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Unter dem Torbogen der Calle della piccolezza blieb Francesca atemlos stehen und strich sich eine Locke aus dem Gesicht. Sie hatte die anderen Auslieferungen im Eiltempo hinter sich gebracht, doch nun war es wichtig, dass sie ruhig und überlegt handelte.

Da Horatio Baldini nur drei Mal in der Woche das Mittagessen geliefert bekam, war der gestrige Tag tatenlos verstrichen. Wie eine Ewigkeit hatte er sich für Francesca in die Länge gezogen. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu dem Moment, in dem sie Baldini zum nächsten Mal gegenübertreten würde. Wie sollte sie sich verhalten? Sollte sie versuchen, ihn vorsichtig auszuhorchen oder ihn lieber sofort darauf ansprechen, wie er in den Besitz der Traumgondel gekommen war?

Francesca schloss die Augen und lehnte sich für einen Moment an die kühlenden Steine des Torbogens. In was für eine Geschichte war sie da nur hineingeraten …

Als am gestrigen Abend ihre Mutter angerufen hatte, war sie für einen Moment versucht gewesen, ihr alles anzuvertrauen. Natürlich erinnerte sie sich an ihr Versprechen, niemandem etwas zu verraten, aber übertrieb es Fiorella mit der Geheimhaltung nicht ein wenig? Allzu gerne hätte Francesca ihrer Mutter von dem Fluch erzählt, der angeblich auf ihr lastete, dem möglichen Mord an ihrem Großvater und ihrem Plan, Baldini auszuhorchen. All das lastete schwer auf ihr. Aber es gab auch eine gute Neuigkeit: Dank der Traumgondel war sie tatsächlich von jeglichem Albtraum verschont geblieben. Francesca hatte das Gefühl gehabt, dass sie gleich platzte, wenn sie sich nicht endlich jemandem anvertrauen konnte. Nicht zuletzt, da ihre Großmutter der festen Überzeugung zu sein schien, in nächster Zeit zu sterben. Schon allein beim Gedanken daran schnürte sich ihre Kehle zu. Nun war ihr auch klar geworden, warum Fiorella am Tag ihrer Ankunft dieses seltsame Gespräch über das Heiraten und Kinderkriegen hatte führen wollen. Ihre Großmutter ging tatsächlich davon aus, dass sie nicht mehr lange genug lebte, um diese Dinge gemeinsam mit ihrer Enkelin zu erleben. Francesca klammerte sich an die Hoffnung, dass sich Fiorella täuschte und ihre Todesvision nicht mehr als ein schlechter Tagtraum gewesen war. Doch gerade ihre Liebe zu ihrer Großmutter hatte sie schließlich davon abgehalten, ihrer Mutter alles zu erzählen. Francesca hatte es Fiorella versprochen – basta!

Abgesehen davon war ihre Mutter sowieso mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen. Begeistert hatte sie Francesca berichtet, dass die führenden Angestellten ihrer Firma in einem Schweizer Nobelhotel gemeinsam Silvester feierten und sie dank ihrer guten Arbeit überraschend dazu eingeladen worden war. Sie konnte ihr Glück kaum fassen und malte sich während des Telefongesprächs permanent aus, was diese Einladung für ihre Karriere bedeuten konnte. Francesca dagegen schoss es durch den Kopf, wie ungeheuer praktisch es für ihre Mutter sein musste, dass sie ihre Tochter nach Venedig abgeschoben hatte.

Francesca atmete tief durch, packte entschlossen die Transportbox und lief auf die Tür des Antiquariats zu. Erst als sie nach der Klinke greifen wollte, bemerkte sie, dass die Tür einen Spaltbreit offen stand. Francesca runzelte die Stirn. Seltsam, bei dieser Kälte, die sich momentan wie eine Eisdecke über Venedig gelegt hatte, achtete eigentlich jeder peinlich genau darauf, Fenster und Türen geschlossen zu halten!

Sie versetzte der Tür einen leichten Stoß. Wie schon bei ihrem ersten Besuch schwang sie mit einem widerwilligen Ächzen auf.

»Signore Bal…«

Die Worte blieben Francesca im Hals stecken. Die Transportbox fiel ihr aus den Händen und landete auf dem Boden.

Das Antiquariat war nicht mehr wiederzuerkennen. Sämtliche Holzregale waren umgekippt worden, die Kristallkaraffen, Büsten und Statuen waren zu einem einzigen bunten Scherbenhaufen verschmolzen und aus Baldinis Sekretär waren die Schubladen herausgerissen worden. In der Mitte des Raumes lag die Gondel umgekippt auf dem Boden, als wäre sie in einer Sturmflut aus Acqua-alta-Büchern gekentert. Was war hier nur geschehen? Kein normaler Einbrecher hätte solch eine Verwüstung hinterlassen. Es sah eher so aus … als habe jemand in blinder Wut das komplette Antiquariat durchsucht. Mit angehaltenem Atem lauschte Francesca in die unheimliche Stille. Es schien niemand mehr hier zu sein.

Schritt für Schritt tastete sie sich durch das Chaos und ging neben der Gondel in die Knie. Fünf tiefe Linien zogen sich durch die schwarz glänzende Oberfläche, als ob ein riesenhaftes Tier seine Krallen darin versenkt hätte. Mit was für einer Waffe konnte man denn solche Kratzspuren hinterlassen? Als Francesca mit den Fingerspitzen über das gesplitterte Holz fuhr, überlief sie ein kalter Schauer.

Baldini, durchzuckte es sie plötzlich, wo war nur der alte Mann? Hastig erhob sie sich und sah sich suchend um.

