgefühl nachgelassen hatte. Sie richtete sich auf und tastete sich vorsichtig ab. Bis auf ihr schmerzendes Handgelenk schien sie keine Verletzungen davongetragen zu haben. »Wie habt ihr mich eigentlich gefunden?«
»Als ich im Palazzo angekommen bin, sind Luca und Matteo gerade aus Murano zurückgekommen«, erklärte Gianna. »Ich habe ihnen erzählt, in welchen Schwierigkeiten du steckst, und dann haben wir uns sofort auf die Suche nach dir gemacht.« Sie seufzte erleichtert auf. »Offen gestanden hätte ich nicht erwartet, dass wir dich so schnell finden. Es war wirklich großes Glück, dass du schon in der Nähe des Palazzos warst!«
»Danke!«
Francesca kämpfte mit den Tränen. Dass die drei trotz des dichten Nebels bereit gewesen waren, die ganze Stadt nach ihr abzusuchen, rührte sie mehr, als sie sich im ersten Moment hatte eingestehen wollen. »Das … das war echt lieb von euch«, schniefte sie.
Matteo winkte ab. »Hey, wir sind doch eine Familie – wir lassen niemanden im Stich!«
Gianna, Matteo und Francesca fielen sich in die Arme, nur Luca stöhnte genervt auf und machte angesichts der rührseligen Szene lautstarke Würgegeräusche. Anscheinend war er nun wieder ganz der Alte.
»Denk nur nicht, dass das jetzt zur Gewohnheit wird«, bluffte er Francesca an. »Du hast mich wegen der zusammengeleimten Bücher nicht bei meinen Eltern verpfiffen und ich habe dir bei diesem Spinner geholfen. Jetzt sind wir quitt. Klar, Hexe?«
Francesca seufzte ergeben auf. »Ja, ist klar!« Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn Luca seine neu entdeckten sympathischen Charakterzüge beibehalten hätte. Aber immerhin wussten sie nun, dass auch er eine nette Seite haben konnte.
Vor ihnen tauchte das Ca’nera aus dem Nebel auf und noch nie war Francesca so froh über den Anblick des verfallenen Palazzos gewesen wie in diesem Augenblick.
»… wurde Venedig in der vergangenen Nacht von mehreren Erdstößen erschüttert«, quäkte die Stimme aus dem Radio. »Nach der europäischen makroseismischen Skala erreichten die Beben dabei maximal die Stärke vier. Obwohl es sich somit um relativ leichte Beben gehandelt hat, macht sich in Venedig Panik breit. Hoteliers berichten, dass heute Morgen schon vor dem Frühstück die ersten Touristen abgereist sind.«
Fiorella drehte das Radio auf ihrem Nachttisch ab und ließ sich stöhnend auf ihr Kopfkissen zurücksinken. »Und du meinst wirklich, dass dein Verfolger von gestern Abend diese Erdstöße verursacht hat?«
Francesca nickte unglücklich.
»Kann Venedig durch die Beben denn tatsächlich im Meer versinken?«, fragte sie voller Sorge. »Die Stadt steht doch nicht ausschließlich auf Baumstämmen, sondern teilweise auch auf Inseln.«
»Das stimmt, aber deswegen sind diese Teile Venedigs nicht automatisch sicherer.« Fiorella hob hilflos die Hände. »Meine Eltern haben mir erzählt, dass in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Fischer plötzlich antike Vasen, Statuen und andere Gegenstände in ihren Netzen gefunden haben. Es stellte sich heraus, dass die Sachen von der Insel Metamauco stammten.«
»Metamauco?«, wiederholte Francesca irritiert. »Von dieser Insel habe ich noch nie gehört.«
»Metamauco ist nach einem Seebeben 1110 vor dem Lido auf dem Meeresgrund versunken.«
Francesca sackte in sich zusammen. Das bedeutete, dass es Venedig genauso ergehen konnte.
Sie fuhr sich über die brennenden Augen. Ihr Körper fühlte sich schwer an vor Erschöpfung. Sie hatte die ganze Nacht über kein Auge zugemacht. Nicht nur, weil jeder neue Erdstoß sie an Nyarlaths Drohung erinnerte, sondern auch, weil sie es nicht wagte, ohne die Traumgondel zu schlafen. Was würde geschehen, wenn sie Nyarlath im Schlaf begegnete? Wenn Francesca tatsächlich im Traum nicht lügen konnte, würde der Dämon sicherlich sofort herausfinden, dass Francesca das Necronomicon schon längst in ihrem Besitz hatte – und dann wäre ihr einziger Vorteil dahin.
Fiorella tastete nach Francescas Hand und drückte sie ermutigend. »Gemeinsam werden wir einen Weg finden, diesen Dämon auszutricksen! Du hast bisher alles so großartig gemeistert, Francesca, besser, als ich es je erwartet hätte. Ich werde nicht noch einmal den Fehler machen, nicht auf dich zu hören.« Sie ballte mit kampfbereiter Miene die Faust. »Jedenfalls scheine ich gerade rechtzeitig heimgekommen zu sein. Zusammen werden wir diesem Nylatzki in den Hintern treten!«
Gegen ihren Willen musste Francesca auflachen. »Nyarlath, Nonna, er heißt Nyarlath.« Sie wurde wieder ernst. »Meinst du, es war wirklich klug, das Krankenhaus auf eigene Verantwortung zu verlassen?«
Natürlich war sie dankbar, dass Fiorella wieder zu Hause war. Trotzdem sah ihre Großmutter mit dem eingegipsten Arm und der erschreckend blassen Gesichtsfarbe nicht wirklich gesund aus.
Fiorella winkte ab. »Von der Gehirnerschütterung merke ich überhaupt nichts mehr und wegen des gebrochenen Armes brauche ich auch nicht dortzubleiben«, verteidigte sie ihre Entscheidung. »Weißt du, ich hasse Krankenhäuser. Es ist immer wieder das Gleiche: Man geht wegen einer Kleinigkeit hin und kommt todkrank wieder heraus.«
Francesca stutzte. Gerade als sie fragen wollte, was Fiorella damit gemeint hatte, ging die Tür auf und Stella kam mit einem Tablett herein.
»Ich bringe die Medikamente und eine kleine Stärkung für dich, Mama«, flötete sie betont fröhlich.