»Signore Baldini?« Ihre Stimme durchschnitt unangenehm laut die Stille. »Wo sind Sie? Ist alles in Ordnung?«

Nicht weit von ihr entfernt erklang ein Stöhnen. Hektisch stolperte Francesca über den Bücherberg in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Sie stoppte abrupt und schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund.

»Sant’Iddio!«, flüsterte sie. »Um Himmels willen!«

Unter einem umgestürzten Regal im hinteren Teil des Antiquariats lugte ein blutverschmierter Arm hervor.

»Signore Baldini?«

Der Arm zuckte als Antwort.

»Schnell …« Baldinis Stimme war kaum zu hören.

Francesca stürzte zu ihm. »Einen Moment, ich helfe Ihnen!«

Mit all ihrer Kraft stemmte sie sich gegen das massive Holzregal. Immer wieder verloren ihre Füße auf dem scherbenbedeckten Boden den Halt, sie rutschte ab und das Regal sank erneut nach unten. Es dauerte quälend lange, bis sie es endlich so weit nach oben gehoben hatte, dass der Antiquar darunter zum Vorschein kam. Als sie aus den Augenwinkeln einen Blick auf Baldini warf, wäre ihr vor Schreck das Regal fast wieder entglitten. Sein Hemd war zerfetzt und über seine Brust zogen sich fünf lange blutige Striemen. Genau wie die Kratzer auf der Gondel, dachte Francesca schockiert.

Sie gab dem Regal einen letzten, entschlossenen Stoß, sodass es wieder aufrecht an der Wand stand.

»Mein Herz«, keuchte Baldini, »… kann kaum atmen …«

Mit schmerzverzerrtem Gesicht presste er seine Hand auf seine linke Seite. Er atmete nur noch flach. Francesca kniete sich neben ihn, nahm ihren Schal ab und presste ihn auf die Fleischwunde. Erleichtert stellte sie fest, dass die Verletzung nicht ganz so tief war, wie sie anfangs angenommen hatte.

»Was ist passiert?«

»Er … er hat mich gefunden«, flüsterte Baldini. »Nach all den Jahren … hat er mich gefunden.«

Seine Mundwinkel flackerten nach oben, doch sein Blick war glasig wie im Fieber. »Aber ich habe mich gewehrt. Er hat es nicht bekommen.«

Francesca runzelte die Stirn. »Wer hat Sie gefunden?«

Baldini wandte ihr den Kopf zu. »Er hat es nicht bekommen!«, wiederholte er anstatt einer Antwort und stieß ein irres Kichern aus, das allerdings sofort in einen Schmerzenslaut überging.

»Ich war vorbereitet … habe Fallen aufgestellt … er hatte hier drin keine Macht.«

Besorgt musterte sie Baldini. Er schien nicht mehr ganz bei Sinnen zu sein. Kein Wunder, sicherlich stand er nach dem, was er erlebt hatte, unter Schock. Ein Arzt musste dringend nach ihm sehen und die Polizei nach diesem Einbrecher fahnden, der Baldini so brutal überwältigt hatte! Sie holte ihr Handy hervor, doch Baldini packte sie in einer überraschend schnellen Bewegung am Handgelenk.

»Du … musst es holen, Francesca. Schnell!«

»Aber Sie brauchen einen Arzt!«

»Später!« Wie ein Schraubstock umklammerten seine Finger ihr Handgelenk, sodass Francesca das Handy entglitt. »Du musst in das Separee gehen und den Läufer beiseiteschieben.« Er zog eine Kette mit einem kleinen Schlüssel unter seinem Hemd hervor. »Öffne damit das Schloss. Beeil dich!«

»Aber …«

»Tu es!«

Francesca erkannte, dass sie Baldini nicht zur Vernunft bringen konnte. Es war wohl am besten, sie erfüllte seinen Wunsch so schnell wie möglich und holte danach einen Arzt. Widerstrebend nahm sie den Schlüssel entgegen und lief in das Separee. Wieder knirschte das Salz unter ihren Füßen. Hastig schlug sie den Läufer zurück und hielt erstaunt die Luft an. Darunter kam eine kleine Falltür zum Vorschein, die durch ein silbernes Schloss gesichert war. Francesca steckte Baldinis Schlüssel hinein und öffnete die Klappe, die sich für ihre geringe Größe als überraschend schwer erwies. Gleich darauf erkannte Francesca auch, weshalb: Jeder Zentimeter dieses geheimen Verstecks war mit Silber ausgekleidet. In das Edelmetall waren fremdartige Zeichen eingraviert, die Francesca seltsam bekannt vorkamen. Aber sie hatte keine Zeit, sie sich näher anzusehen. Ihre Aufmerksamkeit wurde von dem abgelenkt, was sich innerhalb des geheimen Verstecks befand. Francesca runzelte die Stirn. In Anbetracht des Aufwandes und der Kosten für diesen außergewöhnlichen Safe hatte sie erwartet, dass sich in seinem Innern wertvolle Münzen oder Schmuck befinden würden. Doch nur ein einziger Gegenstand lag darin.

Ein Buch.

Es war in schwarzes Leder gebunden und die scharlachroten Buchstaben schienen den Leser regelrecht angreifen zu wollen. Francesca hatte den Titel noch nie gehört, doch er ließ sie unwillkürlich erschaudern. Ohne dass sie sich dessen bewusst war, öffnete sich ihr Mund und sie sprach ihn mit wispernder Stimme aus: »Necronomicon.«

Francesca wich zurück. Mit jeder Faser ihres Körpers spürte sie, dass dies kein gewöhnliches Buch war. Ihm haftete etwas … Lebendiges an. Eine machtvolle Aura lag über ihm wie der Schatten eines Raubtieres, das darauf lauerte, seine ahnungslose Beute anzuspringen.

»Hast du es?« Baldinis keuchende Stimme riss sie aus ihrer Starre. »Dann verschließe die Luke und bring es her!«

Francesca fuhr sich über die Augen und versuchte, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Es war nur ein Buch! Wieso sollte sie sich vor beschriebenem Papier fürchten? Das war doch lächerlich!

Beherzt griff sie zu. Eine eisige Kälte schien ihre Fingerspitzen hinaufzukriechen, als ihre Hand das Buch berührte. Wie Baldini es ihr aufgetragen hatte, schloss sie die Luke und legte den Läufer darüber, ehe sie zu ihm zurückeilte. Er presste immer noch die Hand auf seine Brust, Schweiß perlte von seiner Stirn.

»Ich … möchte mich aufsetzen!«

Sie nahm seinen Arm und half ihm, sich aufrecht an das Regal zu lehnen. Sofort schien ihm das Atmen leichter zu fallen.

Doch sein Gesicht hatte mittlerweile jegliche Farbe verloren. Es wirkte so wächsern wie die Kerzen in der Kirche, die Francescas Großmutter jeden Sonntag zum Gedenken der Toten anzündete. Francesca zögerte nicht mehr länger, hob ihr Handy auf und tippte die Nummer des Notrufs.

»Der Arzt und die Polizei sind in wenigen Minuten hier!«, informierte sie Baldini. Sie konnte nur hoffen, dass das Krankenboot so schnell wie möglich eintraf. Wenn sie nur etwas für Baldini hätte tun können! Sie fühlte sich so hilflos.

Er saß mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Fast schien es ihr, als wäre er schon zu benommen, als dass er ihre Worte mitbekommen hätte. Doch dann riss er so unvermittelt die Augen auf, dass Francesca zusammenzuckte.

»Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit«, murmelte er. »Ich muss dich in das Geheimnis einweihen, ehe es zu spät ist.«

Ein Geheimnis? Wollte er Francesca vielleicht etwas über den Tod ihres Großvaters mitteilen oder wenigstens, wie er in den Besitz der Traumgondel gekommen war? Ihre Augen blitzten neugierig auf, wofür sie sich sofort selbst verachtete. Eigentlich hätte sie ihm sagen müssen, dass er sich schonen solle und er ihr auch noch später dieses Geheimnis anvertrauen konnte. Aber was, wenn er tatsächlich der Mörder ihres Großvaters war? Musste sie dann nicht diese Möglichkeit nutzen, um ihm einige Informationen zu entlocken? Sie musterte Baldini voller Spannung.

»Geht es vielleicht um das Buch, das ich holen sollte?«

Francesca zeigte mit dem Kopf in Richtung des Necronomicons. Sie hatte es auf einem Stuhl abgelegt, als sie Baldini geholfen hatte, sich aufzusetzen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie erleichtert sie in diesem Augenblick gewesen war, das Buch aus der Hand legen zu können.

»Novalis hat einmal gesagt, dass jedes Wort ein Wort der Beschwörung ist«, sagte Baldini. »Welcher Geist ruft – ein solcher erscheint. Er hatte recht, Francesca! Wahrscheinlich wusste er gar nicht, wie recht er damit hatte …«

Baldini fuhr sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn.

»Schriftsteller erzählen, dass sich manchmal eine Geschichte wie von alleine, ohne ihr eigenes Zutun schreibt. Als würde jemand hinter ihnen stehen und ihnen die Geschichte diktieren. Und genau das kann geschehen, Francesca. Manchmal finden böse Wesen einen Zugang zu unserer Wirklichkeit und flüstern jemandem Worte ein, die nicht für unsere Welt bestimmt sind. Es gibt Bücher, in denen so machtvolle Worte stehen, dass sie unsere Realität verändern können. Bücher wie das Necronomicon.«

Francesca erinnerte sich an ihr erstes Zusammentreffen mit Baldini, als er ihr schon einmal von den bösen Büchern erzählt hatte. Damals hatte sie ihn für verrückt gehalten. Aber nun hatte sie es gesehen. Das Necronomicon. Wieder huschten ihre Augen zu dem Buch hinüber. Wie um Baldinis Erzählung zu bestätigen, schien es für einen Moment von einer Art schwarzen Nebel eingehüllt zu sein.

Sie blinzelte irritiert.

Der Nebel war verschwunden. Wahrscheinlich hatte sie sich nur getäuscht …

»War es das Necronomicon, nach dem Sie und mein Großvater gesucht haben?«, wagte sie sich vor.

Gespannt hielt sie den Atem an. Immerhin hatte Baldini damals bei der Polizei behauptet, dass er und Leonardo niemals gemeinsam nach einem Buch geforscht hätten. Würde Fiorella nun endlich die Antwort bekommen, nach der sie so lange gesucht hatte?

Baldini zögerte einen quälend langen Moment, dann nickte er.