Sie stellte das vollbeladene Tablett auf dem Glastisch ab. Francesca fiel auf, dass Stella rot geränderte Augen hatte, als ob sie geweint hätte. »Viola und ich müssen jetzt leider ins Restaurant. Francesca, du kümmerst dich darum, dass deine Großmutter alle vier Stunden die Schmerzmittel nimmt?«
»Natürlich! Gianna und ich haben doch versprochen, dass wir Nonna versorgen. Mach dir keine Sorgen!«
Stella sah sich suchend um. »Wo ist Gianna eigentlich?«
»Sie hat sich aus dem Staub gemacht, nachdem Nonna verkündet hat, dass ihr heute jemand die Zehennägel schneiden muss«, erklärte Francesca zerknirscht.
Zum ersten Mal stahl sich ein echtes Lächeln in Stellas Gesicht. »Das müsst ihr natürlich nicht machen!«, schnaubte sie amüsiert auf. Sie ging zum Bett, umarmte Fiorella und gab ihr einen Kuss. »Mama, du sollst die Kinder doch nicht immer veräppeln«, flüsterte sie ihr zu.
»Ist gut, ich werde es mir verkneifen«, versprach Fiorella überraschend einsichtig.
»Ihr kümmert euch gut um eure Großmutter, nicht wahr? Meinst du, das geht mit deinem Handgelenk?«
Francesca nickte und hob ihre bandagierte Hand in die Höhe. »Es ist ja nur eine Verstauchung. Außerdem hat Antonio so einen festen Verband gemacht, dass ich überhaupt nichts mehr spüre, nicht einmal meine Finger.«
»Wenn etwas sein sollte, ruft bitte sofort an!«
Stella öffnete die Tür und stieß um ein Haar mit Gianna zusammen, die nun mit geröteten Wangen ins Zimmer gestürmt kam.
»Ist irgendetwas?«, fragte Francesca irritiert. »Hast du etwas herausgefunden?«
Gianna versicherte sich mit einem kurzen Blick, dass die Tür geschlossen war, ehe sie verkündete: »Ich habe mir alles, was gestern Abend geschehen ist, noch einmal durch den Kopf gehen lassen und einen Entschluss gefasst.« Sie holte ein Buch hervor, das sie hinter ihrem Rücken versteckt hatte.
Francesca schnappte entsetzt nach Luft. »Du hast das Necronomicon aus dem Koffer geholt? Bist du verrückt geworden?«
Gianna reckte trotzig ihr Kinn. »Wie gesagt, ich habe nachgedacht und wir haben überhaupt keine andere Wahl, als diesem Nyarlath das Buch zu übergeben. Deswegen sollten wir es am besten so schnell wie möglich hinter uns bringen, ehe die Erdbeben noch schlimmer werden. Ich lasse nicht zu, dass Venedig wegen dieses Buches untergehen wird!«
Francesca schüttelte langsam den Kopf. Das war genau die Reaktion, die Nyarlath erwartet hatte. Sie wusste, wie sehr sich Gianna mit Venedig verbunden fühlte – das zeigten allein schon die vielen Bilder, die sie von der Stadt gezeichnet hatte und die sorgfältig gerahmt in ihrem Zimmer hingen. Doch sie durften nicht in blinde Panik verfallen!
»Gianna, jetzt beruhige dich bitte! Wir haben noch bis morgen Abend Zeit. Bis dahin können wir vielleicht herausfinden, wie wir den Fluch aufheben können.«
»Ach ja? Und was ist, wenn er bemerkt, dass du ihn belogen hast?«, fragte Gianna bissig. »Oder hast du etwa immer noch vor, bis dahin nicht mehr zu schlafen?«
Francesca schluckte schwer. Das war in der Tat ein Schwachpunkt ihres Plans. Immerhin hatte sie schon die zweite Nacht in Folge nicht geschlafen. Gianna hatte ihr die Zeichen der Traumgondel zwar auf einen Zettel gemalt, aber Francesca traute diesem Provisorium nicht. Was, wenn es nicht funktionierte? Wobei die Verlockung, es einfach auszuprobieren, stetig größer wurde. Die Müdigkeit zog an jedem Muskel ihres Körpers wie mit bleiernen Fäden. Zu gern hätte sie sich einfach ins Bett gelegt und für einen kurzen Moment die Augen geschlossen.
»Ich schaffe das«, murmelte Francesca.
»Das wirst du garantiert nicht! Wir dürfen nichts riskieren und deswegen übergibst du ihm noch heute das Necronomicon!«
So langsam riss Francesca der Geduldsfaden. »Was glaubst du eigentlich, warum er dieses Buch unbedingt haben möchte?«, fuhr sie Gianna an. »Mit Sicherheit nicht, weil er ein leidenschaftlicher Büchersammler ist. Er hat etwas damit vor und zwar nichts Gutes. Wir wissen mittlerweile alle, wie mächtig dieses Buch ist und in den falschen Händen kann es zu einer gefährlichen Waffe werden. Die Zeit, die uns bleibt, müssen wir dazu nutzen, nach einem Ausweg zu suchen! Vielleicht finden wir in Knüttelsiels Abhandlung etwas, das uns weiterhilft.«
Die vergangene Nacht hatte Francesca damit verbracht, die Abhandlung zu studieren. Nach jahrelanger Recherche hatte Professor Knüttelsiel einen Sammler ausfindig gemacht, der fünf einzelne Seiten des Necronomicons in seinem Besitz hatte, die wie durch ein Wunder der Vernichtung entgangen waren.
Der Professor führte damit einige Experimente durch und fand beispielsweise heraus, dass Kinder weniger empfänglich für die Kräfte des Necronomicons waren. Er war der Überzeugung, dass es sich bei den Schriftzeichen des Necronomicons um eine uralte vergessene Sprache handelte. Mithilfe von Steintafeln, die er in der Wüste gefunden hatte, versuchte er sich sogar an einer Übersetzung. Knüttelsiel glaubte, dass es sich um eine unvorstellbar machtvolle Sprache handelte, die alles Böse in sich vereinte – doch es gab darunter auch einige gute Schriftzeichen, die die schlechten neutralisieren konnten. Knüttelsiel führte mit den fünf Seiten des Necronomicons sogar eine, wie er beteuerte, gefahrlose Beschwörung durch, bei der er ein Spiegelpentagramm mit eben diesen guten Zeichen benutzte.
Er hatte die Theorie, dass das Necronomicon den »Jenseitigen« ein Portal in unsere Welt öffnen sollte. Dabei handelte es sich um eine Art dämonische Albtraumwesen, die nur im Dunkeln existieren und sich in menschliche Träume einschleichen konnten. Doch damit sie vollständig in unsere Welt gelangen konnten, musste ein Mensch das Necronomicon benutzen.