»Jahrelang fahndete Leonardo auf eigene Faust danach. Schließlich kam er in meinen Laden und fragte mich, ob ich ein Buch für ihn finden könnte, von dem es nur ein einziges Exemplar gab und das vor Jahrhunderten in Venedig verschollen war. Es war eine fast unlösbare Aufgabe, selbst für einen erfahrenen Bücherjäger wie mich. Über ein Jahrzehnt haben wir zusammen Archive durchforstet, sind jedem noch so winzigen Hinweis nachgegangen und haben private Sammler in ganz Europa kontaktiert.« Die Erinnerung ließ Baldinis Augen aufleuchten. »Es war eine herrliche Zeit! Wir waren wie zwei kleine Jungen auf einer geheimnisvollen Schnitzeljagd. Ehe wir uns versahen, waren wir Freunde geworden und schließlich hatte Leonardo mir sogar von seinen Albträumen, der Traumgondel und dem Fluch erzählt … Aber weißt du, was das Unglaubliche daran ist?« Er lachte bitter auf, worauf er sich sofort wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht an sein Herz fasste. »Schließlich hat das Necronomicon uns gefunden! Ein Bekannter von mir, er war Kanalarbeiter, kam eines Tages in meinen Laden und bot es mir zum Kauf an. Er und seine Kollegen hatten einen Rio ausgeschachtet und inmitten des schwarzen Schlammes, den sie vom Grund des Kanals holten, fand er das Buch. Eine halbe Ewigkeit lag es begraben im venezianischen Lagunenschlick und es war trotzdem so gut wie unversehrt – ich konnte mein Glück kaum fassen. Aber schon kurz nachdem ich meinem Bekannten das Buch abgekauft hatte und es zum ersten Mal in Augenschein nahm, verflog mein Glücksgefühl.« Baldinis Augen verengten sich zu Schlitzen. »Plötzlich spürte ich es. Die Gefahr, die von diesem Buch ausgeht. Es ist … böse. Du hast es auch gefühlt, oder? Ich habe es in deinen Augen gesehen.«

Francesca nickte und schlang fröstelnd die Arme um sich.

»Ist es ein Buch mit bösen Zaubersprüchen?«, fragte sie, nur um die Stille zu füllen.

Er griff nach ihrer Hand, dieses Mal jedoch sanft und vorsichtig.

»So versteh doch, es geht nicht allein darum, was darin niedergeschrieben ist – das Buch selbst ist böse!«, wiederholte er eindringlich. »Ich spürte die Gefahr, die von ihm ausging, undwollte es vernichten, doch dein Großvater hielt mich davon ab. Erst an jenem Abend gestand er mir, dass er dieses Buch nur aus einem einzigen Grund so verzweifelt gesucht hatte. Leonardo hatte anscheinend die Hoffnung, dass sich der Fluch, der auf der Medici-Familie liegt, mit dem Necronomicon wieder aufheben lässt. Er wollte die Kräfte des Buches nutzen. Er meinte, es wäre die Bestimmung des Buches, von einem Medici befohlen zu werden.« Baldini stockte. Er musste sich sichtlich dazu überwinden, weiterzusprechen. Seine Stimme zitterte, als er fortfuhr: »Ich wollte ihm das Buch wieder abnehmen, es kam zu einem Gerangel. Als ich Leonardo das Necronomicon entreißen konnte, rannte ich zur Tür, die zum Kanal führt, um mit meinem Boot zu fliehen, doch er setzte mir nach. Mit einem verzweifelten Stoß versuchte ich mich von ihm freizumachen. Dabei rutschte er aus, stieß sich den Kopf und fiel in den Kanal.«

Baldini hielt Francescas Hand immer noch in seiner und nun presste er sie inbrünstig an seine Brust. »Du musst mir glauben, Francesca, es war ein Unfall! Leonardo war mein bester Freund. Ich hätte ihn doch niemals absichtlich …« Der Rest seines Satzes ging in einem Schluchzen unter.

Francesca spürte, wie sich sein Körper unter einer erneuten Schmerzattacke zu verkrampfen begann. Baldini durfte sich nicht so sehr aufregen! Wo blieb nur dieses elende Krankenboot? Oder die Polizei?

Sie sah ihm in die Augen. »Ich glaube Ihnen«, erwiderte sie mit sanfter Stimme. »Bitte, beruhigen Sie sich wieder. Ich glaube Ihnen, dass es nur ein Unfall war!«

Sie spürte, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Als sie sah, wie sich Baldinis Gesichtszüge etwas entspannten, wusste sie, wie wichtig ihm diese Worte gewesen waren.

»Ich hatte Angst, dass ich ins Gefängnis kommen könnte. Deswegen habe ich alle Spuren beseitigt«, fuhr er fort. »Dabei fand ich die Traumgondel hier im Laden. Leonardo musste sie während des Kampfes verloren haben. Ich konnte mich nicht überwinden, sie zu zerstören und so habe ich sie versteckt. Aber als sich einige Jahre darauf Cecilia umgebracht hat, wusste ich, dass ich es hätte verhindern können. Ich hatte doch nicht geahnt, wie wichtig diese Traumgondel für den Fluchträger ist! Wäre ich nicht so feige gewesen, dann könnte Cecilia jetzt noch am Leben sein.«

Francesca öffnete den Mund, doch dieses Mal brachte sie kein Wort des Trostes über die Lippen. Baldini hatte recht, wahrscheinlich hätte er Cecilia retten können. Vielleicht trug er an ihrem Tod sogar mehr Schuld als an dem ihres Großvaters. Obwohl sie erst seit zwei Nächten mit der Traumgondel in der Hand geschlafen hatte, wusste sie bereits, wie viel Macht die Gondel im Kampf gegen die Albträume besaß.

»So viel Blut an meinen Händen«, stöhnte Baldini. »So viel Schuld …« Seine Lider flackerten, sein Atem wurde flacher.

Himmel, wo blieb nur dieses vermaledeite Krankenboot? Francesca warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stellte ungläubig fest, dass nicht mehr als fünf Minuten vergangen waren, seit sie angerufen hatte. Es kam ihr vor, als hätte sich die Zeit unnatürlich lange ausgedehnt.

»Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen … Ich bin in den Laden und habe im Necronomicon gelesen … zum ersten Mal …«, keuchte Baldini. Jedes Wort schien ihn unendlich viel Kraft zu kosten. »… wusste nicht, ob Leonardo wegen des Fluches recht hat … wollte nicht noch mehr Schuld auf mich laden … dir helfen …« Seine Stimme versagte.

»Bleiben Sie ganz ruhig!« Sie bemühte sich, ihre aufsteigende Panik zu unterdrücken. »Der Arzt wird jeden Moment hier sein.«

Francesca hielt inne und lauschte. Die schrillen Sirenenklänge der Ambulanz wurden mit jeder Sekunde lauter. »Hören Sie die Sirene? Halten Sie durch!«

»Deswegen hat er mich gefunden …«, murmelte er benommen. Plötzlich wurde Francesca klar, dass der Arzt zu spät kommen würde.

»Wer? Wer hat Sie gefunden?«, hauchte sie mit erstickter Stimme. Francesca spürte, wie ihr heiße Tränen über die Wangen liefen.

»Du bist stark genug, zu widerstehen, nimm es an dich … du musst Sicherheitsvorkehrungen treffen, sonst wird es … zu stark …« Seine Stimme war so leise, dass Francesca sich über ihn beugen musste, um seine Worte verstehen zu können. »Niemals … lesen …«

Baldini schloss die Augen. Sein Kopf kippte zur Seite.

Die Stille, die sich plötzlich im Antiquariat ausbreitete, war gespenstisch.

Francesca saß mit hängenden Schultern auf dem Sofa ihrer Großmutter und hielt ein Kissen fest an sich gepresst. Vor den Fenstern versteckte sich Venedig unter einem Vorhang aus Dunkelheit, doch Francesca konnte noch nicht schlafen gehen. Nicht nach dem, was geschehen war. Sie kniff die Augen zusammen, doch Baldinis Anblick bekam sie einfach nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass ein Toter so aussähe, als würde er nur schlafen. Doch in Baldinis erschlafften Gesichtszügen lag plötzlich eine Leere, die Francesca ohne Zweifel wissen ließ, dass er nicht nur in einen tiefen Schlaf gefallen war. Wieder kroch diese eisige Kälte in ihr hoch und schüttelte ihren Körper. Fiorella, die geduldig schweigend neben ihr saß, schien es zu spüren und legte tröstend einen Arm um sie.

Seit der kurzen Vernehmung durch die Polizei hatte Francesca kein Wort mehr über die Lippen gebracht.

Nur wenige Sekunden, nachdem Baldini gestorben war, waren das Krankenboot und die Polizei eingetroffen. Wie sich schnell herausstellte, litt der Antiquar schon seit Langem an einem schwachen Herzen und jede noch so kleine Aufregung hatte eine Gefahr dargestellt. Aber natürlich warfen die Verwüstung des Antiquariats und Baldinis seltsame Wunden Fragen auf und die Polizei hatte Francesca sofort an Ort und Stelle als Zeugin vernommen. Sie hatte behauptet, dass sie Baldini kaum kannte und er wenige Augenblicke, nachdem sie den Laden betreten hatte, verstorben war. Was im Prinzip auch der Wahrheit entsprach. Trotzdem sagte ihr eine innere Stimme, dass es besser war, das geheimnisvolle Buch, das Baldini versteckt gehalten hatte, nicht zu erwähnen. Die Polizei hätte ihr ohnehin nicht geglaubt. Wenn Francesca ihnen von einem »bösen Buch« berichtet hätte, hätten sie wahrscheinlich nur gelacht und es ihr am Ende sogar abgenommen. Als sie während der Vernehmung aus den Augenwinkeln beobachtete, wie ein Polizist das Separee nach Spuren durchsuchte und misstrauisch das viele Salz auf dem Boden musterte, hatte Francesca unwillkürlich die Luft angehalten. Glücklicherweise hatte er die geheime Luke im Boden nicht entdeckt. Francesca hätte nicht gewusst, was sie dazu hätte sagen sollen. Vor allem, da sich Baldinis Schlüssel für das Schloss immer noch in ihrer Hosentasche befand.

Als die Polizei sie endlich hatte gehen lassen, war sie wie in Trance heimgekehrt und hatte sich zu ihrer Großmutter geflüchtet.

Francesca stieß geräuschvoll den Atem aus. Ihr Leben war völlig aus den Fugen geraten. Als sie vor ein paar Tagen in Venedig angekommen war, war noch alles in Ordnung gewesen. Gut, wenn man die Albträume bedachte, war es vielleicht nicht in bester Ordnung gewesen, aber auf alle Fälle hatte sie sich damit arrangiert. Nun hatte sie einen Toten gesehen und ein unheimliches Zauberbuch am Hals. Schlimmer noch: Offenbar gab es jemanden, der dieses Buch unbedingt haben wollte und alles daransetzte, es zu bekommen.

»Trink etwas Tee, Kindchen«, ermunterte Fiorella sie. »Du zitterst ja wie Espenlaub!«

Francesca bezweifelte, dass Tee ihr gegen die innere Kälte helfen konnte, doch sie griff gehorsam nach ihrer Tasse auf dem Glastisch. Ihr Blick fiel auf das Buch, das direkt daneben lag. Als der Notarzt und die Sanitäter ins Antiquariat gestürmt waren, hatte Francesca das Necronomicon geistesgegenwärtig in der Transportbox versteckt und so aus dem Antiquariat geschmuggelt. Obwohl es Baldinis letzter Wunsch gewesen war, dass Francesca das Buch in Sicherheit brachte, war sie sich vorgekommen wie eine Diebin. Sie nippte an dem Tee und zuckte schmerzhaft zusammen.