»Hier!« Sie reichte Gianna ein Blatt mit ihren Notizen. »Der Professor ist ganz und gar kein Spinner. Einiges, was in den letzten Tagen hier geschehen ist, wird in seiner Abhandlung exakt beschrieben.«
Die Macht des Necronomicons wird in dem schwarzen Nebel sichtbar, mit dem es seine Umgebung abtastet. Umhüllt der Nebel erst einen Menschen, hört er die Stimme des Necronomicons in seinem Kopf. Sie lockt ihn und treibt ihn in den Wahnsinn. Kann die Macht des Buches nicht eingedämmt werden, dann wird der Weg für die Jenseitigen bereitet. Wer sich länger in der Nähe des Necronomicons aufhält, wird fremdartige Schattenwesen in seinem Zimmer umhergehen sehen, Furcht einflößende Geräusche und den Geruch von Fäulnis und Verwesung wahrnehmen. Es wird den ersten Jenseitigen gelingen, durch das Portal zu treten, allerdings nur für kurze Dauer und mit einem Bruchteil ihrer eigentlichen Macht.
Deswegen sucht das Necronomicon nach einem geeigneten Leser, der das Dimensionsportal öffnet, indem er die Jenseitigen in Gestalt von Fluchdämonen in unsere Welt holt. Doch das Necronomicon entreißt dem Leser seinen freien Willen, seinen Verstand, seine Menschlichkeit. Der Mensch wird zu einer Marionette, die es steuern kann.
Gianna überflog die Notizen mit hochgezogenen Augenbrauen. »Das meiste davon habe ich schon gestern in der Bibliothek gelesen.« Sie schleuderte den Zettel zurück auf den Schreibtisch. »Das bringt uns keinen Schritt weiter!«
»Ich glaube doch!«, widersprach Francesca mit schneidender Stimme. Giannas herablassende Art ging ihr gewaltig auf die Nerven. »Nyarlath wollte mich mit seiner Drohung nur unter Druck setzen. Er kann Venedig nicht zerstören, ansonsten hätte er es schon längst getan. Aber sobald er den Fluch erfüllt hat, hört er auf, in dieser Welt zu existieren. Doch er will leben. Deswegen braucht er auch das Buch: Er muss es jemandem geben, der dazu bereit ist, die Flüche des Necronomicons zu benutzen. Je mehr Flüche ausgesprochen werden, umso größer wird das Portal – erst dann können er und seine Brüder ungehindert von einer Welt in die andere wechseln.«
Bohrende Zweifel lagen in Giannas Blick. »Woher willst du wissen, dass das wirklich stimmt? Wo ist der Beweis? Du klammerst dich an irgendwelche Vermutungen. In Wirklichkeit hast du nur Angst, dass du ohne das Buch nicht mehr den Fluch der Medicis von dir abwenden kannst! Die Gefahr, in der sich Venedig befindet, ist dir dabei vollkommen egal. Aber etwas anderes war ja wohl nicht zu erwarten«, fügte sie kaum hörbar hinzu.
Francesca stutzte. »Was willst du denn damit sagen?«
»Was ich damit sagen will?«, rief Gianna völlig außer sich. »Du willst riskieren, dass dieser Dämon Venedig zerstört, unsere Heimat. Meine Heimat. Dir ist es egal, ob all das hier –«, sie machte eine allumfassende Geste mit der Hand, »auf dem Meeresgrund versinkt. Du und deine Mutter seid doch gar kein richtiger Teil unserer Familie – ihr kommt immer nur her, wenn es euch gerade in den Kram passt. Du bist nicht einmal hier geboren. Hier ist nicht dein Zuhause.« Tränen funkelten in ihren Augen. »Aber ich lasse nicht zu, dass wegen dieses elenden Buches Venedig untergeht!« Sie schleuderte das Necronomicon voller Wut auf den Boden.
Francesca taumelte zurück. Sie fühlte sich, als hätte ihr Gianna soeben eine Ohrfeige verpasst. Nie hätte sie erwartet, dass Gianna so von ihr dachte. Dabei hatte ihre Cousine nur das ausgesprochen, was sie selbst schon immer gespürt hatte. Warum also versetzten ihr Giannas Worte so einen tiefen Stich?
»Schluss jetzt, ihr beiden!«
Erschrocken sahen die Mädchen zu Fiorella hinüber, die trotz der streng verordneten Bettruhe aufgestanden und zu dem am Boden liegenden Necronomicon gelaufen war. Schwerfällig bückte sie sich nach dem Buch.
Sofort meldete sich in Francesca das schlechte Gewissen. Sie stritten hier herum, während ihre Großmutter eigentlich Ruhe brauchte – dabei hatte sie Stella eben noch versprochen, dass sie sich gut um Nonna kümmern würde! Fiorella wankte zum Bett zurück und ließ sich auf den Rand sinken.
»Ob es uns gefällt oder nicht, wir besitzen dieses Buch und damit tragen wir eine große Verantwortung«, sagte sie mit vor Anstrengung brüchiger Stimme. »Deswegen gebe ich Francesca recht: Wir müssen gut überlegen, wie wir weiter vorgehen. Vor allem dürfen wir unsere Zeit nicht mit Streitigkeiten verplempern.« Sie setzte eine erwartungsvolle Miene auf. »Gianna, ich denke, du hast deiner Cousine etwas zu sagen!«
Gianna hielt die Arme vor der Brust verschränkt und einen Moment lang schien es so, als hätte sie Francesca nicht das Mindeste zu sagen. Fiorella trommelte ungeduldig auf das Buch, das auf ihren Knien lag. Schließlich ließ Gianna geschlagen die Arme sinken.
»’tschuldigung«, sagte sie leise.
»Francesca?«
Francesca schluckte schwer. »Mir tut es auch leid.«
Fiorella nickte zufrieden. »Gut, dann ist die Sache hiermit geklärt.«
Sie hob das Buch in die Höhe. »Nun sollten wir …« Fiorella hielt inne und runzelte die Stirn. Sie fuhr mit ihren Fingern den Buchrücken entlang.
»Was ist denn das?«, murmelte sie kaum hörbar.