»Verdammt, ist der heiß!«, fluchte sie.

Fiorella lächelte milde. »Ich hoffe, das sollte kein Vorwurf an mich sein? Aber immerhin hast du nun deine Sprache wiedergefunden!«

»Dann hat er wohl doch geholfen«, sagte Francesca leise.

Fiorella beugte sich vor. »Es ist etwas Schlimmes geschehen, nicht wahr?«, fragte sie vorsichtig. »Ich habe dich noch nie so verstört erlebt. In den vergangenen Stunden habe ich mir solche Vorwürfe gemacht, dich mit so einer gefährlichen Aufgabe zu Baldini geschickt zu haben. Ich war eine selbstsüchtige alte Närrin, bitte verzeih mir!«

»Nein«, wehrte Francesca erschrocken ab. »Was passiert ist, war nicht deine Schuld, Nonna!«

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass ihre Großmutter eine halbe Ewigkeit neben ihr auf dem Sofa ausgeharrt hatte, ohne zu wissen, was überhaupt geschehen war. Francesca war es ihr schuldig, alles zu erzählen – auch wenn es ihr schwerfiel, darüber zu sprechen. Doch nachdem sie erst einmal begonnen hatte, sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Als hätte ihr Innerstes nur darauf gewartet, die beklemmenden Bilder ihres Erlebnisses mit jemandem teilen zu können. Sie ließ kein Detail aus, auch nicht Baldinis Geständnis kurz vor seinem Tod.

»Er hat Großvater nicht ermordet, es war nur ein bedauerlicher Unfall«, endete sie schließlich.

Gespannt musterte Francesca ihre Großmutter. Was würde sie dazu sagen? Seit Jahrzehnten hatte sie Baldini verdächtigt und nun – schneller als erwartet – war es Francesca gelungen, die wahren Hintergründe von Leonardos Todesnacht herauszufinden. Aber nun war es Fiorella, die regungslos neben ihr saß und schwieg. Vergebens suchte Francesca so etwas wie Triumph oder Genugtuung in ihren Gesichtszügen.

»Freust du dich denn nicht, dass du endlich die Wahrheit erfahren hast?«

»Gott quält dich, aber er verlässt dich nicht«, murmelte Fiorella kaum hörbar und strich gedankenverloren über das goldene Kreuz, das sie Tag und Nacht um den Hals trug.

»Nonna?«, fragte Francesca besorgt.

Ihre Großmutter zuckte zusammen, als habe sie Francescas Anwesenheit vollkommen vergessen.

»Natürlich freue ich mich darüber, dass du dieses Rätsel für mich gelöst hast«, beteuerte sie und tätschelte Francesca beruhigend die Hand. Sie seufzte auf. »Manchmal ist man davon getrieben, ein Geheimnis aufzudecken und vergisst dabei, dass das Wissen um die Wahrheit nicht glücklich machen kann. Anstatt ein Pflaster aufzulegen, reißt es alte Wunden auf. Ich habe nicht bedacht, dass mit der Wahrheit auch die Bilder kommen. Nun sehe ich Leonardos Kampf mit seinem besten Freund vor mir, seinen Sturz, seinen Tod … War es ein Buch wert, zu sterben?«

Ihre blinden Augen richteten sich auf Leonardos Bild auf der Kommode, als habe sie ihm soeben diese Frage gestellt. Sie legte den Kopf zur Seite.

»Sicherlich nicht.«

Francesca schluckte schwer und wusste nicht, was sie sagen sollte. Anscheinend war ihr Gefühl, dass sie die Bilder durch ihre Erzählung mit Nonna zu teilen begonnen hatte, zutreffender gewesen, als sie geahnt hatte.

Fiorella beugte sich vor und tastete nach dem Buch. Wie Venedigs Kanäle schlängelten sich unter der dünnen Haut ihrer Hand breite tiefblaue Adern. Als ihre Fingerspitzen das schwarze Leder berührten, zögerte sie einen Moment.

»Das ist es also. Das Buch, das mir meinen Mann genommen hat.«

»Vielleicht solltest du lieber nicht …«

»Doch, ich sollte!«, fiel Fiorella ihr ins Wort. Sie reckte entschlossen ihr Kinn und legte sich das Buch auf den Schoß. »Wir müssen uns nun an die Lösung des nächsten Rätsels machen! Es liegt viel Arbeit vor uns.«

Irritiert sah Francesca zu ihrer Großmutter. »Das nächste Rätsel?«

»Wir müssen aufklären, warum dein Großvater ausgerechnet dieses Buch gesucht hat und er der Meinung war, es könnte den Fluch aufheben. Das können wir nur, indem wir so viel wie möglich darüber herausfinden«, erklärte Fiorella und setzte eine zuversichtliche Miene auf. »Wenigstens müssen wir dieses Mal nicht einem Menschen die Wahrheit entlocken, sondern nur einem Buch. Keine Sorge, das wird ein Kinderspiel!«

»Wenn du meinst …« Francesca bezweifelte, dass es so einfach werden würde, über dieses Buch etwas in Erfahrung zu bringen. So, wie sie den Antiquar verstanden hatte, handelte es sich um ein sehr altes Buch. Selbst Baldini und ihr Großvater hatten jahrelang vergeblich nach Hinweisen gesucht und weder Fiorella noch Francesca wussten, wie man als »Bücherjäger« am besten vorging.

»Der Umschlag ist aus einem sehr hochwertigen Leder«, stellte Fiorella fest, während sie mit ihren Fingerspitzen das Buch befühlte. »Kaum zu glauben, dass es so lange am Grund eines Kanals lag. Ob man die Schrift überhaupt noch entziffern kann?« Ihre Finger schoben sich unter den Buchdeckel.

Francesca nagte nervös an ihrer Unterlippe. Sie hatte überhaupt kein gutes Gefühl bei dieser Sache. Baldini hatte sie nicht umsonst vor diesem Buch gewarnt. Es überraschte sie, dass ihre Großmutter, die sonst immer ein untrügliches Gespür für solche Dinge hatte, die unheimliche Ausstrahlung des Necronomicons nicht ebenfalls fühlte.

Wie bei einer Truhe, die dunkle Geheimnisse in sich barg, hob sich der Buchdeckel unter Fiorellas Führung nach oben. Francesca hielt gespannt den Atem an. Das Papier war so schwarz wie die Nacht, goldene Schriftzeichen erhoben sich von den Seiten wie ein wertvoller Schatz und zogen Francescas Blick magisch an.

»Jetzt sag schon«, drängelte Fiorella. »Kann man den Text noch lesen?« Ihre Finger fuhren sanft über das Papier …

Francesca musste einen Aufschrei unterdrücken. Sie schlug ihrer Großmutter das Buch mit solcher Wucht aus der Hand, dass es polternd zu Boden fiel.

Fiorella starrte mit vor Überraschung weit geöffnetem Mund in Richtung ihrer Enkelin.

»Nein, wir … wir dürfen nicht darin lesen«, stammelte Francesca. »Baldini hat mich davor gewarnt, es waren seine letzten Worte: Niemals lesen.« Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme vor Aufregung zitterte. Mit großen Augen starrte sie auf das Necronomicon.

Alles war wieder normal.

Hatte sie es sich am Ende nur eingebildet? Aber in der Sekunde, als ihre Großmutter den Buchdeckel angehoben hatte, schien es ihr, als käme etwas aus dem Buch heraus. Zuerst war es nur der schwarze Nebel, den sie schon im Antiquariat wahrgenommen hatte, doch dann bildete sich daraus eine Art Hand. Sie wirkte unheimlich real. Obwohl sie nur aus Schwärze und Finsternis bestand, hatte Francesca die Vertiefungen der Fingernägel und den Verlauf der Sehnen und Adern so deutlich gesehen wie noch wenige Minuten zuvor bei Fiorella. Das Schlimmste daran war, dass die schwarze Hand aus dem Buch herauszugreifen schien – direkt nach ihrer Großmutter!

Francesca fuhr sich über die Augen. Sie hatte das Gefühl, dass sie jeden Moment den Verstand verlieren würde.

»Wir dürfen nicht darin lesen«, wiederholte sie leise.

»Das wollte ich auch nicht«, gab Fiorella in eingeschnapptem Tonfall zurück. »Falls du es vergessen hast, ich kann überhaupt nicht darin lesen.«

»Lass es geschlossen, bitte! Das Buch ist gefährlich.«

»Das ist lächerlich«, schnaubte Fiorella und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf ihre Knie. »Ich habe doch keine Angst vor einem Buch! Kannst du mir vielleicht verraten, wie wir ohne den Inhalt des Necronomicons herausfinden sollen, warum dein Großvater es so dringend gesucht hat?«

»Wir finden einen anderen Weg«, beharrte Francesca. »Vielleicht kann ich in Großvaters Büchersammlung einen Hinweis entdecken. Möglicherweise hat er sich Notizen gemacht, die uns auf die richtige Spur bringen. Ich werde alles dafür tun, um dieses Rätsel zu lösen. Aber das Buch bleibt geschlossen!«

Erstaunen zeichnete sich auf Fiorellas Gesicht ab. Sie war das Oberhaupt der Familie – selbst Viola und Stella wagten nicht, sich ihren Anweisungen zu widersetzen. Francesca war selbst davon überrascht, mit welcher Heftigkeit sie sich gerade ihrer Großmutter entgegensetzte. Doch sie hatte keine andere Wahl: Wenn Fiorella nicht selbst spürte, welche Gefahr dieses Buch ausstrahlte, musste sie sie davor schützen.

An Fiorellas gerunzelter Stirn war zu erkennen, dass sie etwas Scharfes erwidern wollte.

»Nach meinem schrecklichen Erlebnis im Antiquariat und dem Schock über Baldinis Tod, möchte ich mich jetzt nicht auch noch mit einem gefährlichen Zauberbuch beschäftigen müssen«, setzte Francesca mit flehender Stimme hinzu. Es war vielleicht ganz nützlich, Fiorella an ihr schlechtes Gewissen zu erinnern. »Bitte, Nonna, gib dir einen Ruck – mir zuliebe!«

Fiorella gab sich geschlagen. Sie seufzte auf und zuckte ergeben mit den Schultern. »Also gut, wir können es versuchen«, lenkte sie ein. »Bist du wenigstens damit einverstanden, dass wir bis dahin das Necronomicon zu den anderen Büchern deines Großvaters stellen?«

»Natürlich«, stimmte Francesca sofort zu. Ein warmes Gefühl der Erleichterung durchströmte sie. Sie hatte nicht erwartet, dass ihre Großmutter sich so schnell umstimmen ließ. »In der verschlossenen Vitrine ist es sicherlich am besten aufgehoben. Außerdem muss ich Gianna dann nicht erklären, warum ich dieses alte Buch mit mir herumschleppe.«

Und, so fügte sie in Gedanken hinzu, ich muss mit dem Necronomicon nicht in einem Zimmer schlafen! Nach allem, was sie heute mit diesem Buch erlebt hatte, wollte sie es so weit wie möglich von sich entfernt wissen. Am liebsten hätte sie es im nächstbesten Kanal versenkt. Wenn sie an den Unbekannten dachte, der Baldinis Antiquariat verwüstet hatte, war dies wahrscheinlich gar keine schlechte Idee. Vielleicht hatte er Francesca sogar dabei beobachtet, wie sie das Buch an sich genommen hatte? Francesca fluchte innerlich. Sie war so durcheinander gewesen, dass sie nicht einmal darauf geachtet hatte, ob ihr jemand auf ihrem Heimweg gefolgt war.