Francesca trat neben sie. »Hast du etwas gefunden?«
»Hier ist etwas im Leder eingeprägt«, meinte Fiorella und betastete intensiv den unteren Teil des Buchrückens. »Das … das ist unser Wappen. Das Wappen der Medicis.«
Nun beugte sich auch Gianna über das Buch. »Ich sehe überhaupt nichts.«
»Heilige Madonna, seid ihr blind oder ich?«, knurrte Fiorella ungeduldig. »In meinem Schreibtisch müsste eine Lupe sein, aus der Zeit, als ich noch einen Rest meiner Sehkraft hatte.«
Die Mädchen zogen hektisch alle Schubladen auf. Es dauerte quälend lange, bis sie die besagte Lupe gefunden hatten. Atemlos traten sie mit dem Buch zum Fenster, um besser sehen zu können. Im hellen Tageslicht entdeckte Francesca tatsächlich eine Einprägung, die ihr bisher nicht aufgefallen war. Einst war sie wohl in goldener Farbe gezeichnet gewesen, denn in den Vertiefungen leuchteten noch winzige Farbsprenkel. Unter der Lupe war eindeutig ein Schild zu erkennen, in dem fünf Kugeln schwebten, gekrönt von einer weiteren Kugel, in die drei Lilien eingefasst waren.
Zugegeben, die Lilien waren nur mit sehr viel Fantasie zu erkennen, trotzdem war es zweifellos das Wappen der Medicis.
»Das gibt es doch nicht …«, hauchte Gianna.
Francesca ließ die Lupe sinken. »Das Necronomicon ist unser Buch.«
Hatte Nyarlath ihr nicht erzählt, dass dieses Buch immer wieder in die Hände eines Medicis zurückkehren würde? Nun wusste sie auch, weshalb dies so war. Einer ihrer Vorfahren hatte dieses teuflische Buch auf die Medici-Familie geprägt!
»Sieh mal, unter dem Wappen steht noch etwas«, stellte Gianna fest.
Francesca beugte sich so dicht über die Lupe, dass sie fast mit der Nase daran stieß.
»Es sind Buchstaben: ›A. D. M.‹. Das könnten Initialen sein.«
»Aber wie finden wir heraus, für welchen Namen sie stehen?« Gianna wandte sich zu Fiorella. »Nonna, kennst du einen Medici mit diesen Anfangsbuchstaben?«
Fiorella schnaubte auf. »Ich weiß ja nicht, für wie alt du mich hältst, Kindchen – aber in Anbetracht dessen, dass dieses Buch jahrhundertelang auf dem Grund eines Kanals lag, kann ich sicher behaupten, dass mir ein A. D. Medici nicht persönlich bekannt ist.«
Francesca ließ die Schultern hängen. Bedeutete das nun, dass ihre einzige neue Spur sofort im Nichts endete? Man musste doch irgendwie herausfinden können, wer dieser A. D. Medici war. Wie und unter welchen Umständen war er in den Besitz des Necronomicons gekommen?
»Es muss doch irgendwo alte Dokumente geben oder so etwas wie einen Familienstammbaum?«
»Nicht hier im Palazzo«, musste Fiorella sie enttäuschen. Doch schon einen Moment später hellte sich ihr Gesicht auf. »Aber ich weiß, wo wir suchen können – im Staatsarchiv von Venedig!«
Im Staatsarchiv wurde jeder noch so kleine Fetzen Papier zu Venedigs Vergangenheit aufbewahrt. Jahrhundertealte Notariatsakten, Dokumente zu den Anfängen der doppelten Buchführung, Land- und Seekarten, Hunderte von Eichmaßen und sogar Unfallberichte wurden dort für die Nachwelt archiviert.
Zu jeder großen Familie Venedigs gab es ein Familienarchiv und einige Stammbäume konnte man bis zur Gründung der Republik nachverfolgen. Wenn es einen Ort gab, wo man etwas über einen A. D. Medici herausfinden konnte, dann im Staatsarchiv.
»Aber kommen wir dort einfach so hinein?«, fragte Gianna unsicher.
»Der Direktor des Staatsarchivs, Silvio Salvatori, war ein Freund eures Großvaters. Obwohl er einige Jahre jünger als Leonardo war, haben sich die beiden prächtig verstanden und viele Abende mit einer Flasche Chianti und Gesprächen über Venedigs Geschichte verbracht. Wenn ich ihn anrufe, erlaubt er den Enkelinnen seines alten Freundes sicherlich gerne, ihren Stammbaum zu erforschen. Jedenfalls hoffe ich, dass Silvio noch nicht in Pension gegangen ist …«
Tatsächlich kostete es Fiorella nur ein kurzes Telefonat, und als sie Gianna ihr Handy wieder zurückgab, strahlte sie übers ganze Gesicht. »Bene! Ihr könnt sofort zum Staatsarchiv gehen, Silvio erwartet euch. Ich ruhe mich solange etwas aus.«
Gianna warf ihr einen besorgten Blick zu. »Können wir dich wirklich alleine lassen?«
»Warum? Wollt ihr noch ein bisschen neben meinem Bett herumschreien, damit ich besser einschlafe?«, fragte Fiorella schnippisch.
Gianna räusperte sich peinlich berührt. »Nein, natürlich nicht. Ich bringe schnell das Necronomicon zurück und verstaue es im Koffer, dann können wir gehen.«
Als sie das Zimmer verlassen hatte, griff Fiorella nach Francescas Hand.
»Du nimmst doch nicht ernst, was Gianna vorhin zu dir gesagt hat, oder?«
Francesca starrte einen Moment lang schweigend auf ihre Knie. »Ich weiß nicht, vielleicht hat sie recht«, erwiderte sie verunsichert. »Vielleicht gehöre ich wirklich nicht hierher.«
»Hühnerkacke!«, entfuhr es Fiorella so inbrünstig, dass Francesca vor Überraschung der Mund offen stehen blieb. »Natürlich gehörst du hierher. Ich verspreche dir, dass du eines Tages spüren wirst, dass hier deine Heimat ist. Manchmal braucht das Herz eben etwas Zeit, bis es weiß, wo es hingehört. So einen Quatsch will ich nicht mehr aus deinem Mund hören, verstanden?«
Francesca brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Verstanden!«
Sie wollte sich gerade erheben, als Fiorella sie erneut zurückhielt. »Da wäre noch etwas. Es geht um deine Mutter«, setzte sie umständlich an. »Du hast doch Isabella von meinem Unfall erzählt, oder?«
»Natürlich, ich habe sie gleich danach vom Krankenhaus aus angerufen.«
Als sie ihrer Mutter am Telefon davon berichtet hatte, war sie so geschockt gewesen, dass sie minutenlang kaum ein vernünftiges Wort von sich hatte geben können.
»Und – kommt sie nach Venedig?«, fragte Fiorella hoffnungsvoll.
Francesca runzelte verständnislos die Stirn. »Aber ich sollte ihr doch ausrichten, dass sie nicht kommen soll.«
Fiorella schwieg und kniff die Lippen zusammen.
»Oder nicht?«, hakte Francesca nach.
»Schon. Aber es hätte ja sein können, dass sie sich nicht davon abhalten lässt, zu kommen.«
Francesca stöhnte innerlich auf. Also hatte Fiorella in Wahrheit gehofft, dass sich ihre Tochter voller Sorge umgehend in das nächste Flugzeug setzt.
»Meinst du, ich habe nicht bemerkt, dass Isabella so selten wie möglich nach Venedig kommt?«, fuhr Fiorella in bitterem Ton fort. »Weißt du, ich habe darüber nachgedacht, was du mir an dem Nachmittag vor meinem Unfall an den Kopf geworfen hast. Schon als deine Mutter klein war, sind wir immer aneinandergeraten. Sie ist nicht wie meine anderen Töchter. Nie wollte sie sich etwas sagen lassen, der kleine Sturkopf.« Ein wehmütiger Ausdruck legte sich über Fiorellas faltige Gesichtszüge. »Isabella ist wie ein Vogel, den man nicht einsperren darf und der seine Freiheit braucht. Vielleicht … hätte ich nicht so streng zu ihr sein dürfen.« Ihre Stimme war plötzlich voller Wärme und Liebe. »Weißt du, was das Verrückte daran ist? Trotz all unserer Streitereien ist mir Isabella die Liebste von allen.«
»Ich glaube, sie vermisst dich auch sehr. Du könntest ja vielleicht einmal mit ihr reden?«
»Ich?«, fragte Fiorella entrüstet. Augenblicklich kniff sie wieder ihre Lippen zusammen. »Sie ist meine Tochter. Wenn sie etwas von mir will, dann soll sie zu mir kommen. Ich bin jederzeit bereit, ihre Entschuldigung anzunehmen.«
Francesca schüttelte fassungslos den Kopf. Das war ja wirklich zum Verzweifeln!
»Nonna, nimm es mir bitte nicht übel«, sie tätschelte liebevoll die Hand ihrer Großmutter, »aber das ist mir jetzt wirklich zu blöd. Ich mach mich jetzt mit Gianna auf den Weg. Wir müssen Venedig retten.«
Als sie eiligen Schrittes das Zimmer verließ, hallte ihr Nonnas wutschnaubendes Gezeter, in dem immer wieder die Worte »rotzfrech« und »demnächst übers Knie legen« vorkamen, bis in den Flur hinterher.
Silvio Salvatori ging vor ihnen einen der endlos langen Flure entlang, in dem sich zu beiden Seiten Regale bis zur Decke erhoben. Der muffige Geruch von alten Akten und Staub erfüllte die Luft und Francesca hatte das Gefühl, dass dies ein Ort war, an dem die Zeit stehen geblieben war. Salvatori war ein kleiner, rundlicher Mann, dessen kurz geschorenes weißes Haar kaum noch zu sehen war. Er stand tatsächlich kurz vor seiner Pensionierung, doch trotz seines fortgeschrittenen Alters hatte er wache, aufmerksame Augen.
»Ich habe euren Großvater kennengelernt, gleich nachdem ich Direktor des Staatsarchivs geworden bin. Meine Güte, wie lange ist das nun her? Das war neunzehnhundert…« Er blieb einen Moment lang nachdenklich stehen, doch dann zuckte er mit den Schultern. »Ach herrje, ich bin ein vergesslicher alter Mann geworden und sollte wohl besser ein Archiv über die Daten meines eigenen Lebens führen.« Er stieß ein belustigtes Lachen aus, das sein Doppelkinn fröhlich auf und ab hüpfen ließ. Gianna und Francesca, die seinen Scherz nicht ganz so gelungen fanden wie er selbst, setzten ein höfliches Lächeln auf. Wahrscheinlich wurde man zwangsläufig etwas wunderlich, wenn man das ganze Leben nur mit dem Sortieren von Akten verbracht hatte.
Salvatori führte sie in sein Büro. Auf einem kleinen Tisch hatte er schon einen schwarzen Aktenschuber bereitgelegt, auf dem in großen Buchstaben »Medici« stand. Auch in Salvatoris Büro standen in jedem verfügbaren Winkel Regale voller Akten, was den Raum düster und trostlos wirken ließ. Das einzig farbenfrohe waren kunstvoll gefertigte Tierfiguren aus bunt schillerndem Glas, die sich auf dem Fensterbrett wie zu einer fröhlichen Parade reihten.
Salvatori grinste jungenhaft, als er Francescas Blick auffing. »Murano-Tierfiguren – eine kleine Marotte von mir«, erklärte er. »Als Kind wollte ich immer Zirkusdirektor werden.«
Mit einer feierlichen Geste öffnete er den Schuber. »Hier seht ihr die gesammelte Geschichte eurer venezianischen Vorfahren vor euch. Lückenlos recherchiert, was wir vor allem Leonardo zu verdanken haben.«
»Unserem Großvater?«, fragte Francesca verblüfft.
»Oh ja, er hat sich sehr für die Geschichte eurer Familie interessiert und viele Stunden im Archiv verbracht. Er war sogar noch am Tag seines Unfalls hier und hat einige Dokumente durchgearbeitet. Es war so eine tragische Geschichte!« Salvatori seufzte betrübt auf. »Leonardo würde es sicherlich freuen, wenn er wüsste, dass sich nun auch seine Enkelkinder für die Familienhistorie interessieren. Auch wenn die Medici-Familie in Venedig bedauerlicherweise nie eine große Rolle gespielt hat.«
»Aber ich dachte, bevor die Medicis verarmten, wären sie eine einflussreiche Familie gewesen«, warf Gianna ein. »Immerhin hatten sie Geld genug, um den Palazzo zu bauen.«
»Geld ist nicht gleichbedeutend mit Einfluss und Macht«, sagte Salvatori mit belehrend erhobenem Zeigefinger. »Es stimmt, dass das Bankgeschäft der Medicis in den ersten Generationen, nachdem sie aus Florenz gekommen waren, florierte. Doch das beeindruckte die Oberschicht Venedigs damals überhaupt nicht. Die Nobili, die venezianischen Adligen, waren zu diesem Zeitpunkt so unvorstellbar reich, dass der Doge sogar Gesetze gegen die Prunksucht erlassen musste. Doch nur die Familien zählten zu den Nobili, deren Namen im Libro d’Oro, im goldenen Buch der Stadt, vermerkt waren.«
Francesca zog erstaunt eine Augenbraue hoch. »Ein goldenes Buch?«, fragte sie und stieß genervt die Luft aus. So langsam hatte sie wirklich genug von ominösen Büchern …
»Das goldene Buch wurde von den Avogadori geführt. Nur wer in diesem Buch stand, genoss in Venedig die vollen politischen Rechte und durfte am Großen Rat teilnehmen. Eine Aufnahme in das Patriziat, wie es die Medici-Familie sicherlich angestrebt hat, war leider nicht möglich. Eure Familie hatte niemals eine Chance, in Venedig die gleiche Macht zu erlangen wie in Florenz.«
»Aber wieso hat dann nicht einer unserer Vorfahren einfach eine der Nobili geheiratet?«, warf Gianna ein.