»Möchtest du mir vielleicht auch den Schlüssel abnehmen?«, fragte Fiorella mit spitzem Unterton, nachdem sie das Buch verstaut und die Vitrine wieder verschlossen hatten. »Oder vertraut mir meine Enkelin wenigstens so viel, dass ich ihn behalten darf?«

Francesca verdrehte die Augen. Auch wenn sie ihren Willen durchgesetzt hatte, so hätte sie sich denken können, dass ihre Großmutter dies nicht kommentarlos hinnahm.

»Es tut mir leid, dass ich gerade so aufbrausend war«, entschuldigte sie sich. »Bis wir mehr über das Necronomicon wissen, sollten wir einfach vorsichtig sein. Ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt.«

»Nun, wenn du meinetwegen so in Sorge bist, kann ich dir wohl schlecht böse sein. Allerdings scheinst du deiner Mutter immer ähnlicher zu werden.« Um den Mund ihrer Großmutter spielte ein nachsichtiges Lächeln. »Wenn sie von einer Sache überzeugt ist, lässt sie sich auch nicht mehr umstimmen.«

»Kann sein.« Francesca grinste. »Aber vielleicht werde ich auch dir immer ähnlicher.«

»Mir? Was willst du denn damit sagen?«

»Nichts, nichts«, gab Francesca unschuldig zurück. »Immerhin bist du für deine diplomatischen Fähigkeiten und deine Kompromissbereitschaft ja in ganz Venedig bekannt.«

Fiorella hob warnend ihren Zeigefinger. »Nun werde mal nicht frech, sonst bekommst du Ärger mit deiner kompromissbereiten Großmutter!« Sie seufzte gequält auf. »Ich werde zu weich. Das muss das Alter sein. Vor ein paar Jahren hätte ich dich für solch eine Frechheit mit meinem Gehstock durch den ganzen Palazzo gejagt.«

Francesca konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Die Vorstellung, wie Fiorella sie schimpfend und mit geschwungenem Gehstock durch den Palazzo verfolgte, war allzu komisch.

»Es ist spät geworden, ich brauche jetzt dringend meinen Schönheitsschlaf«, verkündete Fiorella und gab ihrer Enkelin einen Gutenachtkuss auf die Stirn. Francesca wandte sich zum Gehen, an der Tür hielt sie jedoch noch einmal inne.

»Nonna«, setzte sie zögernd an. »Bist du immer noch davon überzeugt, dass du sterben musst?«

Fiorella nickte, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. »Ich bin alt, blind und durch mein Rheuma verlebe ich keinen Tag ohne Schmerzen. Es ist Zeit für mich, genau wie Baldini wusste, dass seine Zeit gekommen war.«

Francesca schüttelte heftig den Kopf. »Aber du darfst nicht sterben, Nonna. Wir brauchen dich doch. Ich brauche dich.«

Fiorella erhob sich und kam in langsamen, kleinen Schritten auf sie zu, als würde ihr das Gehen heute besonders Mühe bereiten. Sie strich Francesca über das Haar. »Der Tod ist das Ende und der Anfang.« Mit sehnsüchtigem Gesichtsausdruck wanderten ihre trüben Augen erneut zu Leonardos Fotografie, als könne sie sein Bild trotz ihrer Blindheit betrachten. »Ich möchte zu meinem Mann. Sicherlich wartet er schon auf mich.«

Und wenn nicht?, wollte Francesca ihr entgegenschreien. Was, wenn sich Fiorella täuschte? Wenn der Tod nur das Ende war? Dann wäre alles vorbei und ihre Großmutter hätte sich kampflos ergeben. Schon wollte sie etwas erwidern, doch dann erinnerte sie sich plötzlich wieder an die erschreckende Leere in Baldinis Gesichtszügen. Als hätte im Moment seines Todes etwas seinen Körper verlassen … Vielleicht war es Francesca, die sich täuschte? Sie hatte nicht das Recht, ihrer Großmutter ihren Glauben und ihre Hoffnung zu rauben. Trotzdem würde sie nicht einfach zulassen, dass Fiorellas Todesvision wahr werden würde.

Fiorella lächelte sie aufmunternd an. »Keine Sorge, ich bleibe noch so lange bei dir, bis wir dich von diesem Fluch befreit haben. Dies ist meine letzte Aufgabe und heute haben wir einen wichtigen Teil davon erledigt – wir haben das Necronomicon. Dein Großvater, möge Gott seiner Seele gnädig sein, wäre stolz, wenn er wüsste, was du heute geleistet hast! Nun geh schlafen und mach das Licht aus, wenn du rausgehst. Ansonsten beschweren sich morgen meine Töchter, dass ich unnötigerweise die Stromrechnung in die Höhe treibe.«

Francesca drückte ihr einen Kuss auf die Wange und löschte das Licht, ehe sie die Tür hinter sich zuzog. Ihre Großmutter, die mitten im Zimmer stand, wurde von der Dunkelheit verschlungen.