»Auch das war verboten«, meinte Salvatori bedauernd. »Wie gesagt, die Nobili grenzten sich nach außen hin ab. Die Avogadori achteten streng darauf, dass niemand unter seinem Stand heiratete.«
»Das war ja wie das Kastensystem in Indien«, stellte Francesca schockiert fest. Dieses Thema hatten sie erst kürzlich in der Schule durchgenommen.
Salvatori lächelte. »Nun, ganz so schlimm war es sicherlich nicht, aber der Vergleich ist wohl auch nicht ganz unzutreffend. Doch jetzt sollten wir endlich zum Grund eures Besuches kommen!« Er warf Gianna und Francesca einen fragenden Blick zu. »Was ist denn euer Anliegen? Sucht ihr nach jemand Bestimmtem?«
»Wir haben im Palazzo ein sehr altes Buch gefunden, das die Initialen A. D. M. trägt«, erklärte Gianna und hielt sich damit relativ nahe an die Wahrheit. »Nun möchten wir gerne wissen, ob es einem unserer Vorfahren gehört hat.«
»Interessant«, murmelte Salvatori und begann, geschäftig die Unterlagen durchzublättern. »Wir schauen uns am besten die Ahnenliste an, die ist übersichtlicher als die Ahnentafel und in ihr sind mehr Daten erfasst.« Seine Augen begannen vor Eifer zu leuchten. »Wisst ihr, wann das Buch entstanden ist? Könnt ihr den Zeitraum ungefähr eingrenzen?«
Gianna schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider können wir das nicht mit Bestimmtheit sagen.«
»Versuchen Sie es mal zwischen 1600 und 1650«, schlug Francesca vor. Hatte sie in den Büchern ihres Großvaters nicht gelesen, dass in diesem Zeitraum eine italienische Übersetzung des Necronomicons entstanden war? Einen Versuch war es wert.
»Was für ein Zufall, dass es sich ausgerechnet um diesen Zeitrahmen dreht«, meinte Salvatori. »Wie mir euer Großvater nämlich erzählt hat, begann erst im 17. Jahrhundert die bedauernswerte Pechsträhne der Medicis. Leonardo hat sich deswegen ausgiebig mit den Familienmitgliedern dieser Zeit beschäftigt.«
Gespannt verfolgte Francesca, wie Salvatoris Finger über die Liste flog. So viele Namen, so viele Menschen und Schicksale – und alle standen sie mit ihr in Verbindung. Was für ein Leben mochten sie wohl geführt haben? Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie weit ihr Familienstammbaum in die Vergangenheit zurückführte und wie eng er mit dieser Stadt verknüpft war. Auch wenn die Medicis, wie Salvatori behauptet hatte, nie eine wichtige Rolle in Venedig gespielt hatten, ergriff sie trotzdem ein Gefühl des Stolzes.
»Spürt ihr das auch?«, stieß Gianna plötzlich mit gepresster Stimme aus.
Francesca und Salvatori sahen fragend zu ihr auf, doch ehe sie etwas erwidern konnten, fühlten auch sie es.
Der Boden unter ihren Füßen begann zu beben! Die Fensterscheiben vibrierten in einem hohen, sirrenden Ton und die Lampe über ihren Köpfen schwang wie von Geisterhand angestoßen vor und zurück.
»Schnell, unter den Tisch mit euch!«, rief Salvatori und drückte die beiden mit überraschender Kraft nach unten. Auf Händen und Knien krochen Francesca und Gianna unter die Tischplatte, während Salvatori sich Schutz suchend unter den Türrahmen stellte. Die Regale wackelten und einige Aktenordner fielen krachend zu Boden. Gianna griff wortlos nach Francescas Hand. Ihr Streit in Fiorellas Zimmer, der bisher immer noch zwischen ihnen gestanden hatte, war vergessen. Francesca presste die Augen zusammen. Sie hatte das Gefühl, in einer überdimensionalen Schneekugel zu sitzen, die von einem Riesen durchgeschüttelt wurde. Sie hörte, wie Salvatoris gläserne Tierfiguren vom Fensterbrett fielen und zerbrachen. Draußen schlugen die Glocken der Frari-Kirche, die direkt neben dem Staatsarchiv lag, in wilder, unkontrollierter Tonfolge.
So plötzlich, wie das Erdbeben gekommen war, hörte es wieder auf und Stille kehrte ein. Ganz Venedig schien den Atem anzuhalten.
Vorsichtig krochen die Mädchen unter dem Tisch hervor. Salvatoris Büro sah aus, als hätte es jemand in blinder Wut verwüstet und tanzende Staubflocken erfüllten die Luft.
»Ist es tatsächlich vorbei?«, fragte Gianna hustend.
Francesca erhob sich und einen Moment lang hatte sie das Gefühl, als würde das nächste Beben beginnen, doch es waren nur ihre Knie, die immer noch zitterten.
»Das war bisher das Schlimmste von allen«, keuchte Salvatori und tupfte sich mit einem großen Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. »Kann ich euch einen Moment alleine lassen? Ich gehe schnell durch das Archiv und schaue nach dem Rechten. Hoffentlich ist der Schaden, den das Erdbeben angerichtet hat, nicht allzu groß!«
Er eilte mit besorgter Miene davon. Francesca hob einen Stuhl auf und ließ sich erschöpft daraufsinken. Sie atmete tief durch, wischte sich den Staub vom Gesicht und griff nach der Ahnenliste, die Salvatori kurz vor dem Beben studiert hatte.
Gianna warf ihr einen fassungslosen Blick zu. »Wie kannst du dich jetzt um diese doofe Liste sorgen? Wir wären gerade eben fast unter Hunderten von Akten begraben worden!« Der Schreck steckte ihr anscheinend noch tief in den Gliedern.
Francesca erging es nicht viel besser, aber sie wusste, dass sie sich zusammenreißen und ihre Angst beiseiteschieben musste. »Wir haben nicht die Zeit, hier stundenlang herumzusitzen und auf Salvatoris Rückkehr zu warten«, erklärte sie Gianna. »Ehe es dunkel wird, müssen wir zurück im Palazzo sein. Nur solange es hell ist, sind wir vor Nyarlath sicher. Oder hast du Lust, noch einmal von ihm durch Venedig gejagt zu werden?«
Gianna biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf.
Francesca beugte sich über die Liste und ging konzentriert Namen für Namen durch.
»Zwischen 1600 und 1650 finde ich niemanden mit diesen Initialen«, murmelte sie. »Ich gehe mal weiter zurück.«
»Vielleicht liegen wir auch völlig falsch und A. D. M. sind gar keine Initialen«, überlegte Gianna währenddessen. »Es könnte auch eine Abkürzung sein.«
Francesca sah kurz auf. »Ach ja? Und wofür?«
»Vielleicht für …« Sie überlegte einen Moment. »Ausgabe der Medicis. Oder: Achtung, diabolisch und megagefährlich.«
Francescas Zeigefinger stoppte abrupt über einem Namen. Sie zog scharf die Luft ein. »Ich glaube, ich hab ihn!«
Aufgeregt stieß Gianna sie zur Seite. »Alessandro Demetrio di Medici. Geboren am 07.01.1589 in Venedig, gestorben am 18.05.1618 in Venedig.«
Francesca runzelte die Stirn. Etwas an diesen Daten kam ihr bekannt vor. Erst vor Kurzem hatte sie irgendwo davon gelesen. Sie stieß einen erstickten Schrei aus.
»Dieses Datum …« Sie deutete auf den Todestag Alessandros. »Das ist der Tag, an dem Rafael Clementonis ›Eine Chronik des Unglücks‹ beginnt. An diesem Morgen soll angeblich der Fluch über Venedig ausgesprochen worden sein.«
»Ein seltsamer Zufall«, gab Gianna zu.
Sie blätterte die Seiten im Aktenschuber durch und pfiff durch die Zähne. »Meine Güte, sieh dir das mal an!«
Sie hielt Francesca ein Blatt unter die Nase, das eine unscharfe Kopie eines alten amtlichen Dokuments zeigte. Es war ein Haftbefehl, der im Namen des Rats der Zehn ausgestellt worden war. Francesca hatte einige Mühe, die Schrift zu entziffern. Der Haftbefehl war am 17.05.1618 erlassen worden, wegen des Verdachts auf Hochverrat und Hexerei. Ausgestellt war er auf Alessandro di Medici und seinen Übersetzer und Sekretär Erasmo Lissandri.
»Weißt du, was das bedeutet?« Sie griff nach Giannas Arm. »Einer der Gehängten, von denen Rafael geschrieben hat, muss Alessandro di Medici gewesen sein!«
Francesca ließ sich zurücksinken und versuchte, die in ihrem Kopf wild umherschwirrenden Gedanken zu ordnen: Das Medici-Wappen und die Initialen Alessandros befanden sich auf dem Necronomicon. Das konnte nur bedeuten, dass Alessandro dieses Buch hergestellt hatte. Ein Buch, das Macht und Reichtum versprach und mit dem man Fluchdämonen beschwören konnte. Bei den beiden Gehängten auf dem Markusplatz musste es sich um Alessandro und seinen Übersetzer handeln. Und in ihrer Todesnacht hatten mehrere Anwohner des Markusplatzes mitbekommen, wie jemand einen Fluch über Venedig ausgesprochen hatte. Was wäre, wenn …
»Ist das nicht Großvaters Handschrift?«, unterbrach Gianna ihren Gedankengang. Sie zog mehrere eng beschriebene Blätter aus dem Aktenschuber hervor.
Sofort richtete sich Francesca auf. Der Brief trug das Datum von Leonardos Todestag. Hatte Salvatori nicht erzählt, dass ihr Großvater an diesem Tag das letzte Mal im Archiv gewesen war? Dabei hatte er sich anscheinend nicht nur mit der Vergangenheit der Medicis beschäftigt, sondern auch begonnen, einen Brief an seine älteste Tochter Cecilia zu verfassen. Ob er damals schon geahnt hatte, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben würde? Francescas Herzschlag beschleunigte sich. War dies nun der entscheidende Hinweis ihres Großvaters, den sie sich in den vergangenen Tagen so verzweifelt herbeigesehnt hatte?
Meine geliebte Cecilia, mein Sonnenschein,
wenn du diesen Brief mitsamt der Traumgondel in Händen hältst, habe ich versagt – denn dann liegt der Fluch noch immer auf unserer Familie. Ich habe mein Leben der Aufgabe verschrieben, diesen Fluch zu brechen und es ist mir gelungen, einige der Rätsel zu lösen. Nun glaube ich, am Ende meiner Suche angelangt zu sein, doch zur Sicherheit will ich dir auf diesem Wege mitteilen, was ich im Verlauf der vergangenen Jahre herausfinden konnte:
Als meine erstgeborene Tochter wirst du nach meinem Tod ein schweres Erbe antreten müssen, denn dann werden bei dir die Albträume beginnen. Aus eigener Erfahrung muss ich dir leider berichten, dass die schützende Wirkung der Traumgondel nicht von Dauer sein wird. Unweigerlich wird der Moment kommen, in dem dich dein Verfolger, Nyarlath, findet und dich die Stufen ins Wasser des Canal Grande hinabführt – hinein in seinen Spiegelpalazzo. Die Stunden, die ich dort verbringen musste, waren die schrecklichsten meines Lebens und es zieht mein Herz vor Schmerz zusammen, wenn ich daran denke, dass auch du dem Dämon irgendwann schutzlos ausgeliefert sein könntest. Nyarlath will, dass du für ihn ein Buch mit dem Titel »Necronomicon« suchst. Es ist ein sehr mächtiges Buch, dessen Kräfte unsere Vorstellungskraft übersteigen. Ich glaube, dieses Buch und der Fluch, der seit Jahrhunderten auf unserer Familie liegt, stehen in engem Zusammenhang. Deswegen habe ich begonnen, in den historischen Dokumenten des Staatsarchivs zu recherchieren. Alle Hinweise führten mich zum Anfang des 17. Jahrhunderts, genauer gesagt, zu unserem Vorfahren Alessandro Demetrio di Medici. Seit seinem Tod scheint die Familie Medici plötzlich vom Unglück verfolgt worden zu sein, doch auch Alessandros Leben selbst erzählt eine tragische Geschichte.
Wie ich aus den Unterlagen der Avogadori ersehen konnte, stellte Alessandro mehrere Anträge, die schöne Adlige Madelina Tiepolo heiraten zu dürfen, doch es wurde ihm immer wieder aufgrund seiner Herkunft verweigert. Im Nachlass der Familie Tiepolo durfte ich Madelinas Tagebuch einsehen: Die beiden schienen sich tatsächlich von ganzem Herzen zu lieben und wünschten sich nichts so sehr, wie ihr Leben miteinander verbringen zu dürfen. Dass ihnen diese gemeinsame Zukunft verwehrt blieb, war für beide kaum zu ertragen. Als Madelina erfuhr, dass sie anstatt ihres geliebten Alessandros einen dreißig Jahre älteren Adligen ehelichen sollte, beschloss sie, ihrem Leben mit Gift ein Ende zu setzen. Am Tod der Geliebten schien Alessandro fast zu zerbrechen. In seiner Verzweiflung suchte er anscheinend Zuflucht im Okkultismus, denn laut meiner Recherchen erhielt er deswegen mehrere Verwarnungen vonseiten der venezianischen Obrigkeit. Aberglaube und Teufelsanbetung waren in Venedig streng verboten, doch im Untergrund waren diese Dinge weit verbreitet. Alessandro geriet immer tiefer in diese Welt hinein und traf dabei auf einen ausländischen Schwarzmagier, der ihm ein wertvolles verbotenes Buch schenkte – jedoch unter der Bedingung, dass er eine italienische Übersetzung davon anfertigte und sie vervielfältigen ließ. Da Venedig in dieser Zeit das Zentrum der Buchdruckerkunst war und die Medicis über gute Geschäftsbeziehungen verfügten, ging Alessandro gerne auf den reizvollen Handel ein. Für die Übersetzung nahm er anfangs noch die Dienste seines jungen Sekretärs in Anspruch, doch schon bald ließ er niemanden mehr in die Nähe des Buches. Es begann eine seltsame Macht auf ihn auszuüben und Alessandro veränderte sich mit jedem Tag mehr. Er war wie im Fieber, redete davon, mithilfe des Necronomicons Rache zu üben. Er wollte damit nicht nur seine geliebte Madelina wieder zum Leben erwecken – er wollte auch den Dogen stürzen und all die Nobili bestrafen, die für sein und Madelinas tragisches Schicksal verantwortlich waren. An Madelinas Seite, so malte er sich aus, würde er der nächste Doge Venedigs werden. Seinem Bruder Bartolomeo vertraute er an, dass er einen Dämonen heraufbeschwören würde, der ihm zu alldem verhalf. Voller Sorge um Alessandros geistige Gesundheit konsultierte Bartolomeo ihren Leibarzt. Doch dieser war einer der zahlreichen Spione des Rats der Zehn, des venezianischen Geheimdienstes. Ein Großteil der Informationen, die ich dir in diesem Brief mitteile, konnte ich dem Bericht des Leibarztes entnehmen, den dieser dem Rat der Zehn vorlegte. Der Rat reagierte umgehend, nicht umsonst war er in ganz Venedig gefürchtet und für seine gnadenlose und brutale Verfolgung von Feinden der Republik bekannt. Alessandro, der dem Rat ohnehin schon mehrmals unangenehm aufgefallen war, und sein Sekretär wurden gefangen genommen, gefoltert und noch in derselben Nacht getötet. Zu meinem großen Bedauern konnte ich jedoch nirgends einen Hinweis darauf finden, was in jener Nacht mit dem Necronomicon geschehen ist und in wessen Hände es danach gelangt ist.
So weit zu meinen gesicherten Erkenntnissen, nun kann ich dir nur noch von meinen Vermutungen berichten. Ich glaube, dass Alessandro seine Drohung wahr gemacht und in der Nacht seines Todes einen Fluch über Venedig verhängt hat. Kurz vor seiner Verhaftung muss er mitten in einer Beschwörung gewesen sein, in der er einen Fluchdämon in unsere Welt holte, genauer gesagt war es Nyarlath. Der Dämon hat mir während einem meiner Albträume selbst eröffnet, dass er dazu berufen wurde, Venedig zu vernichten. Zuerst wollte ich ihm nicht glauben, doch dann fiel mir ein Buch in die Hände, das mich eines Besseren belehrt hat. In der »Chronik des Unglücks« wird im Detail von Alessandros Todesnacht und dem darauffolgenden stetigen Niedergang Venedigs berichtet. Mittlerweile habe ich mich genug mit Flüchen beschäftigt, um zu wissen, dass ein Teil eines so mächtigen und böswilligen Fluches unweigerlich auf denjenigen zurückfällt, der ihn ausgesprochen hat – im Fall von Alessandros Fluch sogar auf die gesamte Nachkommenschaft. Deswegen bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass sich beide Flüche nur gemeinsam auflösen lassen. Erst wenn es einem Medici gelingt, Venedig von dem Fluch zu befreien, kann unsere Familie wieder Frieden finden.
Nun bin ich dem Ziel endlich nahe – das Necronomicon wurde gefunden und schon heute werde ich es in Händen halten. Ich habe jedoch nicht vor, Nyarlath das Buch zu übergeben. Seine Existenz scheint eng mit dem Necronomicon verbunden zu sein und mir ist klar geworden, dass ich den Namen Medici nur noch mehr mit Schuld belade, wenn ich seinem Wunsch nachkomme. Es gibt nur einen einzigen Weg, beide Flüche aufzuheben – leider ist er nicht ganz ungefährlich und da ich mir dessen bewusst bin, habe ich beschlossen, dir auf diesem Weg alle Informationen, die ich besitze, mitzuteilen.
Hier endete der Brief. Leonardo hatte wohl nicht damit gerechnet, dass sein Tod so kurz bevorstand und er nicht mehr die Gelegenheit dazu haben würde, den Brief an seine Tochter fertigzuschreiben.
Francesca ließ mit zitternden Händen die Blätter sinken. Der Inhalt des Briefes war so ungeheuerlich, dass weder sie noch Gianna in der Lage waren, ein Wort über die Lippen zu bringen. Es war ihr eigener Vorfahre gewesen … Alessandro di Medici hatte mithilfe des Necronomicons Venedig verflucht!